Die Einsamkeit der Seevögel: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Einsamkeit der Seevögel: Roman' von Gøhril Gabrielsen
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die Einsamkeit der Seevögel: Roman"

Eine Wissenschaftlerin reist mitten im Winter nach Finnmark, dem äußersten Zipfel Norwegens. Dort möchte sie das Schwinden der Zugvögelpopulationen und die Klimaveränderungen untersuchen. Fern jeder Zivilisation findet sie Freiheit und Luft zum Atmen, nach der sie sich in ihrer gescheiterten Ehe so gesehnt hatte.Ganz allein, umgeben von endlosem Schnee, tosendem Meer und rauen Naturgewalten, wartet sie auf die Ankunft der Vögel. Und auf ihren Geliebten, der mit ihr die Einsamkeit teilen will. Doch warum verschiebt er seine Ankunft? Woher kommen die seltsamen Geräusche in ihrer Hütte? Und war es der Wind, der ihr über den Körper strich, oder ist sie doch nicht allein? Als die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wahn, Gegenwart und Vergangenheit immer mehr verschwimmen, muss sie sich endgültig dem stellen, was sie hinter sich gelassen hat.
Mit atmosphärischer Sprengkraft und Dichte erzählt Gøhril Gabrielsen von einer Frau, die sich in der Einsamkeit selbst zu verlieren droht - in einer Sprache klar und scharf wie ein Diamant.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:174
Verlag: Insel Verlag
EAN:9783458177807

Rezensionen zu "Die Einsamkeit der Seevögel: Roman"

  1. Selbstbegegnung und Selbstverlust

    In diesem Roman passiert nicht viel.

    Mitten im Polarwinter bezieht eine Wissenschaftlerin eine karge Hütte in der Arktis, um dort ein paar Monate lang die Auswirkungen des Klimawandels auf die Zugvögelpopulationen zu beobachten. Ihr Geliebter soll bald nachkommen und diese Zeit mit ihr verbringen.

    In diesem Roman passiert sehr viel.

    Wirkungsvoll beschreibt die Autorin, wie eine Frau sich in der Einsamkeit findet und gleichzeitig verliert. Freiheit wird zu Einsamkeit, Luft zum Atmen wird zu klaustrophobischem Wahn. Ein intimer Einblick in eine isolierte Lebenswelt.

    Das grundlegende Thema

    Der norwegische Originaltitel ist »Ankomst«, was schlicht »Ankunft« bedeutet. Ein einfaches Wort, das sich in diesem atmosphärischen Roman in eine Vielzahl von Bedeutungsmöglichkeiten aufsplittert.

    Bevor hier irgendjemand irgendwo ankommt, sehen wir der Protagonistin dabei zu, wie sie sich in ihren Beziehungen verliert. Ehe, Mutterschaft, neue Liebschaft: Sie sucht nach Freiheit, sie sucht nach Erfüllung, doch letztlich tauscht sie nur einen Käfig gegen den nächsten. Wo beginnt und endet sie, was sind ihre ureigensten Wünsche und Träume, ihre autarke Persönlichkeit? Ihr Ex-Mann, ihr Kind, ihr Geliebter überlagern ihre Selbstwahrnehmung. Unwissentlich hat sie sich diesen Käfig selbst gewählt – ja, selbst erbaut! –, verwechselt Geborgenheit mit klaustrophobischer Enge.

    Letztlich wird aus der geplanten Ankunft des Geliebten die ungeplante Ankunft der gnadenlosen Selbsterkenntnis. Kann sie verantworten, ihr Kind in der Obhut eines Mannes zurückgelassen zu haben, den sie als gewalttätig beschreibt? Ist der Geliebte ihre Obsession überhaupt wert?

    Die Arktis als Schauplatz und Sinnbild

    In der Arktis wird die Protagonistin zurückgeworfen auf sich selbst. Die Zivilisation ist weit entfernt, Kontakt kann sie nur über das Satellitentelefon aufbauen, und das ist zu teuer, um es oft zu benutzen. Auch diese Einsamkeit ist eine Art von Ankunft, aber eine, die sie noch nicht annehmen kann. Denn Selbsterkenntnis war nicht ihr Ziel, als sie diesen Forschungsaufenthalt plante – ganz im Gegenteil.

    Eigentlich sollte ihr Geliebter ja zeitig nachkommen und dann einige Monate mit ihr in dieser kleinen Hütte verbringen; ihr Plan war die ultimative symbiotische Zweisamkeit. Eine ersehnte Ankunft, die viel mehr bedeutet als nur der schnöde Akt des irgendwo Eintreffens – doch vor allem eine Ankunft, die ausbleibt, die ihr Geliebter immer wieder verschiebt. Und so wartet sie und hofft, wartet und zweifelt, wartet und verliert den Halt. Die Realität ist ein zunehmend unwirkliches Konzept.

    Die Arktis ist der perfekte Schauplatz für diese Geschichte. Himmel und Erde verschmelzen mitunter zu einem endlosen Weiß, die Grenzen sind nicht mehr wahrzunehmen. Das kann gefährlich sein, wenn man sich in diesem schwerelosen Nichts verirrt – »Whiteout« nennt sich das Phänomen, und die Protagonistin erlebt das psychische Äquivalent dazu.

