Die allertraurigste Geschichte

Buchseite und Rezensionen zu 'Die allertraurigste Geschichte' von Ford Madox Ford
3.2
3.2 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Die allertraurigste Geschichte"

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs verbringen die Ehepaare Ashburnham und Dowell alljährlich glückliche Tage in Bad Nauheim. Erst nach dem Tod seiner Frau entdeckt John Dowell, dass der Schein in all den Jahren getrogen hat, und er beginnt, den wahren Charakter seiner Freunde und seiner Frau zu erkennen. Ein bewegender Roman, der den Leser mit jedem seiner betörenden Sätze tiefer in das Labyrinth der menschlichen Seele lockt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:320
Verlag: Diogenes
EAN:9783257070385

Rezensionen zu "Die allertraurigste Geschichte"

  1. (K)ein schöner Apfel

    Ein paar Worte über den Autor:

    Ford Madox Ford (1873 – 1939) ist als Person bekannter als sein Werk.

    Wer kennt heute noch seine etwa dreißig Romane – oder seine zahlreichen anderen Werke, wie Biografien, Gedichte, Reisetagebücher oder Essays? Dabei war er einst eine überlebensgroße Persönlichkeit in der englischen Literaturszene! So schrieb er zum Beispiel mit Henry James, war befreundet mit Joseph Conrad und Ernest Hemingway und förderte den noch unbekannten Ezra Pound.

    Als Verleger und Kritiker war er allerdings damals schon erfolgreicher als als Schriftsteller.
    Sein 1915 erschienener Roman “Die allertraurigste Geschichte” wird von vielen modernen Kritikern als herausragendes Werk der frühen englischen Moderne gesehen, nicht umsonst jedoch erschien eine Auflage der deutschen Übersetzung im Jahr 2015 in der “ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher”.

    Und ist das nicht die allertraurigste Geschichte?

    Meine Meinung

    Ach, was sind die Sommer in Bad Nauheim doch idyllisch, wie innig und herzlich ist die Freundschaft der beiden Ehepaare Ashburnham und Dowell! So zumindest erscheint es dem Leser auf den ersten Seiten des Buches. Der Erzähler, John Dowell, singt das Loblied dieser Idylle dermaßen kitschig überschwänglich, dass man sich beinahe in einer Rosamunde-Pilcher-Verfilmung wähnt und die leisen Misstöne fast überlesen könnte.

    Edward Ashburnham und seine Frau Leonora, John Dowell und seine Frau Florence. Über neun Jahre hinweg ergibt die Freundschaft der beiden Paare eine hübsche Kulisse – ein Musterbild von Gutbürgertum und Sittsamkeit.

    Doch das schöne Bild täuscht.
    Dahinter verbergen sich Ehebruch und Täuschung, was letztendlich tragische Konsequenzen hat. Die Geschichte eskaliert zunehmend, jedoch spielt sich das – man muss ja das Gesicht wahren! – hinter den Kulissen ab.

    “Denn wenn wir in meinen Augen vier Leute mit demselben Geschmack, mit denselben Wünschen waren, Leute, die einmütig handelten – oder nein, nicht handelten –, die einmütig hier und dort beisammensaßen, so soll das nicht die Wahrheit sein? Wenn ich neun Jahre lang einen schönen Apfel habe, der im Inneren faul ist, und seine Fäulnis erst nach neun Jahren und sechs Monaten minus vier Tage entdecke, darf ich dann nicht sagen, ich hätte neun Jahre lang einen schönen Apfel gehabt?”

    (Zitat)
    Oder besser gesagt:

    John muss feststellen, dass jeder außer ihm schon lange begriffen hat, was für eine Farce diese hübsche Fassade ist.
    Er muss sein ganzes Leben neu interpretieren – alles, was ihm lieb und teuer ist, erweist sich als Trug und Wahn, die reinsten Seelen entpuppen sich als blanker Hohn. John ringt um die Wahrheit und sträubt sich zugleich dagegen, die Geschichte wird zum unaufhaltsamen Absturz in die Selbsterkenntnis.

    Je zorniger John wird, desto mehr schärft sich sein Blick.

    Die Handlung wird episodenhaft erzählt und springt dabei vorwärts und rückwärts in der Zeit Dabei bleibt vieles zunächst ungesagt und wird dann später im Buch wieder aufgegriffen oder korrigiert. John erweist sich dabei immer mehr als Inbegriff des unzuverlässigen Erzählers.

    Das ist ein Stilmittel, das ich sehr schätze, wenn es gut geschrieben ist – und in meinen Augen ist es das hier.
    Bis zum Schluss lässt sich nicht mit absoluter Gewissheit sagen, was man John glauben kann und was nicht. Ist er wirklich so unsäglich naiv, dass er neun Jahre lang nicht begreift, was vor sich geht?

    Als Leser kann man nur spekulieren. Klar ist: dies ist weniger als die reine Wahrheit. Aber was ist Täuschung, was Selbsttäuschung?

    Oberflächlich betrachtet geschieht nicht viel – zumindest nichts, was man heutzutage nicht als trivial betrachten würde. Dies ist keine Geschichte mit klassischem Spannungsbogen. Ford Madox Ford erzählt eine Geschichte der leisen Nuancen, der Zwischentöne, sogar des Ungesagten.

