In die Arme der Flut: Roman

Rezensionen zu "In die Arme der Flut: Roman"

  1. Poetisch-Lyrische Medienschelte mit Schönheitsfehlern

    Ein Mann steht auf einer Brücke und springt. Im letzten Moment hält er sich fest, zieht sich wieder hoch. Kurze Zeit später springt er doch – um heldenhaft ein Leben zu retten statt seins zu beenden.

    Das ist in Kurzform der „Aufreißer“ von „In die Arme der Flut“ von Gerard Donovan. Der Roman ist im letzten Jahr (2021) in der Übersetzung von Thomas Gunkel im Luchterhand Verlag erschienen.

    Hätte Herr Donovan eine Kurzgeschichte oder Novelle aus der Geschichte gemacht – ein Preis wäre ihm (von meiner Seite aus *g*) sicher gewesen. Denn was er auf den ersten etwa 100 Seiten für ein sprachliches Feuerwerk entfacht, ist sensationell. Selten wurde die Absicht der Selbsttötung, die zerstörerisch-zerfressenden Gedanken und Selbstzweifel, warum es so weit kommen konnte in so eine famose Stimmung „gekleidet“. Hinzu kommt die großartige lyrisch-poetische Beschreibung des sich langsam aufwallenden Nebels, das Rauschen des Wassers in 35 Metern Tiefe – ich habe jetzt noch Gänsehaut.

    Doch Herr Donovan wollte (leider) mehr. Denn was dann folgt, ist eine Abrechnung mit dem kranken System (nicht nur) der (a)sozialen Medien, sondern auch sensationsgeilen Reportern, machthungrigen Politikern (Trump und sein „real“-Twitter-Account lassen grüßen) und den Lemmingen (sprich: normale Bürger), die jeder „Sensation“, jedem neuen „Kult“ ungefragt hinterherhecheln und blind sind für die Wahrheit.
    Alles schön, alles gut – es braucht diese „Abrechnung“ mit den Medien. Aber muss der (sprachliche) Bruch so groß sein? Okay, wenn ich die Inhalte der Abschnitte miteinander vergleiche und in Beziehung zu der Sprache setze, in der sie niedergeschrieben wurden, passt es wieder perfekt. Also hat Herr Donovan doch alles richtiggemacht?

    Leider nicht ganz. Denn mit dem letzten Abschnitt katapultiert der Autor die geneigte Leserschaft in einen derart abstrusen Plot, dass man sich verwundert die Augen reibt und sich fragt „Ist das ein Buch oder mehrere, die von der Qualität so unterschiedlich sind wie Tag und Nacht?“ Thriller-Leser mögen „abgebrühter“ sein, aber als Liebhaber von Lyrik, Poesie und dem Zauber der gepflegten Sprache „Augenzeuge“ eines minutiös geplanten und durchgeführten Selbstmords „live“ auf Youtube zu werden, war für mich hart an der Grenze des Erträglichen. Zum Glück gibt es ganz zum Schluss noch ein paar lyrische und poetische Absätze – auch wenn die den Plot leider nicht mehr besser machen.

    Summa summarum komme ich hier auf 3,5*, die ich aber wegen der teils wunderschönen Sprache auf 4* aufrunde.

    ©kingofmusic

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  1. Der Sprung von der höchsten Brücke in Maine

    Nahe dem Städtchen Ross Point im US-Bundesstaat Maine: Luke Roy steht auf einer Hängebrücke und blickt 35 Meter tief in den Abgrund. Schon oft hat der 36-Jährige an Selbstmord gedacht. So auch jetzt an diesem Freitag im Oktober, doch bei dem dichten Nebel zögert er den Sprung hinaus. Und dann geschieht etwas Unerwartetes…

    „In die Arme der Flut“ ist ein Roman von Gerard Donovan.

    Meine Meinung:
    Der Aufbau ist unkompliziert und funktional. Der Roman besteht aus 68 kurzen Kapiteln, die sich über mehrere Teile erstrecken.

    In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman überzeugt, zu Beginn sogar regelrecht begeistert. Der Schreibstil ist geprägt von starken, teils ungewöhnlichen Bildern, einer intensiven Atmosphäre und gelungenen Beschreibungen. Erzählt wird im Präsens und in chronologischer Reihenfolge, wobei die Perspektive immer mal wieder wechselt.

    Im Vordergrund der Geschichte steht Luke, dem das Schicksal mehrfach übel mitgespielt hat und der deshalb bei mir viel Empathie und Mitgefühl gefunden hat. Zwar wird seine Todessehnsucht für mich nicht in Gänze begreifbar. Dennoch ist er ein interessanter Charakter.

    Inhaltlich ist der Roman besonders, aber eben auch sehr merkwürdig und das auf zumeist eher unangenehme Weise. Zwar haben mir die gesellschaftskritischen Ansätze und die Themenvielfalt der Geschichte, die einige aktuelle Bezüge aufweist, durchaus zugesagt. Jedoch hat mir im weiteren Verlauf der rote Faden gefehlt.

    Während mich die ersten rund 25 Kapitel noch weitgehend fesseln konnten, fällt der Roman im Weiteren stetig ab. Die Geschichte verliert zunehmend an Stringenz und Glaubwürdigkeit. Das Ende hat mich schließlich absolut ratlos zurückgelassen.

    Das Cover gefällt mir in Verbindung mit dem deutschen Titel sehr gut. Allerdings ist der Titel des Originalmanuskriptes („The Dead Lit Faintly“) deutlich passender gewählt.

    Mein Fazit:
    „In die Arme der Flut“ von Gerard Donovan ist ein Roman, der stark beginnt, jedoch auch stark nachlässt. Wer über einige Ungereimtheiten hinwegsehen kann und Überraschungen liebt, könnte aber an dieser ungewöhnlichen Lektüre Gefallen finden.

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  1. Eine Flut der Widersprüchlichkeit

    Es ist der erste Montag im März und ich bin angesichts Gerard Donovans „In die Arme der Flut“ recht ratlos. Der Roman ist erschreckend heterogen, nichts passt zusammen, Inhalt, Sprache, Figuren und didaktische Funktion prallen laut klirrend aufeinander und am Ende bleibt tönender Ärger darüber, dass hier ein Roman entstanden ist, der so offensichtlich gar nicht weiß, was er will, was er soll und warum es ihn gibt.

