Die Brüder Zemganno: Ein Zirkusroman

Buchseite und Rezensionen zu 'Die Brüder Zemganno: Ein Zirkusroman' von Edmond de Goncourt
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Inhaltsangabe zu "Die Brüder Zemganno: Ein Zirkusroman"

Format:Taschenbuch
Seiten:144
EAN:9781978159280

Rezensionen zu "Die Brüder Zemganno: Ein Zirkusroman"

  1. "Ist ein Arzt im Zirkus anwesend?"

    Die Brüder Zemganno sind Zirkusartisten. Eigentlich Akrobaten, u.a. am Trapez; aber da sie ihre Kunststücke im Rahmen einer selbst erfundenen Spielszene zu zeigen pflegen, firmieren sie als "Clown-Akrobaten".

    In 86 kurzen Kapiteln* (manchmal nicht mal eine Seite lang) wird ihr Berufsleben berichtet; von den Anfängen bei einem kleinen Wanderzirkus an über Engagements in England geht es weiter bis hin zu hoch bezahlten Auftritten in erstklassigen Etablissements in Paris. Nebenher erzählt der Autor natürlich auch Privates, aber das nimmt nicht viel Raum ein, weil die beiden nur für ihre Arbeit leben. Keiner von ihnen hat jemals eine "Frauengeschichte", sie trennen sich nie.

    Zu Beginn des Romans, bei dem winzigen und recht armseligen Wanderzirkus, wird der ältere, Gianni, als "Jüngling" bzw. "junger Mann" beschrieben; Nello wird noch gestillt. Der Altersunterschied müsste also mindestens zehn Jahre betragen, eher mehr. Gianni leitet den kleinen Bruder an, der schon als Kleinkind im Clownkostüm in der Manege steht. Bei ihren späteren gemeinsamen akrobatischen Nummern bleibt Gianni stets das "Mastermind" und denkt sich die Gestaltung aus. Goncourt beschreibt die Entwicklung einer artistischen Nummer als intellektuelle Herausforderung, die nicht nur körperliche Übung, sondern auch viel Kreativität und Denkarbeit braucht. Gianni ist ehrgeizig, schaut sich jede Nummer anderer Akrobaten an, liest sogar Bücher über die Theorie des Extremsports, z.B. Hochsprung. Der jüngere Nello ist eher ein verspielter Typ und erkennt die Führung durch den Bruder widerspruchslos an: "Da kommen zuerst zwei oder drei Tage, manchmal auch fünf oder sechs, an denen du mir mit ja antwortest; wenn du nein sagen müsstest und umgekehrt. Gut, denke ich, er steckt wieder mal in einer Erfinderkrise ... (...) und dann machst du plötzlich ein Gesicht, wie du es heute aufsetzt, ein Gesicht wie eine Sonnenfinsternis (...) und ich sage nur zu mir: Die Nummer meines Bruders ist futsch! (...) Alles, was du erfindest, will ich machen, und wenn ich mir den Hals dabei breche ... aber das Erfinden ist deine Sache."

    Die Brüder steigen zu hochbezahlten Artisten auf, leben aber stets gleichmäßig bescheiden und unauffällig, tragen korrekte Anzüge und trinken nie etwas Stärkeres als Weinschorle. Der Berufsalltag von Zirkusartisten hat bei Goncourt nichts Glamouröses an sich. "Wenn diese Menschen die fieberhafte Erregung ihrer Arbeit hinter sich haben, wenn sie sich ausruhen, wenn sie grübeln, müssen sie jeden Augenblick voller Sorge daran denken, dass die Kraft und die Geschicklichkeit, von der sie leben, vielleicht ganz plötzlich (...) vernichtet werden kann" schreibt Goncourt und fährt fort mit einer Schilderung der "Angeschlagenen", die sich einmal verletzt haben, äußerlich wiederhergestellt sind, aber bei ihren Auftritten eine Kraftanstrengung aufwenden müssen, "dass sie sich ruinieren und verdrießlich werden" - es handelt sich wohl einfach um den unwiederbringlichen Verlust des Selbstbewusstseins und des Glaubens an die eigene Unverletzlichkeit.

    Die ganze Erzählung hat, wie im letzten Zitat ersichtlich, einen leicht melancholischen, wehmütigen Unterton, obwohl bis dahin gar nichts Schlimmes passiert. Dann erleidet Nello, der jüngere Bruder, einen furchtbaren Unfall - bei einem riskanten Auftritt, der bisher nie Dagewesenes zeigen sollte. Seine Arbeitsfähigkeit steht für Monate, wenn nicht Jahre in Frage. Zweifel und Ängste erfassen auch den älteren Bruder.

    Edmond de Goncourt schrieb "Die Brüder Zemganno" 1879 allein nach dem Tod seines jüngeren Bruders Jules, mit dem er bis dahin etliche Bücher gemeinsam verfasst hatte - "in enger Schaffensgemeinschaft" heißt es beim Projekt Gutenberg. Obwohl das Buch von einem fiktiven Brüderpaar handelt, kann man sicher annehmen, dass Edmond seines eigenen Bruders gedacht hat. Man merkt dem Buch auf jeder Seite die innige Verbundenheit und die Trauer an. Es ist ein sehr liebevoll geschriebenes, lesenswertes Buch, das übrigens auch interessante Einblicke in die damalige Welt der Zirkusartisten bietet. (Der Autor dankt in einem Vorwort vier damals bekannten Artisten, die ihn mit Rat unterstützt haben, und spart nicht mit Anerkennung: "Sie sind nicht nur die gelenkigen Akrobaten, denen ganz Paris applaudiert, sondern sie durchdenken ihre Kunst auch in einer Art und Weise, wie es Gelehrte und Künstler tun.")

    Ich habe das Buch mit viel Anteilnahme und Freude gelesen. Nach heutigen Begriffen ist es natürlich etwas altertümlich und nicht gerade handlungsreich - zum Großteil schildert es mehr Zustände als Vorgänge. Aber wer sich gern mit leiser Wehmut ins Zirkusmilieu vergangener Zeiten versetzen möchte, ist hier richtig.

    *) Die bei Projekt Gutenberg bereitstehende Ausgabe hat nur 29 Kapitel, warum auch immer - der Inhalt ist der gleiche. Mir liegt eine Printausgabe vom Schünemann Verlag 1989 vor, die auch Edmond de Goncourts Kurzroman "Juliette Faustin" (über eine Schauspielerin) enthält.

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