    Ein zentrales Thema des Buches ist die Doppelmoral der Gesellschaft – die frappante Diskrepanz zwischen Schein und Sein.
    Als Bild einer vergangenen Zeit und ihres Wertesystems ist der Roman meines Erachtens bestechend.

    Erzählt wird die Geschichte meist im jovialen Plauderton, dabei zeigt John durchaus auch Humor. Interessant erschien mir vor allem der Gegensatz zwischen diesem lockeren, heiteren Schreibstil und dem leisen Unglück, unter dem die Charaktere zunehmend leiden.

    FAZIT

    Dieses Buch wurde im Jahr 1915 zum ersten Mal veröffentlicht. Darin erzählt ein Erzähler, dem man nicht alles glauben kann, eine Geschichte von Ehebruch, Täuschung und Tragödie.

    In meinen Augen brilliert die Geschichte damit, wie die Kollision von Sein und Schein geschildert wird, und das in leisen Tönen. Der Erzähler muss feststellen, dass alles, was ihm wichtig war, sich als Lüge herausstellt.

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  1. 2
    12. Jan 2019 

    Von Doppelmoral und großer Langeweile...

    Nachdem ich mich buchstäblich Seite für Seite durch den Roman gequält und geärgert habe, fühle ich mich mit der Aufgabe überfordert, eine wertneutrale Rezension zu schreiben. Am liebsten würde ich herausschreien: langweilig, überflüssig, unmöglich! Aber derlei Meinungsäußerungen benötigen ja eine Begründung, da sie ansonsten nicht nachvollziehbar sind.

    Ich finde es eigentlich sehr bereichernd, gelegentlich einen Klassiker zur Hand zu nehmen oder auch unbekannte Werke zu lesen. Als ich also die Gelegenheit erhielt, diesen Titel im Rahmen einer Leserunde kennenzulernen, zeigte ich mich von der Idee sehr angetan. Und ich muss gleich dazu sagen, dass es zu diesem 1915 erstmals erschienenen Roman durchaus begeisterte und positive Stimmen gibt. Nur kann ich mich ihnen in keinster Weise anschließen.

    Tatsächlich litt Ford Madox Ford (1873-1939) schon zeitlebens unter einem Mangel an Lesern, wie das Nachwort verrät - als Verleger und Kritiker hatte er deutlich mehr Erfolg als mit seinen Romanen und Gedichten. Trotzdem gilt 'Die allertraurigste Geschichte' - zunächst erschienen unter dem Titel 'The Good Soldier' - als eines der wichtigsten Werke der englischen Literatur der frühen Moderne. Wie das?

    Nun, Ford Madox Ford lässt den Ich-Erzähler John Dowell konsequent als unzuverlässigen Erzähler fungieren - mit anderen Worten: ihm kann man kein Wort glauben. Und tatsächlich widerspricht sich die Geschichte immer wieder, manchmal schon im selben Satz. Als Leser ist man es gewohnt, der Erzählung zu vertrauen, dem Gesagten zu folgen und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Das funktioniert hier nicht. Überhaupt nicht.

    Das beginnt bereits damit, dass John Dowell sich als Außenstehender zu präsentieren versucht, der das geschilderte Geschehen zugetragen bekommen oder auch zum Teil beobachtet haben will - in Wirklichkeit steckt er aber selbst mittendrin. Dowell selbst erscheint als äußerst naiver, gutgläubiger Zeitgenosse, der in jedem Menschen das sieht, was dieser ihn sehen lässt. Er hinterfragt nichts und unterstellt jedem zunächst nur positive Attribute. Doch als unzuverlässiger Erzähler widerspricht er dem nur zu bald, und tatsächlich entpuppen sich die Figuren nach und nach als etwas gänzlich anderes.

    Was sich hier vielleicht wie ein genialer Schachzug liest und von anderen Rezensenten auch als solcher bezeichnet wird, konnte mich leider nicht begeistern. Abgesehen davon, dass ich nie wusste, was ich nun glauben sollte, fühlte ich mich mit der umständlichen und verschachtelten Art des Erzählens überfordert, mit der Detailverliebtheit der Schilderungen, den ständigen Zeitsprüngen, Abschweifungen und Einschüben, die einzig und allein der Verwirrung des Lesers zu dienen scheinen. Die Erzählung plätschert von Anfang bis Ende vor sich hin ohne auch nur ansatzweise so etwas wie Spannung zu erzeugen - und tatsächlich erschließt sich mir auch nach der Lektüre nicht, wofür dieses Buch überhaupt geschrieben wurde.

    Ja, die Themen Doppelmoral, enge gesellschaftliche Konventionen statt individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, der Moralkodex der katholischen Kirche - all dies findet sich in diesem Roman. Doch werden diese Themen allenfalls angerissen und angedeutet - und verlieren gleich im nächten Absatz wieder an Bedeutung. Für eine Gesellschaftskritik ist mir das viel zu wenig.

    Und auch der Entwicklung der Figuren kann ich hier nichts abgewinnen. Zwar blickt man mit John Dowell allmählich hinter die glattgeschliffenen Fassaden der Gutbürger, doch abgesehen von der veränderten Perspektive ändert sich hier wenig. Das Leben findet statt zwischen den Polen Langeweile und Drama, was letztlich Konsequenzen nach sich zieht. Was bei mir am Ende bleibt ist leider lediglich ein Achselzucken.