    Fangen wir mal mit dem positivsten Aspekt dieses Buches an: der Sprache. Gerard Donovan beherrscht das Spiel mit Worten, er entwirft wunderbare, nachhallende Sprachbilder, schwingt sich zu lyrischen, atmosphärisch dichten Passagen auf und Natur- und Wetterbeschreibungen gehören zu seinen absoluten Stärken. Gerade im ersten Teil und auch noch zu Beginn des zweiten Teils läuft Donovan zu Hochform auf und demonstriert sein großes Geschick im Umgang mit Sprache. In dieser Hinsicht könnte man höchstens feststellen, dass es zuweilen vielleicht etwas zu verspielt, zu detailverliebt und im Resultat auch langatmig wird.

    Auf der Inhaltsebene ist der Roman leider ein unausgegorener Mix aus Donald-Trump-Satire und (Soziale) Medien-Kritik. Sprachlich bleibt sich Donovan hier leider nicht treu. In den Kapiteln, in denen die Medien in sein Visier geraten, beschränkt sich die sprachliche Form auf eine möglichst detailgetreue Kopie von Talkshow- und Nachrichtensendungen. Die Handlung zeichnet die völlig absurd und überspitzt anmutenden Reaktionen der Öffentlichkeit nach, die in ihrem Wahn, Luke Roy zum Helden zu stilisieren, bei Donovan komplett außer Kontrolle gerät und, als sie erfährt, dass er sich das Leben nehmen wollte, wieder diskreditiert. Das Ausmaß der Dinge, die Roy wiederfahren, sind so übertrieben und wenig nachvollziehbar (vor allem dann, wenn der Heldenstatus wieder aufgehoben wird), dass man leider konstatieren muss, dass der Roman in diesen Episoden seinen Anspruch auf Ernsthaftigkeit verspielt. Hinzu kommt, dass durch diese haarsträubenden, überdeutlich skizzierten Entwicklungen die didaktische Funktion dem Leser mit der Brechstange vermittelt werden soll. Es ist eine alte Weisheit, dass Belehrung immer besser durch die Hintertür und mit Raffinesse erfolgt – die meisten Kinderbücher haben das verstanden. Wenn ich aber als Erwachsener mit solch platter Medienkritik konfrontiert werde, die mich dann auch noch auffordern will, umzudenken, bin ich schlichtweg verärgert. Die Eleganz von Donovans Sprache vermisst man beim Transport des moralischen Anliegens schmerzlich.

    Dabei muss ich zugeben, dass ich noch nicht einmal sicher bin, dass es nur um Medienkritik geht, denn bei Donovan findet sich unter seinen Figuren auch noch ein religiös Verblendeter und mehrere Selbstmordkandidaten. Die Todessehnsucht und der Wunsch zu sterben werden von Donovan zentral gesetzt. Während im ersten Teil dieses Thema mit sehr viel Überzeugung und Empathie aufs Papier gebracht wird, frage ich mich am Ende des Romans, wie dieser Aspekt mit der Medienkritik zusammenpasst. Außer der Tatsache, dass Luke Roy durch die Enthüllung seiner Selbstmordabsicht in den hanebüchen anmutenden Mahlstrom des Heldentums gerät, kann ich keine sinnvolle Verbindung feststellen. Vielleicht sollen wir uns alle umbringen, weil die Welt von den Medien regiert wird? Oder weckt der Umgang mit Medien Todessehnsüchte? Auch hier wirkt der Roman sehr unausgereift, wie auch in seinem nicht zu Ende gedachten Gebrauch der Legende des Rattenfängers von Hameln, aus dem sogar ein Satz dem Roman als Zitat vorangestellt wird.

    Die Figuren sind ein leider ebenfalls ein Problem. Sie sind zu wenig ausformuliert, um Sympathie oder Identifikation zu erlauben. Wenn sie keine Schablonen sind, dann wirken sie wie Marionetten, die in den Dienst der Kritik gestellt werden: oberflächliche Schatten, die orientierungslos durch die Story treiben.

    Insgesamt ist „in die Arme der Flut“ ein Roman, der irgendwie unfertig wirkt, dem ein Fokus fehlt, der die verschiedenen Teile auf eine sinnvolle, nachhallende Art zusammenhält. Da wäre sehr viel mehr möglich gewesen, wenn man sich für das eine oder das andere Thema entschieden hätte.

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  1. Todessehnsucht

    Der Mitdreißiger Luke Roy steht auf der Brücke, die den Fluss bei Ross Point in Maine überquert. Er nimmt die Landschaft wahr, das Fließen des Flusses und die wallenden Nebel. Er hat schon oft hier gestanden und überlegt zu springen. Heute ist der Tag, an dem er springen wird. Dabei hat er jede Eventualität berücksichtigt, damit er auch wirklich tot ist, wenn er springt. Was er nicht in seine Überlegungen mit einbezogen hat ist, dass ein Ausflugsboot kentert und eine Junge abgetrieben wird. Er überlegt nicht lange und springt, um den Jungen zu retten. Er zieht ihn auf einen Felsen und flüchtet. Doch dabei wird er gefilmt und sein Gesicht ist zu erkennen. Er verschanzt sich auf seinem Hausboot, doch er kann der Welt und den Klicks, die dieser Film bekommt, nicht entkommen. Unfreiwillig wird er zum Helden stilisiert. Doch vor seinem Hausboot versammeln sich immer mehr Menschen. Reporter und Kamerateams wollen das Spektakel genauso ausnutzen, wie Politiker. Doch Luke will von allem nichts wissen. Der Hype kippt genauso schnell, wie er entstanden ist, als bekannt wird, dass Luke lebensmüde war und deshalb gesprungen ist.
    Es fällt mir sehr schwer, zu diesem Buch ein Urteil abzugeben. Der erste Teil des Buches war sehr atmosphärisch und bildhaft beschrieben, was mich absolut begeistert hat trotz der düsteren Stimmung. Hier ist der Erzählstil poetisch und oft sogar philosophisch. Doch später hat mich der Autor Gerard Donovan verloren, denn manche der Wendungen waren für mich einfach absurd.
    Der Protagonist lebt in einer kleinen Stadt, die im Untergang begriffen ist. Schon immer war in ihm diese Todessehnsucht, ganz besonders nachdem er als Jugendlicher einen tiefen Frieden erlebt hat, als er beinahe unterging. Ansonsten bleibt mir seine Gefühlswelt fremd. Der von ihm gerettete Junge Paul unternimmt nach der Havarie des Bootes nichts, um sich selbst zu retten. Seine Gemütslage wird im letzten Teil des Buches deutlich. Sowohl Luke als auch Paul haben mir leidgetan, trotzdem kamen sie mir nicht nahe.
    Die ganze Atmosphäre des Buches strahlt Trostlosigkeit aus. Das wird auch noch durch die Medien, die auf eine Sensation aus sind, verstärkt. Selbst die Politiker denken nur an die nächste Wahl und nehmen Luke als Person überhaupt nicht wahr. Die Stimmung der Menschenmenge kippt im Nu von fast religiöser Verehrung in einen totalen Shitstorm.
    Das Ende des Romans ist ebenso düster wie die gesamte Geschichte, aber gänzlich folgerichtig.