    Die Charaktere

    Wir haben es hier mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun, die zunehmend den Kontakt zur Realität verliert. Sie ist eine Frau, die bis ins Kleinste akribisch plant und genau deshalb nur schwer mit Kontrollverlust umgehen kann. Paranoia kratzt an den Türen, Verzweiflung und Angst schleichen sich ein. Sie versucht, sich zu behaupten – gegen die durchaus gefährliche arktische Natur, gegen die eigenen Zweifel –, und ist dabei doch immer schwerer zu fassen. Ist sie sympathisch? Ist ihr Verhalten nachvollziehbar? Nein, nicht immer. Dies ist für mich auch der einzige Schwachpunkt des Romans, denn die Protagonistin entzieht sich jeglicher Identifikation.

    Die anderen Charaktere sehen wir ausschließlich durch ihre voreingenommenen Augen. Ist ihr Ex-Mann wirklich so bedrohlich und gewalttätig, wie sie ihn wahrnimmt, oder sind das nur wahnhafte Vorstellungen? Hat ihr Geliebter überhaupt ein Interesse daran, mit ihr zusammenzuleben? Nimmt sie ihr Kind als irgendetwas anderes wahr als eine Verlängerung ihrer selbst? Sie alle sind nur Staffage in diesem Monodram.

    Spannungsbogen

    Von einem klassischen Spannungsaufbau ist hier nicht zu sprechen, aber die leise Dramatik, die Gøhril Gabrielsen aufbaut, entwickelt durchaus eine feine, subtile Sogwirkung. Diese wird im Laufe der Geschichte immer beklemmender, immer intensiver.

    Die Menschen, die nachweislich vor etwa 140 Jahren am Handlungsort lebten, in einem Haus, das später abbrannte, werden in der Phantasie der Protagonistin immer lebendiger, bis sie schließlich präsenter und wahrhaftiger sind als die Menschen in ihrem Leben. Hier spielt der Roman mit den üblichen Versatzstücken aus klassischen Geistergeschichten: bedrohliche Geräusche; verschwundene und wieder auftauchende Gegenstände; eine Tür, die eigentlich verschlossen sein sollte, aber es nicht ist. Die Gratwanderung zwischen Realität und Wahn schraubt sich hoch bis zu einem Ende, das Leser:innen kompromisslos vor die Wahl stellt, was sie glauben wollen.

    Das Thema ‘Mutterschaft als Aufgabe der weiblichen Selbstbestimmung’ klingt auf verschiedenen Handlungsebenen immer wieder an, und auch das ist auf leise Art spannend, weil es eine Vielzahl moralischer Fragestellungen aufwirft.

    Schreibstil

    Gøhril Gabrielsen schreibt in Worten, die sich so glasklar und kalt lesen wie das arktische Eis; emotionalen Überschwang oder echte Wärme sucht man vergebens. Aber an Atmosphäre mangelt es nicht, der Stil fügt sich nahtlos ein in den Handlungsort – da kann man das Eis geradezu knacken hören, wenn die Protagonistin an ihren inneren Dämonen Stück für Stück zerbricht. Es ist beeindruckend, wie die Autorin den Schauplatz nutzt, um widersprüchliche Themen und Eindrücke darzustellen: endlose Weite und verzweifelte Einsamkeit, ersehnte Geborgenheit und klaustrophobische Gefühle des Eingesperrtseins.

    Fazit

    Dies ist ein kurzes Buch der leisen Töne, und dennoch ein beeindruckendes psychologisches Drama.

    Eine Wissenschaftlerin bezieht für einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt eine Hütte in der Arktis. Ihre kleine Tochter lässt sie beim Ex-Mann zurück; ihr Geliebter, der eigentlich nachkommen sollte, vertröstet sie mit Entschuldigungen, die ihre Rolle als Mutter noch dringlicher in Frage stellen. Umgeben von Eiseskälte und weißer Endlosigkeit ist sie gezwungen, sich mit ihren eigenen Dämonen auseinander zu setzen und zu warten… Zu warten… Derweil verliert sie immer mehr den Bezug zur Realität. Ist diese Einsamkeit nun Gefängnis oder kompromisslose Freiheit?

    Über das Ende lässt sich sicher streiten, und auch die unnahbare Protagonistin macht es Leser:innen nicht leicht. Dennoch konnte mich der Roman mit seiner kristallklaren Sprache, seinen interessanten, ambivalenten Fragestellungen und seinem subtilen Spannungsaufbau überzeugen.