    Langeweile - das war auch mein hauptsächliches Empfinden während der Lektüre. Und deshalb kann meine Bewertung des Romans auch nicht höher ausfallen. Immerhin ist das Buch sehr hochwertig und hübsch aufgearbeitet, so dass dies für mich ein Pluspunkt war. Ansonsten gibt es diesmal von mir leider keine Leseempfehlung.

    © Parden

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  1. Ein guter Soldat?

    "Die allertraurigste Geschichte" von Ford Madox Ford, neu aufgelegt im Diogenes Verlag im Jahr 2018, erschien zuerst 1915 unter dem Titel: "The good soldier." Dieser Roman wird von vielen Literaturkritikern als Meisterwerk bewertet, entsprechend präsentiert der Verlag das Buch in einem hübschen Schmuckschuber. Schon vor der Lektüre hat man das Gefühl, einen besonderen Roman in der Hand zu halten. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht. "Die allertraurigste Geschichte" ist wirklich ein ganz besonderer Roman. Für mich allerdings weniger wegen des Inhalts der Geschichte, sondern wegen der Art und Weise wie sie erzählt wird. Der Ich-Erzähler - John Dowell - wendet sich immer wieder direkt an uns Leser. Er nennt uns mehrmals seinen "stillen Zuhörer" auf der anderen Seite des Kamins. Damit zieht er den Leser in die Geschichte hinein, aber "still" zu sein, genau das fällt beim Lesen schwer. Immer wieder hat man den Impuls, dem Erzähler zu widersprechen, ihm zu zu rufen, dass das doch gar nicht stimmt was er sagt, dass er sich widerspricht, und vor allem: dass er sich etwas vormacht und die Realität nicht sehen will oder kann.
    Ungewöhnlich ist auch der Aufbau der Geschichte. Der Erzählfaden ist zu einem komplexen, verworrenen Knoten geformt. Der Erzähler springt in der Zeit vor und zurück, erzählt Geschichten mehrmals mit unterschiedlichen Akzenten, legt ständig dicke Hinweiszeichen aus, auf die er aber erst viele Seiten später eingeht. Fast amüsant ist dabei der Umstand, dass dies wiederum im Roman reflektiert wird. Der Erzähler entschuldigt sich zwischendurch für seine Art des Erzählens: "Ich weiß ich habe die Geschichte in einer sehr weitschweifigen Weise erzählt, so dass es schwer fallen mag, den Weg durch diese Art Labyrinth zu finden. Ich kann es nicht ändern. Ich habe an meiner Vorstellung festgehalten, ich säße in einem Landhaus und mir gegenüber ein stiller Zuhörer..."
    In dieser Erzählweise liegt für mich der Reiz des Romans, zumal der Autor wunderbar schreiben kann. Die Geschichte an sich wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen.
    Worum geht es?
    Zwei Ehepaare aus der Oberschicht, die Dowells und die Ashburnhams treffen sich über viele Jahre immer wieder zur Kur in Bad Nauheim. Sie sind oberflächlich gesehen befreundet. Schon zu Beginn der Geschichte erfahren wir jedoch, dass sich unter der Oberfläche seelische Dramen abgespielt haben und auch, dass zwei der vier Protagonisten zum Zeitpunkt der Erzählung jung gestorben sind. Eine wichtige Figur ist Edward Ashburnham, der vom Erzähler als guter Soldat und Landedelmann dargestellt wird. Aus der Geschichte geht aber auch hervor, dass er ein notorischer Ehebrecher und Verschwender ist (was vom Erzähler nicht negativ bewertet wird). In der Beurteilung der Charaktere der Protagonisten sind wir Leser allein gelassen, denn wir haben unsere Informationen nur von einem - wie wir im Laufe des Romans immer wieder festgestellt haben - unzuverlässigen Erzähler.

    Insgesamt ein ganz ungewöhnlicher Roman, bei dem es um Schein und Sein und um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Bewertung von Charakteren geht. Nicht leicht zu lesen, aber es lohnt sich auf jeden Fall, sich auf diese Lektüre einzulassen.

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  1. Alles nur Fassade

    Alles nur Fassade

    Ford Madox Ford
    Die allertraurigste Geschichte

    Dreh und Angelpunkt dieser Geschichte ist Bad Nauheim. Hier treffen sich zwei Ehepaare und werden Freunde, sofern man die Ränkespiele und unterschwelligen Tragödien außen vor lässt, denn um nichts anderes geht es eigentlich in diesem Roman. Er ist gezeichnet von den Verfehlungen die im geheimen stattfinden, in der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

    Ein britisches Ehepaar, Offizier Edward Ashburnham und seine Frau Leonora, eine irische Katholikin, hat mit den Eskapaden von Edward zu kämpfen. Leonora lässt ihren Mann allerdings auf vielfältige Weise für seine Verfehlungen leiden, und schafft es teilweise sogar die Fäden bei eben diesen Affären in der Hand zu halten.
    John Dowell, hat Florence geheiratet eine reiche Erbin mit einem Herzleiden, welches sie an der Ausübung der ehelichten Pflichten hindert, was John allerdings nicht stört.
    In Bad Nauheim lernen die beiden Paare sich kennen. Florence und Edward beginnen eine Affäre, von der John Dowell, der Erzähler dieses Romans viele Jahre nichts bemerkt haben soll. Und genau dies ist es, was den Leser schon nach kurzer Zeit stutzig werden lässt. Die vertraute Erzählweise ufert schnell in Skepsis aus. Was von dem was John erzählt hat sich wirklich so zugetragen? John scheint Edward sehr zugetan zu sein, und hat im Grunde fast immer eine Entschuldigung für das zügellose Verhalten des Freundes. Diese Tatsache macht es schwer, den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu erkennen.