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  1. 3
    01. Mär 2022 

    Enttäuschend

    Ich bin mit hohen Erwartungen an dieses Buch herangegangen, hat mich doch vor einigen Jahren Gerard Donovan, der in Irland geborene und heute im Staat New York lebende Autor, mit seinem Roman „ Winter in Maine“ restlos begeistert. Leider konnten mich seine weiteren auf Deutsch erschienenen Bücher ( ein Roman, ein Erzählband ) nicht ganz überzeugen und auch „ In die Arme der Flut“ war eine Enttäuschung für mich.
    Schauplatz der Geschichte ist das heruntergekommene Küstenstädtchen Ross Point in Maine. Symbol für den Niedergang der Stadt ist die 35 Meter hohe Brücke über den Fluss, deren Verbindungsstraßen nie gebaut wurden und die nur im Verlauf der Jahre einen zweifelhaften Ruf erlangte, da sie Selbstmörder aus dem ganzen Land anzieht.
    Mit genau der Absicht sich zu töten steht zu Beginn des Romans der 37jährige Luke Roy auf der Brücke. Der Fabrikarbeiter ist ein Einzelgänger und Außenseiter. Seine Eltern ließen ihn früh allein zurück, vermachten ihm einzig einen Trawler, auf dem er seitdem lebt. Schon als Kind fühlte er eine unbestimmte Todessehnsucht, noch verstärkt durch ein Nahtoderlebnis in früher Jugend. Nun steht er hier oben, beobachtet den unter ihm liegenden Fluss, die Landschaft, die ihn umgibt und erinnert sich an einzelne Episoden aus seinem Leben. Doch der aufziehende dichte Nebel lässt ihn sein Vorhaben verschieben.
    Er macht sich auf den Weg zur Arbeit und wird dabei Zeuge eines Bootunfalls; ein Junge treibt hilflos im Fluss. Luke rennt zurück zur Brücke, stürzt sich nun doch von dort oben hinunter und rettet den Teenager.
    Die Aktion wurde gefilmt, kurz darauf steht der Film im Netz. Luke wird als Held gefeiert.
    Einer, der nie Beachtung fand, sich selbst auslöschen wollte, steht nun im Zentrum des medialen Interesses. Luke kann damit garnicht umgehen, will diesen Rummel nicht und ist ihm trotzdem hilflos ausgeliefert. Er denkt, er kann sich dem einfach verweigern ( „ Luke Roy ist ein wirkmächtiges Relikt aus dem verlorenen Zeitalter der Privatsphäre.“). Doch die Medien machen mit gezielten Provokationen ihren Umsatz, Politiker versuchen mit seiner Geschichte Stimmen zu gewinnen.
    Aber dann taucht ein weiteres Video auf, das Luke vor dem Bootsunglück auf der Brücke zeigt. Die Stimmung schlägt gnadenlos um, Luke wird als Selbstmörder entlarvt; er war nicht tapfer, war kein Held. Doch auch nach diesem öffentlichen Aufschrei folgt eine weitere Wendung und noch eine.
    Der Roman zerfällt für mich in mehrere Teile, die nicht zueinander passen. Er beginnt großartig. Hier zeigt sich, dass Gerard Donovan von der Lyrik kommt. Beeindruckende Landschafts- und Naturbeschreibungen entstehen bildmächtig vor dem Leser. Der Aufruhr des Wassers entspricht dem inneren Aufruhr des Protagonisten. Wie im auf- und abziehenden Nebel erscheint Luke mal blasser, mal deutlicher konturiert. Der ruhige Erzählstil der ersten 70 Seiten kontrastiert stark mit der Schilderung des Unfalls und der Rettung des Jungen sowie dem anschließenden Hype. Hier wird das Tempo angezogen und die Geschichte kippt leicht ins satirisch Überspitzte.
    Bis hierher bin ich dem Autor gerne gefolgt. Das Psychogramm des todessehnsüchtigen Luke berührt, seine Überlegungen zum Thema Selbstmord sind nachdenkenswert.( „ Der Tod ist das eine, das Sterben etwas anderes . Er wird nicht zulassen, dass er so stirbt, wie er gelebt hat -voller Angst und Qual.“ ) Die Kritik an unserer schrillen Mediengegenwart und der Launenhaftigkeit der Massen kann ich nachvollziehen. Dass vom „ Hosianna- Ruf“ der Menschen bis zu ihrer Forderung“ Kreuzige ihn“ oft nur eine kurze Zeitspanne vergeht, kennen wir seit der Bibel. Hier zeigt Donovan sehr eindrucksvoll, wie der Einzelne medial vermarktet und politisch instrumentalisiert wird. Wehren kann man sich kaum gegen die Allgegenwart des Internets. Das einzelne Schicksal geht unter im Geschrei der Menge.
    Doch leider belässt es Donovan nicht bei dieser Geschichte. Immer neue Wendungen baut er ein. Zufälle häufen sich, unglaubwürdige Begegnungen reihen sich aneinander. Absurde Geschehnisse werfen Fragen auf. Und das Ende lässt mich ratlos zurück.
    Schade! Denn dass Gerard Donovan sehr gut schreiben kann, beweist er immer wieder in einzelnen Sequenzen, die sprachlich ein Genuss sind. Doch das wird überdeckt von einer absurden Handlung.