    Teilen
  1. Ein großartiges Leseerlebnis

    „Einen Wind, der sich in Stundenkilometern messen lässt, kann ich analysieren und bis zu einem gewissen Punkt verstehen, im Gegensatz zu Gefühlen, die sich jeglicher objektiver Messbarkeit entziehen.“

    Inhalt
    Seit vier Jahren schreibt die Naturwissenschaftlerin an ihrer Doktorarbeit, mit dieser Studie vor Ort über die Auswirkungen des Klimas auf die Wanderung der Seevögel und auf die Vogelbestände wird sie dann abgeschlossen sein. Anfang Januar kommt sie auf diese abgelegene Halbinsel zwischen den Fjorden in Nord-Norwegen, der nächste Ort ist etwa einhundert Kilometer entfernt, im Winter nur auf dem Seeweg zu erreichen. Hier gibt es nur mehr eine einzige Hütte, in die sie einzieht. Es war geplant, dass ihr Geliebter Jo bald nachkommt und mit ihr hier die Zeit bis zum Mai verbringt, wenn die Seevögel zum Brüten in Scharen auf diese Insel kommen. Doch Jos Ankunft verzögert sich und sie ist in dieser winterlichen Einsamkeit der Natur völlig auf sich gestellt, allein – ist sie wirklich allein?

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um Beziehungen, Familie, Gefühle, Erinnerungen, aber auch um das Leben in der kargen Einsamkeit des Nordens, die Schönheit der Natur, aber auch die Kraft der Elemente während der kalten, dunklen Wintermonate.

    Charaktere
    Die Wissenschaftlerin ist noch immer dabei, die teilweise bedrückende Ehe mit dem Vater ihrer nun dreijährigen Tochter Lina zu verarbeiten. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr Geliebter Jo rasch nachkommen und sie die Einsamkeit der Hütte mit ihm teilen würde, denn mit der Zeit, die vergeht, macht ihr die Einsamkeit, immer nur von ihren eigenen Gedanken umgeben, zu schaffen. Die stete Veränderung zwischen der Euphorie der Ankunft und den Tagen im Februar wird durch die präzise, dichte Sprache intensiv spürbar. „Der Anblick ist überwältigend. Hier sind wir. Ich und die Elemente der Welt. Vereint.“ (Zitat Seite 15). „Die Frage scheint zu sein: Was ist es, das ich nicht sehe?“ (Zitat Seite 159)

    Handlung und Schreibstil
    Die Wissenschaftlerin schildert die Ereignisse als Ich-Erzählerin und teilt auch ihre Gedanken, Erinnerungen und Gefühle mit uns Lesenden. Die aktuelle Handlung umfasst einen Zeitrahmen von sieben Wochen, wird unterbrochen von einer zweiten Geschichte, die im Jahr 1870 spielt. Es ist die Geschichte einer Familie, die im 19. Jahrhundert hier an diesem Ort gelebt hat. Die Sprache verbindet die knappen, sachlichen Feststellungen der täglichen meteorologischen Daten mit den einprägsamen, großartigen Schilderungen von Landschaft und Natur. Sehr spannend ist die Gedankenwelt der Ich-Erzählerin beschrieben, rätselhaft zwischen Realität und Einbildung.

    Fazit
    Eine packende, beklemmende Geschichte, eindrücklich und großartig in einer unglaublichen Dichte auf verhältnismäßig wenigen Seiten erzählt.

    Teilen
  1. Einsam gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart

    Eine junge Wissenschaftlerin reist an den nördlichsten Zipfel Norwegens, um Ergebnisse für ihre Forschungsarbeit zu sammeln, die Zusammenhänge zwischen dem Klimawandel und dem Rückgang der Seevögel beweisen soll.

    Ihre kleine Tochter hat sie bei ihrem Ex-Mann zurückgelassen. Eigentlich war vorgesehen, dass ihr neuer Freund Jo mit in den hohen Norden kommt. Er vertröstet sie aber von Mal zu Mal, weil er für sein Kind da sein will.

    Die Ich-Erzählerin ist einsam, teilweise auch Gefahren ausgesetzt, denn die kalte Umwelt ist nicht berechenbar. Sie lässt ihreBeziehungen Revue passieren. Zudem lässt sie die Geschichte des ehemaligen Örtchens nicht los, an dem ihre Forschungsstation liegt. Hier soll 1871 ein Haus abgebrannt sein, in dem ein Junge umkam. Ihre eigenen Ängste verschwimmen mit den Figuren von einst, was etwas Mythisches und Surreales hat...

    Da liegt meines Erachtens auch der Schwachpunkt: die Gefühle dieser (fiktiven) Personen bekommen viel Raum. Das mag den Parallelen zum eigenen Leben der Protagonistin geschuldet sein, oder auch ihrem "Lagerkoller": wenn man den ganzen Tag mit sich allein ist, können die Gedanken offenbar eine eigene Dynamik entwickeln.
    Bedrohung geht zudem von ihrem Ex-Mann aus, einem Mann, der sie nicht ohne weiteres frei geben will.

    Die Sprache und die Beschreibungen der Natur sind beeindruckend. Das Buch hat durchaus Sogwirkung, allerdings blieb mir die spannende persönliche Verstrickung der Protagonistin etwas unterrepräsentiert. Hier hätte ich gern noch mehr insbesondere über die beiden Männer in ihrem Leben erfahren. Doch für andere Leser mag gerade in der Knappheit und den Andeutungen die besondere Würze liegen.

    Ein empfehlenswertes Buch für kalte Herbst-und Wintertage.

    Teilen