    Zu Beginn des Buches hatte ich das Gefühl zu erkennen in welche Richtung mich die Handlung führt. Doch nach und nach wurde mir klar, dass Dowell bewusst das Bild eines Ahnungslosen gezeichnet hat, um am Ende einige brisante Wendungen und neue Gesichtspunkte auf die Personen ins Rennen zu bringen, die auch den Verlauf und die Sichtweisen in ein ganz anderes Licht rücken. Nichts ist so wie es scheint, wenn man die Hintergründe näher durchleuchtet. Es bleiben viele Zweifel bezüglich des Geschehens, denn John ändert seine Eindrücke schneller als man folgen kann. Manchmal ließ mich der Roman rätselnd zurück, er überforderte und verwirrte mich.

    Was hat mir der Roman gebracht? Diese Frage habe ich mir tatsächlich gestellt, vor allem da es sehr mühsam war ihn zu lesen. Er hat mir Einblicke in die viktorianische Zeit gebracht, er hat mir aufgezeigt, dass es dort die gleichen Verfehlungen, Sehnsüchte und Ängste gegeben hat wie in der heutigen Zeit. Der einzige Unterschied ist der, dass damals alles im verborgen ablief und nicht, so wie heute, für alle erkennbar. Wenn man bedenkt zu welcher Zeit Ford Madox Ford dieses Werk geschrieben hat, es erschien erstmalig 1915, kann ich ihm einiges verzeihen. Der Erzählstil und alles weitere lässt sich sicher nicht mit Romanen aus der heutigen vergleichen, dennoch ist es kein Buch was ich leichtfertig empfehlen würde. Man muss sich alles erkämpfen, hätte mir klare Strukturen gewünscht und einen Erzähler dem ich die Story abkaufe.

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  1. Ein Meisterwerk? Ja - Nein - Vielleicht

    Das Buch beginnt mit einem Brief des Autors an seine Frau Stella Ford. Der Autor berichtet ihr, wie der Roman entstanden ist. Es handelt sich angeblich um eine wahre Geschichte, die dem Autor von Hauptmann Edward Ashburnham selbst erzählt worden ist. Ursprünglich hieß der Roman „The saddest Story“. Da der Verleger meinte, unter diesem Titel sei der Roman in Kriegszeiten kaum verkäuflich, schlug der Autor im Scherz als Titel „The good Soldier“ vor. Unter diesem Titel wurde der Roman erstveröffentlicht. Der Diogenes-Verlag hat den Roman im Jahr 2018 neu, unter dem ursprünglichen Titel herausgebracht. Meiner Ansicht nach passen beide Titel mehr oder weniger gut. Die erzählte Geschichte ist weder die Allertraurigste, die ich je gehört oder gelesen habe, noch ist der in der Romanhandlung mitwirkende Hauptmann Edward Ashburnham ein guter Soldat. Derartige Falschbezeichnungen, Übertreibungen und Verwirrungen gehören indes zum Konzept dieses Romans, weshalb die Titel dennoch irgendwie passen.

    Obwohl es sich also angeblich um eine wahre Geschichte handeln soll, wird sie uns von einem Ich-Erzähler erzählt, der mit dem Autor nicht identisch ist. Der Ich-Erzähler ist John Dowell, ein reicher Amerikaner, der ankündigt, die allertraurigste Geschichte erzählen zu wollen, die er je gehört hat. Schnell wird allerdings klar, das er die Geschichte nicht nur gehört, sondern selbst erlebt hat und tief darin verstrickt war. Es geht um ihn und seine Frau Florence sowie das Ehepaar Edward und Leonora Ashurnham. Die Paare verband eine mehrjährige, anscheinend tiefe Freundschaft. Doch der schöne Schein von Ehrbarkeit und Freundschaft trügt, wie John nach dem Tod von Florence erfahren muss. Seine Ehe mit Florence war auf Lügen aufgebaut und Florence eine Ehebrecherin. Der „gute“ Soldat und angebliche Freund Edward, den er stets bewunderte und vielleicht sogar liebte, war ein Lüstling, der mit Duldung seiner Frau Leonora zahlreiche Affären hatte, zuletzt sogar mit Florence.

    Schein und Sein ist das große Thema dieses Romans. Die Umsetzung in der Geschichte der Dowells und Ashburnhams ist an sich auch gut gelungen. Allerdings hatte ich mehr als eine Aneinanderreihung von Affären erwartet. Die Erzählweise ist zudem gewöhnungsbedürftig und erfordert große Aufmerksamkeit. Denn John Dowell ist ein sog. unzuverlässiger Erzähler. Er erzählt die Geschichte in Episoden und Fetzchen, die er nach gutdünken aneinander reiht, gerade so, wie sie ihm anscheinend einfallen. Manches greift er mehrfach auf, teils wiederholt er sich oder vertieft bestimmte Begebenheiten. Dabei kommt es nicht selten vor, dass er sich selbst bewusst oder unbewusst korrigiert oder widerspricht. Dieses Verwirrspiel ist nicht ohne Reiz und verleiht der Geschichte eine gewisse Spannung, obwohl die Rahmenhandlung recht frühzeitig klar zu sein scheint. Überzeugt hat mich der Roman dennoch nicht. Die Geschichte ist nicht besonders originell. Der Schreibstil mag zur Zeit der Erstveröffentlichung revolutionär gewesen sein, für mich war er nur ermüdend.