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  1. Ein Mixtape der Literatur

    ... ist es wohl, was mich hier ge- und betroffen hat.

    Luke hat Todessehnsucht. Er steht auf der Eisenbahnbrücke des maroden Städtchens Ross Point und sieht hinab in die steigende Flut, die gnädig die schroffen Felsen der Flussmündung zum Meer hin bedeckt. Nebel zieht auf und Luke verliert sein Ziel aus den Augen. Nein, nicht an diesem Tag will er sterben. Er setzt seinen Weg zur Arbeit schon fort, da wird er Zeuge eines Bootunfalls am nahegelegenen See. Die Passagiere sind ins Wasser gefallen und ein Junge treibt auf die Flussmündung zu. Luke rennt zurück zur Brücke, die keine Strecke verbindet und symbolhaft am Rande der Stadt für eine unvollendete Zukunft steht, steigt noch einmal hinauf und springt. Er kann den Jungen ans Ufer retten.
    Wider Willen wird Luke zum Helden der Stadt. Presse und Politik stürzen sich auf diesen Einsiedler, der auf einem Hausboot lebt, bis die Stimmung kippt. Reporter wollen recherchiert haben, dass Luke niemanden retten, sondern sich umbringen wollte. Die Lage eskaliert und im Eifer des Gefechts, verliert Luke sein Zuhause, findet aber auch eine neue Liebe und neuen Lebensmut.
    Die ersten 70 Seiten dieses gut 300 Seiten starken Buches sind geprägt von einer überaus stimmungsvollen Landschaftsbeschreibung und Kontemplation in Lukes Vorhaben, sich hinabzustürzen. Seine Motivation bleibt dabei, gleichsam dem aufziehenden Nebel, im Ungewissen. Was der Leser erfährt, sind kleine Anhaltspunkte, die aber zu keinem vollständigen Psychogramm führen.
    Mit der Rettung Pauls, des Jungen, legt der Roman an Tempo zu und zeigt die überkochende Seite der Menschen, die plötzlich von allen Seiten auftauchen und Luke vereinnahmen. Auch Lukes neue Liebe ist aus diesem Schlamm hochgespült worden und möchte von ihm aus ihrer schicksalsgleichen Vergangenheit errettet werden. Sie kann abschließen. Doch Pauls Vater wird Luke zum Verhängnis, der ihm auf seine ganz eigene, verschrobene Weise dankbar ist. Zu spät merkt er, dass auch sein Sohn Paul Todessehnsucht hat.
    Dramen, jedes für sich eine tolle Geschichte wert, werden hier auf fast schon absurde Weise miteinander verknüpft und beharken sich in ihren Schnittpunkten. Die duchaus spannenden Twists haben was von einem Abenteuer-Kinder-Roman, der aber dem Thema Suizid keinesfalls gerecht wird und die stimmungsvollen, formvollendeten Sprachgebäude werden von den ungeschickt zusammengeschusterten Plots, die einer Kommödie besser angestanden hätten, leider überblendet.

    Als Donovan-Neuling, bin ich nun verunsichert, wo mich dieser Schriftsteller packt. Stimmung und Thema waren durchaus lesenswert, Zusammensetzung und Finish dieses Romans hat mich absolut nicht überzeugt.

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  1. Gute Passagen ergeben nicht zwangsläufig ein stimmiges Ganzes

    Ich habe selten einen Roman gelesen, der mich zu Beginn völlig begeistert hat (1), dann jedoch stark abgefallen ist (2). Daraufhin leitet ein unerwarteter Twist ein geniales Zwischenspiel ein (3). Das Ende hingegen ist völlig unglaubwürdig und hinterlässt viele Fragezeichen (4).

    Doch der Reihe nach:

    (1) Luke Roy steht auf einer Brücke bei Ross Point in Maine und möchte hinunter in den Fluss springen, der direkt ins Meer mündet. Er ist 37 Jahre alt, lebt allein auf einem Hausboot, nachdem seine Eltern ihn, als er volljährig geworden ist, allein zurückgelassen haben, um eine Weltreise anzutreten, von der sie nie zurückgekehrt sind. Er arbeitet bei Enterprise Cheese, einer Fabrik, die Käse für Flugreisen portioniert und der einzige große Arbeitgeber in der heruntergekommenen Stadt ist.

    Mit 14 Jahren ist er in einen Teich gefallen und fast ertrunken.

    "Er beschloss, hier unten zu bleiben, weit weg von der Hektik dort oben. Das Leben war so nah, dass er loslassen konnte. Urplötzlich ergab sich die Möglichkeit, aus dem Leben zu scheiden, solange er noch glücklich war." (26)

    "Am ersten sonnigen Tag des Sommers 1991 war Luke Roy dem Tod genauso nah gewesen wie dem Leben. Etwas Altes hatte ihn mit einem Traum angesteckt, der schwerelos war. Und dieser Traum würde ihm überallhin folgen." (30)

    Diese Todessehnsucht verhindert, dass Luke sein Leben gestaltet. Er fristet sein Dasein in der Fabrik, hat fast keine Freunde und beschäftigt sich mit dem Thema Selbstmord. Als Jugendlicher versucht er sogar, sich an der Badezimmertür zu erhängen, was sehr intensiv beschrieben wird. Als Leser:in bekommt man förmlich keine Luft mehr beim Lesen. Wie genau der personale Erzähler die körperlichen Folgen des Sauerstoffmangels beschreibt und dann die Vorstellung, dass ein Urinstinkt, der Überlebensinstinkt ihn rettet. Das ist großartig erzählt. Ebenso wie die Situation auf der Brücke, in der die Landschaft viel Raum einnimmt, der aufsteigende Nebel, der nicht nur die Sonne verdeckt, sondern auch den Leser:innen eine klare Sicht nimmt, so dass man kaum trennen kann, was Realität ist und was sich in den Gedanken des Protagonisten abspielt.

    Dieses zeitdehnende Erzählen beendet ein Unfall. Nachdem Luke gesprungen ist, sich jedoch am Geländer festgehalten und wieder hoch gehangelt hat, beobachtet er, während er sich von der Brücke entfernt, wie ein Boot kentert und ein Junge regungslos im Fluss treibt.

    "Luke musste an diesem Morgen nur eines tun - sich umbringen, indem er von einer Brücke in einen Fluss sprang. Auch um den Jungen zu retten, muss er jetzt von der Brücke in den Fluss springen." (75)

    Die Rettung gelingt und was daraufhin folgt ist gleichsam ein Possenspiel und eine unterhaltsame Satire auf die heutige Medienlandschaft.

    +++ Spoiler +++

    (2) Im weiteren Verlauf der Handlung trifft Luke zufällig auf Elena, deren Mann beim Versuch ein junges Mädchen aus dem gleichen Teich zu retten, in den auch Luke gefallen ist, ums Leben gekommen ist. Die darauffolgende Liebesgeschichte ist einerseits unglaubwürdig, andererseits nahe am Kitsch und will überhaupt nicht zum ersten Teil des Romans passen.

    (3) Der darauffolgende Twist hingegen verleiht der Handlung neuen Schwung, da Luke auf der Brücke vom Vater des Jungen erschossen wird, den Luke gerettet hat. Der religiöse Mann glaubt, Luke wolle sich umbringen und indem er ihn tötet, verhindert er, dass Luke in die Hölle kommt. Eine irre Logik, die dazu führt, dass der Roman im letzten Teil neue Protagonisten erhält und eine weitere Geschichte erzählt. Von Paul und seinem psychisch kranken Vater Bryce Fowler, der nach der Tat seinen Jungen, der in der Obhut seiner Großeltern lebt, aufsucht, um ihn zu "entführen". Er möchte, dass Paul sich seinem Vagabundendasein anschließt, ihn begleitet und der Dialog zwischen Vater und Sohn bilden eine Geschichte im Roman, die für sich gesehen, sehr eindrucksvoll ist. Auf wenigen Seiten entwirft Donovan das Porträt eines gescheiterten Mannes, der in seinen Wahnvorstellungen gefangen ist und keinen Ausweg mehr findet - hin- und hergerissen zwischen Zuneigung und Aggression, der jedoch dann völlig überraschend seinen Sohn gehen lässt. Warum bleibt offen.

    (4) Natürlich findet ausgerechnet Paul die Leiche Lukes, was dann folgt, ist ärgerlich, unglaubwürdig und gleicht einer Komödie. Am Ende stirbt Paul, weil er in das Boot steigt, in dem Lukes Freunde ihn bestatten möchten. Mit der Strömung wird das Boot mit Paul und Lukes Leiche ins Meer gezogen...

    +++

    Der Roman hat einen starken Beginn - die ersten 70 Seiten bilden für sich eine gelungene Erzählung über einen gescheiterten Selbstmordversuch, sprachlich dicht und teils kafkaesk. Auch andere Teile des Romans, wie der Vater-Sohn-Dialog, sind überzeugend. Allerdings fehlt mir der rote Faden, was hält diese Teile zusammen? Der Todeswunsch, die Todessehnsucht? Welche Botschaft will mir Donovan vermitteln? Die Kritik an der Macht der Medien, die aus einem Menschen einen Helden formt, den dieser nicht spielen will? Wie passt das alles zusammen mit der Liebesgeschichte? Zu viele Fragen, die offen bleiben und die mich am Ende ratlos zurücklassen.

    Fazit: Einige gute Teile ergeben zusammen nicht zwangsläufig ein stimmiges Ganzes.

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  1. Das verlorene Zeitalter der Privatsphäre

    „Es ist der dritte Freitag im Oktober. Luke Roy lehnt am Eisengeländer einer hohen Brücke. Nächsten Monat wird er siebenunddreißig. Er blickt in einen fünfunddreißig Meter tiefen Abgrund hinab.“ (Erste Sätze)

    Gerard Donovan kann höchst atmosphärisch schreiben. Das hat er mir in seinem Roman "Winter in Maine" eindrücklich bewiesen. Auch in seinem neuen Roman zeigt er seine Begabung, einsamen Figuren eine Stimme zu geben und ihre Befindlichkeiten einfühlsam zu beschreiben. Luke Roy steht also oben auf der Brücke. Er will den Sprung in den Tod wagen. Zuvor gehen ihm allerhand Gedanken durch den Kopf. Der Leser erfährt viel über Lukes Kindheit und Jugend, seine latent vorhandene Todessehnsucht, seine Einsamkeit sowie seine wenig präsenten Eltern. Man taucht tief ein in Lukes Gefühlswelt. Gleichzeitig bekommt man in eindrucksvollen Bildern die Tücken des rauschenden Flusses unterhalb der Brücke geschildert, die Naturbeschreibungen suchen ihresgleichen. Dann steigt langsam der Nebel auf, ganz betulich scheint er alles um sich herum zu verschlingen. Mit ihm treten Veränderungen ein. Ein Unglück passiert. Luke sieht einen scheinbar leblosen Teenager unten im Fluss treiben, überlegt nicht lange und springt, um ihn zu retten…

    Natürlich gibt es Schaulustige und Kameras ringsumher. Aus dem Lebensmüden wird ein ungewollter Held stilisiert. Die Medien stürzen sich auf den unbedarften Luke, Politiker wollen ihn instrumentalisieren. So sehr er auch versucht, sich dem Hype zu entziehen, umso mehr entwickelt die Maschinerie eine eigene Dynamik. Zuerst lieben sie ihn, dann hassen sie ihn – die Stimmung wechselt. Der Roman gewinnt immens an Geschwindigkeit, verliert seinen ruhigen, bildreichen Duktus, mutiert zur Mediensatire mit schnellen Dialogen. Manches scheint überzeichnet. Allerdings spielt die Geschichte im ländlichen Amerika und dort ist vieles denkbar, was hierzulande wie ein unrealistisches Spektakel anmutet. Lukes Identität wird im Fernsehen preisgegeben. Es beginnt eine Hetzkampagne, deren Ähnlichkeit mit dem Sturm auf das Washingtoner Kapitol im Januar 2021 mit Sicherheit kein Zufall ist.