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  1. 4
    17. Dez 2018 

    Der Erzähler, das geheimnisvolle Wesen

    Kurz nach Ende des ersten Weltkriegs schrieb Ford Maddox Ford einen Roman, den er unter dem Titel „Die allertraurigste Geschichte“ veröffentlichen wollte. Sein Verleger allerdings konnte ihn davon überzeugen, dass dieser Titel angesichts der Grauen der gerade allgegenwärtigen Kriegserlebnisse und -folgen absolut unpassend gewesen wäre. Und so erschien der Roman zunächst unter dem Titel „The good soldier“. Als nun der Diogenes-Verlag den Roman wieder hervorholte und im Jahr 2018 neu veröffentlichte, tat er dies wieder unter dem Originaltitel. Und so haben wir sie wieder vor uns liegen: die allertraurigste Geschichte.
    Auch heute, muss ich sagen, strotzt dieser Titel vor bissiger Ironie. Die Kluft zwischen dem Erzählten und dem tatsächlichen Leid der Welt ist auch ohne einen unmittelbar zurückliegenden Weltkrieg enorm groß und so macht schon der Titel deutlich: Wir haben es hier mit einer Geschichte zu tun, in der Wahrnehmung und Realität – Dichtung und Wahrheit – sehr weit auseinanderklaffen.
    Die „allertraurigste“ Geschichte wird uns erzählt von John, der selbst zutiefst verstrickt ist in das geschilderte Geschehen. Es geht um zwei reiche Ehepaare, die sich über Jahre hinweg regelmäßig über mehrere Wochen zur Kur in Bad Nauheim treffen, wo zwei Personen der Paare ihre (angeblichen) Herzschwächen auskurieren sollen. Was sich zunächst als lockere und konfliktlose Verbindung zweier gleichgesinnter Ehepaare aus ähnlich gehobenen Gesellschaftsschichten anlässt, zeigt allerdings im Verlaufe der Handlung immer mehr erhebliche Risse, Brüche und Abgründe. Geheimnisse, Betrug, Ehebruch, Selbstmord sind einige der Elemente, die sich dem Leser in der Beziehung der vier Personen auf recht komplizierten Pfaden langsam erschließen. Kompliziert sind die Pfade dabei insbesondere durch die Erzählhaltung des Ich-Erzählers John, der u.a. alles dafür tut, seine eigene Rolle in diesem Ränkespiel zu verschleiern und zu vernebeln und auch sonst nicht interessiert ist an einer gradlinigen und informativen Erzählung des Geschehens. Ist es Unvermögen oder bewusstes Vernebeln? In der Rezeptionsgeschichte ist in dieser Hinsicht die Rede von einem „unzuverlässigen“ Erzähler, was die Sache sehr gut beschreibt. So hat der Leser ständig damit zu kämpfen, bewerten zu müssen, was er glauben kann und was er besser nicht für bahre Münze nimmt. Das macht die Lektüre sehr sperrig und eigenwillig. Leicht geht sie einem jedenfalls nicht von den Seiten.
    Auf der anderen Seite aber baut sich dadurch auch eine Spannung auf, die der Lektüre einen ganz besonderen, wenn auch widerspenstigen Reiz gibt. Wer möchte sich schon gern von einem Buch und seinem Erzähler an der Nase herumführen lassen? Da gibt es dann zwei Reaktionen, die auch wohl beide in unserer Leserunde bei Whatchareadin zu beobachten waren:
    Entweder man sagt: Das lasse ich doch nicht mit mir machen! Das heißt dann, man gibt auf und lässt sich nicht weiter auf die Lektüre ein. (Ich finde, eine durchaus verständliche Reaktion.)
    Oder man sagt: Den Erzähler werde ich schon noch irgendwann „knacken“, sprich durchschauen. Das heißt, man kämpft, hält durch und kann durch dieses Ringen mit einer fiktionalen Figur eine ganz besondere Freude und einen ganz besonderen Genuss an der Lektüre finden. (Ich bin froh, dass ich es letztendlich zu dieser letzteren Reaktion geschafft habe, auch wenn es , zugegebenermaßen, nicht immer leicht war.)
    Die Geschichte und die Figuren bleiben zudem bis zum Ende relativ platt. Ich fühlte mich stark erinnert an die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, in der der Typus des „überflüssigen Menschen“ immer wieder beleuchtet wird. Solche „überflüssigen Menschen“ finden sich dort vor allem als Landadlige, dessen einzige Aufgabe darin besteht, ihre leibeigenen Bauern, die es im Grunde nur noch wegen einer längst überholten Gesellschaftsordnung gibt, zu verwalten und auszunutzen. Aus der Zeit gefallene Menschen, die ihre Nutz- und Zwecklosigkeit durchaus auch selbst verspüren und an der Sinnlosigkeit ihres Lebens verzweifeln. Das führt bei ihnen sehr oft dann zu einem Dahintreiben in einem Leben voller Langeweile und Sinnsuche. Eine ähnliche Situation sehe ich hier bei allen Hauptfiguren, John, Florence, Edward und Leonora, die sich ständig um sich selber drehen und kreisen, und so in Melancholie und Tristesse versinken.
    So ist die erzählte Geschichte und die vermittelte Stimmung alles andere als ein Lesegenuss und doch komme ich am Ende zu einem positiven Lesefazit: Ein literarisch exzellent geschriebenes Experiment rund um eine ganz besondere Erzählhaltung, der ich gern 4 fette Sterne gebe.