    Der Ort des Geschehens hier ist Ross Point, ein Ort mit wenig Perspektiven für seine Bewohner. Das gesamte Umfeld ist in seiner Tristesse schwer zu überbieten. Hier hinein platzt die Nachricht vom (Anti-)Helden Luke Roy. Zu viele Hoffnungen klammern sich an ihn und werden anschließend ins Gegenteil verkehrt. Die Leute brauchen einen Sündenbock, die Dynamik der Entwicklungen liest sich dabei noch recht fesselnd.

    Donovan beschäftigt sich in diesem Roman intensiv mit dem Thema Freitod sowie mit der fraglichen Macht der Medien, Menschen zu heroisieren oder zu zerstören. Es scheint in TV und Internet nur um Aufmerksamkeit, Quoten und Klicks zu gehen – die Humanität bleibt völlig auf der Strecke. Diese Kritik wird überdeutlich und zum Teil in massiv drastischen Bildern transportiert. Insofern ist das Buch nichts für sensible Gemüter.

    Dem Autor mangelt es nicht an Ideen. Er schickt seinen Protagonisten durch eine Tour de Force mit völlig überraschendem Ausgang. Alles was danach kommt, wirkt wie aus einem anderen Guss. Neue Figuren tauchen auf, Handlungsstränge wirken überkonstruiert und von Zufällen überschwemmt, die wenig glaubwürdig sind. Selten hat mich ein Romanende dermaßen frustriert und ratlos zurückgelassen. Die ganze Stimmung, die Donovan anfänglich sensibel und in einem langsamen Erzähltempo aufgebaut hat, verliert sich zusehends. Zu hektisch entwickelt sich die weitere Geschichte. Ab und zu blitzt nochmal ein schönes Sprachbild auf, das aber fast in der aufgebauschten Dramatik untergeht. Mit der Hinwendung zum Unfallopfer Paul verliert der Roman für mich seine Glaubwürdigkeit komplett, verkommt fast zur tieftraurigen Posse. Zahlreiche Zufälle knüpfen sich in einem verwirrenden Abspann zusammen.

    Ich bin sehr ratlos, welche Aussage das Buch haben soll. Wo steckt die Botschaft abgesehen von der Medien- und Gesellschaftskritik im Mittelteil? Gerard Donovan kann es so viel besser! Für mich besteht der Roman aus drei Teilen, die weder inhaltlich noch stilistisch zusammen passen und deren Qualität in meinen Augen kontinuierlich abnimmt. Insofern komme ich zu einer mittelmäßigen Bewertung und freue mich auf den nächsten, hoffentlich überzeugenderen Roman des Autors.

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  1. 2
    19. Feb 2022 

    In die Arme der Absurdität

    Während der Lektüre von „In die Arme der Flut“ ist mir etwas passiert, was bisher in der Form noch nie vorgefallen ist: Ich hatte eine Vorahnung, die mir nach den ersten 110 Seiten sagte, ich solle lieber jetzt aufhören zu lesen, wenn es am schönsten ist und das Buch weglegen. Natürlich habe ich das Buch bis zum Ende gelesen. Aber der überwiegende Teil von dem, was nach diesen ersten Seiten geschrieben steht, hat mich enorm enttäuscht. Tatsächlich konnte meines Erachtens der Autor im späteren Verlauf des Romans nicht mehr annähernd zu seiner anfänglichen Stärke zurückfinden.

    Den Beginn dieser grotesken Geschichte stellt die ausführliche, wertfreie und sogar poetische Betrachtung eines Menschen dar, der im Begriff ist, sich das Leben zu nehmen. Luke will von einer Brücke springen, verweilt dort jedoch eine ganze Stunde. Wir erleben in Rückblicken, dass dies nicht Lukes erster Versuch ist, in messerscharfen Sätzen erfahren wir etwas über seine Kindheit und in ausufernden Beschreibungen verbinden sich diese Schilderungen mit den Naturgewalten, die sich unter der Brücke und in der Luft zusammenbrauen. Selten war ich so gepackt von einem Romanbeginn. Selten so überzeugt davon ein Meisterwerk vor mir zu haben. Und noch nie hatte ich die Vorahnung nach 110 Seiten: Hör auf zu lesen, alles was jetzt noch kommt, könnte dieses einmalige Lektüreerlebnis zunichte machen.

    Vorahnungen sollte man vielleicht doch ab und an folgen. Bei diesem Roman wäre das im Rückblick eindeutig die ratsamste Entscheidung gewesen. Denn nun schwenkt der Roman von einem menschlichen, mitreißenden Drama zu einer Medien- und danach zu einer Plotgroteske. Donovan versucht äußerst plakativ mittels der bekannten Holzhammermethode die Gefahren von Social Media in Kombination mit aufgewühlten Menschenmengen aufzuzeigen. Dabei ist er sich nicht zu schade einen unnötigen Trump-Verschnitt auftauchen zu lassen, der per Twitter die Massen aufwiegelt. Der gezogene Vergleich zum Erstürmen des Kapitols in Washington scheint dabei im Rahmen dieser Kleinstadtposse jedoch anmaßend. Zwischendrin gibt es noch einmal eine richtig große Portion Kitsch, die es einem hochkommen und an jeglicher schriftstellerischer Ernsthaftigkeit des Autors zweifeln lässt und fast zuletzt muss man auch noch einem Kind bei seinem schrecklichen Selbstmord beiwohnen. Das ist der Punkt, der über die Grenze des Erträglichen hinausragt und einfach nur fehl am Platze ist. Das Buch wirkt an der Stelle meilenweit entfernt vom poetischen Anfang und eher wie ein billiger Snuff-Streifen. Der Plot verkommt zu einem himmelschreienden Unsinn mit Zufällen, die verzweifeln lassen ob der Absurdität. Insgesamt wird mit zunehmender Seitenzahl Subtilität immer kleiner geschrieben und ist teilweise gar nicht mehr vorhanden. Kurz flimmert am Ende des Romans noch einmal das Potential der Geschichte sowie des Autors über dem Horizont auf, bevor es sich selbst im Meer versenkt.

    Zur Übersetzung ist darüber hinaus erwähnenswert, dass diese zwar grundsätzlich ganz gut gelungen ist, aber auch starke Schnitzer aufweist, namentlich wenn mindestens viermal im Laufe der Erzählung ein Auto irgendwohin „braust“. Das ist ein Wort, welches ich in einer literarisch anspruchsvollen Übersetzung einfach nicht lesen möchte. Punkt.

    Somit muss ich die schwere Entscheidung treffen, diesem Roman, der für mich bei 2,5 Sternen liegt, eine auf 2 Sterne abgerundete Bewertung zu geben. Ich kann ihn leider nicht guten Gewissens weiterempfehlen, was den Ausschlag zu meiner Bewertungsentscheidung gibt.

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  1. Antiheld wider Willen

    Als Luke Roy kurz vor seinem 37. Geburtstag die hohe Brücke über dem Fluss bei Ross Point im US-Bundesstaat Maine betritt, steht für ihn fest: Er wird an diesem Tag Ende Oktober seinem Leben ein Ende setzen. Doch während ein immer dichter werdender Nebel die Brücke einhüllt, hört er plötzlich Schreie. Nach einem Bootsunfall treibt der 15-jährige Paul unaufhaltsam Richtung Meer. Kurzerhand springt Luke 35 Meter tief ins Wasser und rettet den Jungen. Wie geht ein Mensch, der mit seinem Leben eigentlich abgeschlossen hatte, damit um, plötzlich von den Menschen und den Medien als Held gefeiert zu werden, obwohl er dies nicht will? Und wie schnell können Stimmungen in den sozialen Medien eigentlich kippen? Darüber schreibt Gerard Donovan in seinem neuen Roman "In die Arme der Flut".

    Während der deutsche Titel des Romans grammatikalisch auf den ersten Blick etwas sperrig wirkt, drückt der englisch-sprachige Originaltitel "The Dead Lit Faintly" die morbide Todessehnsucht, die das Buch ausstrahlt, deutlich stärker aus. Man kann Gerard Donovan darin sicherlich einiges vorwerfen, aber nicht, dass er sich groß um literarische Konventionen scheren würde. Denn einige Leser:innen dürften schon innerhalb der ersten 70 Seiten Reißaus nehmen. In fast quälend langsamem Erzähltempo begleiten wir Luke bei seinem missglückten Suizidversuch, und fast glaubt man, sich in einer Oper zu wähnen, in der der Tod des Schurken oder der Helden auch häufig bis zur letzten Sekunde ausgekostet wird. Dennoch strahlt der Roman in dieser Phase eine recht hohe Intensität aus. Der Nebel wabert, Luke sinniert über Nahtoderfahrungen in seiner Jugend, der Fluss rauscht, die Landschaft Maines zieht an den Augen der Leser:innen vorbei.

    Mit Einsetzen der Rettungsaktion nimmt das Erzähltempo plötzlich dramatisch zu und entwickelt sich in der Folge sehr überraschend zu einer völlig überspitzten Medien- und Gesellschaftsgroteske. Luke wird zum Helden wider Willen, kurz darauf zum Antihelden und Verfolgten. Donovan lässt einen Bürgermeister namens Donald unter der wenig subtilen Bezeichnung "der wahre Bürgermeister" lostwittern und verübt mit dem Holzhammer Kritik an den sozialen Medien, der Gesellschaft und der Politik. "Und gab es nicht mal bei Twitter einen Real Donald mit orangem Haar?", mögen spätestens jetzt einige Leser:innen denken.

    In dieser Phase erinnert "In die Arme der Flut" sehr stark an den 2016 erschienenen Roman "Vor dem Fall" von Noah Hawley, in dem ein Mann nach einem Flugzeugabsturz einen kleinen Jungen rettete und von den Medien zu einem Helden hochstilisiert wurde, bevor sich auch dort das Meinungsbild drehte. Doch während bei Hawley die Spannung im Vordergrund stand, setzt Donovan eher auf eine Generalkritik und vermischt diese immer wieder mit zarten und schönen Sätzen: "Am östlichen Horizont kann er sehen, wie ein Fingerabdruck aus Licht die Sterne berührt", heißt es dort oder auch "Für Geschöpfe, die die Sonne nicht ertragen können, bietet die Nacht diesen Planeten an."

    Diese wunderbaren Momente zeigen, welch großartiger Roman "In die Arme der Flut" hätte werden können, denn Gerard Donovan beweist mehr als einmal, dass er sein Fach beherrscht und die richtigen Töne treffen kann. Auch sein Mut ist ihm hoch anzurechnen. Da verschwindet völlig überraschend plötzlich eine recht zentrale Figur, und der vielleicht interessanteste Charakter des Buches wird erst im letzten Viertel eingeführt.

    Dennoch überwog bei mir das Gefühl einer Unausgegorenheit. Zwischenzeitlich wähnte ich mich in einem neuen Roman, so wenig passte für mich die Mischung aus tieftraurigem Drama und schriller Satire. Und wenn der Autor gegen Ende des Buches völlig unvermittelt und langatmig den live auf Facebook übertragenen Suizid eines Kindes unkommentiert darstellt und diesen mit einer "Rattenfänger von Hameln"-Parabel gleichsetzt, waren für mich die Grenzen des guten Geschmacks in Verbindung mit dem Zynismus des Autors gegenüber seinen Figuren überschritten.

    Schade, denn eigentlich hatte "In die Arme der Flut" für mich alles, was einen sehr guten Roman ausmacht.