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  1. Spiel mit der Wahrheit

    Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um einen Klassiker, der erstmalig 1915 unter dem Titel „The Good Soldier“ erschien, bald jedoch in „The saddest Story“ umgetauft wurde. Diogenes hat dieses Werk im November 2018 neu übersetzen lassen und in ockerfarbenem Leinen gebunden und im wunderschönen Schmuckschuber auf den Markt gebracht. Ein wahrer Schatz für Buchliebhaber!

    Vorangestellt ist „Ein Brief als Zueignung“ adressiert an Stella Ford (Ehefrau). Der Roman selbst ist in vier Teile geteilt. Julian Barnes hat ein Nachwort verfasst, das hilft, den gewonnenen Leseeindruck zu ergänzen und zu verstehen.

    Bereits der erste Satz: „Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe“, hat eine Faszination. Man möchte weiter lesen und erfahren, was es mit dieser besonderen Geschichte wohl auf sich hat. Doch bereits auf der ersten Seite wird man auch verwirrt: „Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wussten wir auch wieder gar nichts von ihnen.“ Diese Widersprüche haben Methode, schnell wird klar, dass wir es mit einem höchst unzuverlässigen Erzähler zu tun haben. Diese ungewöhnliche Konzeption macht einen großen Reiz des Buches aus.Das muss man mögen, um das Buch zu mögen.

    Worum geht es inhaltlich?
    Der reiche Amerikaner John Dowell kommt alljährlich mit seiner (angeblich) herzkranken Frau Florence nach Bad Nauheim zur Kur. Seit 9 Jahren treffen sie dort regelmäßig das englische Ehepaar Edward und Leonora Ashburnham, mit dem sie die Sommer verbringen. Zunächst wird der Eindruck vermittelt, dass es sich bei den Ashburnhams um vortreffliche, tugendhafte Menschen handelt. Das relativiert sich schnell, da man schon auf den ersten Seiten darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass sowohl Florence als auch Edward nicht mehr am Leben sind und ihr Tod offensichtlich miteinander in Zusammenhang steht.

    John Dowell berichtet über die Freundschaft der Paare und über vergangene Ereignisse, er hat aber keinen stringenten Erzählfluss. Vielmehr überlässt er sich seinen sprunghaften Erinnerungen. Manches hat er selbst erlebt, manches hat er tatsächlich nur gehört. Für den Leser ergibt sich auf diese Weise ein recht anspruchsvolles Puzzlespiel. Oftmals muss man feststellen, dass doch nichts so war, wie es zunächst schien. Der Erzähler bezieht zuweilen auch den Leser mit ein, erklärt seine Vorgehensweise und entschuldigt sich mitunter dafür.

    Hauptmann Ashburnham ist wahrlich nicht der edle Charakter, als der er zunächst vorgestellt wurde. Nach und nach wird deutlich, dass er dauernd wechselnde Liebschaften unterhält, mit denen er seine Frau betrügt. Leonora erträgt das unter anderem deshalb, weil ihr als gläubiger Katholikin die Ehe als unauflöslich gilt. Ferner ist ihr Gatte ein Verschwender, den sie schon vor dem Ruin retten musste. Edward macht auch vor Florence nicht halt, beide haben über Jahre ein Verhältnis, das im Zusammenhang mit deren frühem Tod stehen muss…

    Doch Florence ist kein Opfer. Sie ist gar nicht herzkrank, sondern benutzt die Krankheit unter anderem dazu, um sich von ihrem Mann pflegen zu lassen und keinen Sex mit ihm haben zu müssen. John ist der Stoiker, er ist die Tatenlosigkeit in Person, Dinge geschehen mit ihm, er scheint selbst keine Motivation zu haben. Er ist nur am Leiden. Leonora wiederum ist eine Ränkeschmiedin, der die Wahrung des äußeren Anscheines enorm wichtig ist. Dafür geht sie über Leichen.

    Die Beziehungen dieser vier Personen untereinander bilden den Kern der Geschichte. Dowell lässt sie für uns noch einmal Revue passieren. Es geht um Affären, Untreue, Heuchelei. Er suggeriert uns permanent Scheinwahrheiten, die sich nur teilweise auflösen. Erlittene Verletzungen werden aus meiner Sicht unrealistisch übertrieben, in die eigenen Gefühle wird sich tief hineinbegeben – man hat ja sonst nichts, um das man sich kümmern müsste. Das Leben dieser zwei wohlhabenden Ehepaare erscheint unglaublich banal. Am Rande tauchen auch Figuren aus der arbeitenden Klasse auf, deren Schicksal interessiert aber nicht. Es dreht sich alles um die Dowells und die Ashburnhams.
    Für Personen, die in deren Machenschaften hinein gezogen werden und deren Leben sich dadurch drastisch verändert, hat man keine Empathie. Nach und nach fügen sich die Puzzleteile ineinander und am Ende hat der Leser das gesamte Bild und weiß, was alles passiert ist und warum…

    Meine Bewertung:
    Vermutlich ist der Roman eine Gesellschaftsstudie, die klare Kritik an der Nutzlosigkeit der Reichen ihrer Zeit üben will. Ich fand das vorliegende Schreibkonzept des unzuverlässigen Erzählers spannend, wissentlich hatte ich bisher keine Erfahrungen damit. Mir hat auch die mitunter poetische Sprache sehr gut gefallen.

    Leider konnte mich die Geschichte an sich nicht erreichen. Ich hatte keine Freude an den permanenten Widersprüchen, den Übertreibungen, an den Scheinwahrheiten, an den Irrwegen, auf die der Autor den Leser führt. Mich haben die Sprünge in der Erzählung überfordert, ich empfand das Lesen des Romans unendlich anstrengend, die übertriebenen Seelenqualen und die Ich-Bezogenheit der Figuren hat mich nahezu angewidert. Deshalb kann ich keine uneingeschränkte Leseempfehlung geben.

    Viele in unserer Leserunde hatten Freude am Lesen. Deshalb möchte ich zu dem Resümee kommen: „Die allertraurigste Geschichte“ ist vielleicht ein gutes Buch – nur nicht für mich.

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  1. 2
    10. Dez 2018 

    Verwirrende Verhältnisse

    Worum es geht
    In den Jahren vor dem 1. Weltkrieg verbringen zwei Ehepaare, die Ashburnhams und die Dowells, ihre Sommerfrische regelmäßig in Bad Nauheim, ehe tragische Ereignisse diese vermeintliche Idylle zerstören. John Dowell, der die Geschichte aus seiner Sicht erzählt, erkennt erst nach dem Tod seiner Frau Florence deren wahren Charakter. Aber auch Edward Ashburnham ist nicht der moralisch tadellose Offizier, der er zu sein vorgibt.

    Wie es mir gefallen hat
    Der Inhaltsangabe nach habe ich mir eine spannende Geschichte erwartet, große Gefühle, heftige Leidenschaften, einen dramatischen Schlussakkord, und das alles auf hohem sprachlichem Niveau.
    Angefangen hat das Buch auch gar nicht schlecht, eher geheimnisvoll, voller Andeutungen seitens des Erzählers, die die Neugier des Lesers wecken. Bald aber wird klar, dass nichts von dem zutrifft, was ich mir erhofft habe. Gewiss passieren Tragödien, der Erzähler erwähnt sie aber fast wie nebenbei, so als würde er von der Wetterlage oder einer Menüfolge berichten. Es ist ihm überhaupt nicht gelungen, mich emotional am Geschehen zu beteiligen, es gab keine Figuren, die meine Sympathie fanden, niemanden mit dem ich mitleben und mitleiden konnte. Fern und fremd, fast theatralisch in ihrem Verhalten, irrlichtern sie durch die Seiten, weshalb es mir auch nicht möglich war, sie mir als fühlende, liebende Wesen vorzustellen.
    Gewiss verliefen Ehen vor 100 Jahren anders als heute, waren unglückliche Frauen Gefangene ihres Standes, mussten Geliebte und Lieblosigkeiten ertragen - und doch ließe sich diese Realität wohl auch lebensnäher darstellen. Genauso eigenartig wie die Protagonisten waren auch die Nebendarsteller, die eigentlich Hauptdarsteller hätten sein sollen, Edwards zahlreiche Geliebte oder Florences Liebhaber. Weder den Ehebrechern noch den Betrogenen konnte der Autor Profil verleihen, keiner vermag das Herz des Lesers zu berühren.
    Stilistisch gesehen hat mir der Roman ebenfalls nicht zugesagt. Die Sprache war mir zu gefühllos und zu distanziert, weder Wärme, noch Anteilnahme, aber auch keine Wut oder Trauer spricht aus den Worten des Erzählers, der zugleich ja auch Beteiligter war.
    Bestimmt war diese Geschichte nicht die allertraurigste, wohl aber die allerseltsamste, die ich je gelesen habe.

    © Sylli

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  1. Unzuverlässiger Ich-Erzähler

    "The Good Soldier" heißt der Roman im Original, 1913 hat Ford begonnen ihn zu schreiben. In der Zueignung, ein Brief an seine Frau, erklärt er, es sei aus seiner Sicht sein bester Roman aus der Vorkriegszeit. Mit 40 Jahren habe er zeigen wollen, was er könne. Ein Freund Fords urteilt darüber, es sei der "schönste französische Roman in englischer Sprache" (11).
    Hält er dieses Versprechen?

    In der Leserunde waren wir zunächst geteilter Meinung, da der "unzuverlässige" Ich-Erzähler zu Beginn um den heißen Brei herum redet. Es scheint, als könne man seinen Ausführungen nicht vertrauen, da er sich in Widersprüche verstrickt und zunächst nicht zur Sache kommen will.

    Worum geht es?
    Der Ich-Erzähler - John Dowell aus Philadelphia, Grundbesitzer und so reich, dass er nicht arbeiten muss - verbringt über neun Jahre hinweg gemeinsam mit seiner herzkranken Frau Florence einige Wochen im Jahr in Bad Nauheim - gemeinsam mit den Ashburnhams aus England.