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  1. 5
    05. Jan 2022 

    Ein Roman der Zufälle

    Wer sich von dem, vor mehr als 10 Jahren erschienenen Roman "Winter in Maine" von Gerald Donovan begeistern ließ - wozu ich mich auch zähle -, wird sehnsüchtig auf die Veröffentlichung von weiteren Büchern dieses Autors gewartet haben. Vor ein paar Wochen ist der aktuelle Roman des irischen Autors erschienen: "In die Arme der Flut". Und zu meiner großen Freude hat Gerald Donovan sein hohes schriftstellerisches Niveau, das er mit "Winter in Maine" bewiesen hat, halten können.

    Inhalt und Plot sind schnell erzählt:
    Schauplatz dieser Geschichte ist eine Kleinstadt in Maine. Ein Mann steht auf einer Brücke und will sich in den Tod stürzen. Währenddessen verunglückt ein Jugendlicher in dem Fluss, den diese Brücke überspannt und wird von der Strömung mitgerissen. Der vermeintliche Selbstmörder stürzt sich scheinbar selbstlos in die Tiefe, um den Jungen zu retten. Beide überleben. Von da an ändert sich das Leben des Selbstmörders in einer dramatischen Weise. Die sozialen Medien, Politik, Presse und Fernsehen entdecken ihn für sich, machen aus ihm einen Menschen der Öffentlichkeit, ob er will oder nicht. Innerhalb kürzester Zeit durchläuft er das komplette Spektrum der öffentlichen Beliebtheitsskala – vom Helden zum Betrüger und wieder zum Helden. Die Meinungen über ihn wechseln wie Fähnchen im Wind.
    Der Protagonist entwickelt sich dabei zu einer tragischen Figur, die darum kämpfen muss, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen.

    "Luke Roy ist ein wirkmächtiges Relikt aus dem verlorenen Zeitalter der Privatsphäre."

    Die Geschichte erscheint anfangs grotesk, weil der Autor sich dem Thema "Öffentlichkeit" in einer fast schon übertriebenen Weise widmet. Dabei kann man jedoch nicht sicher sein, ob seine Darstellung tatsächlich übertrieben ist oder unsere Realität bereits dieser Groteske entspricht. Denn leider lassen sich viele Parallelen zum echten Leben erkennen, so dass man als Leser zwar amüsiert ist, aber dennoch mit Unbehagen reagiert.

    "'Verdammt! Ich will nicht im Internet sein!', brüllt er. 'Ich will da raus.'"

    „In die Arme der Flut“ ist ein Roman der Zufälle und unvorhersehbaren Wendungen. Der Verlauf der Handlung wird von Zufällen dominiert. Und wie das mit Zufällen ist, rechnet man nicht mit ihnen und wird überrascht, welche Auswirkungen sie auf die nachfolgende Handlung haben. Diese Zufälle bewegen sich hart an der Grenze zum Irrealen. Denn mal ehrlich, allein der Plot dieses Romanes erscheint so unwirklich, dass man mit Unglauben reagieren möchte. Doch gerade diese unfassbare Anhäufung von Zufällen macht den Charme dieses Romanes aus.

    Der Titel des Romans „In die Arme der Flut“ ist Programm für den Sprachstil von Gerard Donovan, denn das Thema „Flut“ findet sich darin wieder. Der Autor scheint ein Freund metaphorischer Sprache zu sein. Die Vergleiche, die er dabei anstellt erscheinen oft ungewöhnlich und stechen dadurch hervor.

    Immer wieder verwendet er dabei Bilder, das Thema „Flut“ betreffend, die er kunstvoll in seine Erzählung einflicht und mich zum Staunen gebracht haben.

    Fazit:
    "In die Arme der Flut" erzählt die Geschichte eines Mannes, dem das Leben genommen wird und der darum kämpft, es wieder zurückzubekommen. Der Roman ist ungewöhnlich und spannend - aber auch grotesk und hat mich nicht nur durch seine wundervolle Sprache begeistert.

    Leseempfehlung!

    © Renie

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  1. Der Einsiedlerheld - ein Held wider Willen

    Sehr empfindsamen Menschen rate ich dringend von der Lektüre dieses Buches ab! Es handelt nämlich viel von Suizid, von Lebensüberdrüssigkeit, von Todessehnsucht!

    Nahe dem Städtchen Ross Point in Maine steht Luke Roy, knapp 37 Jahre alt, schon eine Stunde lang auf der Brücke, um die 35 m tief ins Wasser zu springen und seinem Leben ein Ende zu machen. Es ist nicht sein erster Selbstmord-Versuch! Als er dann endlich springt, geht es nicht um das Ende seines Lebens, sondern um einen 15-Jährigen im Wasser zu retten.

    Und er wird wider seinen Willen zum Helden hochstilisiert! Der Leser reibt sich ungläubig die Augen, ob der Gedanken der Kommunalpolitiker (‚Mit entsprechender Ausschilderung und der richtigen Werbung könnte die Stadt sich in ein amerikanisches Lourdes verwandeln‘) und der Wahnsinns-Macht der ‚sozialen‘ Medien. Aber es bleibt nicht so!

    Mir fielen sehr bekannte Parallelen ein: beim Wankelmut der Massen die Karwoche in der kath. Glaubenslehre, in der am Palmsonntag das Volk Jesus noch mit ‚Hosianna‘ in Jerusalem begrüßt und am Karfreitag ‚kreuzigt ihn‘ fordert. Außerdem bei ‚Drehsprech‘ (Man fordert das Gegenteil von dem, was man will. ‚Ich dulde keine Gewalt‘ bedeutet ‚Ich will Gewalt‘) hatte ich Donald Trumps Rede vor dem Sturm aufs Kapitol am 6. Jan. 2021 vor Augen.

    Nebenbei erfahren wir die Geschichte der Ortschaft, der Eisenbahnstrecke, der Brücke, der Selbstmorde ab 1941 darauf, aber auch von kassierten Beleidigungen, Blicken und Verletzungen, die in Erinnerungen blieben. Nein, dieses Buch ist keine leichte Lektüre, wer allerdings gerne – wie ich - hinter die Fassade schaut, dem empfehle ich es! Vier Sterne gebe ich dem Buch, das ich so schnell nicht vergessen werde!

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