    "Als wir uns zum ersten Mal begegneten, war Hauptmann Ashburnham, der auf Erholungsurlaub aus Indien gekommen war, wohin er nie wieder zurückkehren sollte, dreiunddreißig Jahre; Mrs. Ashburnham - Leonora - war einunddreißig. Ich war sechsunddreißig und die arme Florence dreißig. Heute wäre Florence also neununddreißig Jahre alt und Hauptmann Ashburnham zweiundvierzig" (14).

    Gleich zu Beginn lässt der Ich-Erzähler keinen Zweifel daran, dass Florence und Edward inzwischen verstorben sind und dass "es kein Menuett [war], das wir tanzten; es war ein Gefängnis" (17).

    Was ist zwischen diesen vier Menschen geschehen? Es kristallisiert sich heraus, dass der Ich-Erzähler nach dem Tod seiner Frau sukzessive von Edward, aber vor allem von Leonora die Wahrheit über die Ehe der Ashburnhams erfährt, die nicht das ist, was sie zu sein scheint.

    "Ich weiß nicht, wie ich die Sache am besten niederschreibe - ob es besser ist zu versuchen, die Geschichte von Anfang an zu erzählen, als wäre sie eine Geschichte; oder ob ich sie aus diesem zeitlichen Abstand erzählen soll, so wie ich sie von den Lippen Leonoras oder Edwards vernahm." (23)

    Zunächst erzählt er vom Zusammentreffen mit den Ashburnhams - in Rückblicken erfahren wir etwas über seine eigene Ehe, über Florence Motive ihn zu heiraten und über das Entstehen ihrer Verbindung, die an sich schon sehr traurig ist. Denn Liebe ist nicht im Spiel. Keine der Beziehungen verläuft glücklich, so dass der Titel durchaus zutreffend ist.

    Leonora, die ihren Mann verehrt und aufgrund ihres katholischen Glaubens an der Ehe festhält, bemüht sich verzweifelt ihn zurückzuerobern, obwohl Edward - wie der Ich-Erzähler ausführlich schildert - sie mehrfach betrügt und sich ernsthaft seinen Leidenschaften hingibt.

    Tragisch ist die Beziehung zu dem Mündel, dass er und Leonora aufgenommen haben, so dass am Ende nicht "einer von uns (...) bekommen (hat), was er eigentlich wollte." (270)

    Hinzu kommt Edwards Verschwendungssucht, die Leonora einzudämmen versucht, so dass dies zu weiteren Konflikten in der Ehe führt, die keine mehr ist. Der Ich-Erzähler schwankt in seiner Beschreibung und Einschätzung Leonoras, deren Handlungsweise am Ende, wenn man denn Dowell glauben kann, überrascht - nicht im positiven Sinne.

    Bewertung
    Feinfühlig legt der Ich-Erzähler die Sicht auf das Geschehen aus mehreren Perspektiven dar und verleiht allen seine Stimme - auch der jungen Nancy, die er selbst nach Florence Tod heiraten will.

    Seine eigenen Gefühle schwanken beim Erzählen ebenso wie seine Bewertungen. Einerseits liebt er Florence, will sie beschützen, dann hasst er sie. In Edward sieht er einen empfindsamen Menschen, gleichzeitig wirft er ihm vor, Florence getötet zu haben. Leonoras Verhalten bezeichnet er als grausam, aber er zeigt auch Verständnis für sie. Während er die Geschichte niederschreibt - im Verlauf des Erzählens - werden die Zusammenhänge für die Leser*innen klarer, als hätte der Ich-Erzähler über das Schreiben zu seiner Sicht auf die Dinge gefunden.

    Julian Barnes bringt es im Nachwort auf den Punkt:
    "[Der Roman] spielt mit dem Leser, während er die Wahrheit offenbart und verbirgt. Und Ford hat auch darin Großes geleistet, dass er die perfekte Stimme für paradoxes Erzählen fand." (301)

    Diese Erzählweise ist einerseits sehr anstrengend, da Dowell unzuverlässig und mit vielen Sprüngen, Rückblenden und Wiederholungen erzählt, andererseits macht sie auch den Reiz dieser Geschichte aus, die von unglücklichen und tragischen Liebesbeziehungen erzählt, in denen die Protagonisten gefangen sind. Unter ihnen der Ich-Erzähler, der sich als neutraler Beobachter gefällt und seltsamerweise die größte Sympathie für den Ehebrecher Edward hegt - ob sich dahinter eine homoerotische Neigung versteckt?

    "Gibt es ein Paradies auf Erden, wo die Menschen unter flüsternden Olivenbäumen mit denen zusammen sein können, die sie liebhaben, und bekommen, was sie möchten und sich´s in Schatten und Kühle wohl sein lassen dürfen?" (271)

    Aus dieser Bemerkung spricht der Wunsch den Konventionen zu entgehen, obwohl der Ich-Erzähler betont, es bedürfe der Normalen, wie Leonora, damit die Gesellschaft bestehen bleibe, gleichzeitig gibt er zu, dass er die Gesellschaft nicht sehr mag und der freien Liebe nicht das Wort rede (vgl. 288). Er überlässt es den Leser*innen sich ihr Urteil zu bilden.

    Keine leichte Kost, trotzdem und gerade deswegen lesenswert.

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