Die Abtrünnigen

Sansibar! Ein Archipel vor Afrikas Ostküste, einst ein Sultanat, Umschlagplatz für Gold, Elfenbein und Sklaven, heute ein halbautonomer Teilstaat der Republik Tansania. Aber die Inselgruppe ist auch Schauplatz im neuesten Roman von Abdulrazak Gurnahs "Die Abtrünnigen".
Der nobelpreisgekrönte Autor beschreibt in seinen Werken die Geschichte seiner (tansanischen) Heimat, ihrer kolonialen Vergangenheit und deren Folgen von Heimatlosigkeit und Zerrissenheit. Er verknüpft die Geschicke zweier Familien miteinander, indem der seine beiden Hauptakteure gesellschaftlich geächtete Liebschaften eingehen lässt. Mit dem zeitlichen Abstand der zwei Ebenen, baut er gekonnt die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der ostafrikanischen Länder ein, konzentriert sich aber auf die unmittelbaren Auswirkungen der zwei Familien und verknüpft sie schließlich nach Jahrzehnten (2 Generationen) wieder miteinander.
Der erste Teil entführt den Leser in die Zeit um Neunzehnhundert, als noch ein osmanischer Sultan, zusammen mit den Briten die Handelswege mitbestimmte und die Bevölkerung Sansibars zwar bunt gemischt, in ihrem Alltag und Vierteln aber doch strikt getrennt waren. In dieser Zeit taucht ein hilfloser Orientalist im Ort auf und wird von der Kaufmannsfamilie gesund gepflegt. Dabei verliebt sich die Schwester des Kaufmanns in diesen britischen Ausländer und geht schließlich mit ihm nach Mombasa, wo sie letztendlich von ihm verlassen wird. Ihre Ehre ist beschmutzt.
Im zweiten Teil folgen wir drei Geschwistern in den 1950er Jahren, deren mittlerer Bruder sich in eine Frau verliebt, von der es heißt, dass sie indisches Blut in ihren Adern habe und deren Urgroßmutter einst einen Skandal auslöste. Der Kontakt zu dieser Frau wird dem Bruder untersagt und als er sich über alle Konventionen hinwegsetzten will, geschieht im Zuge der ploitischen Umwälzungen ein Unglück, dass eine erneute Annäherung unmöglich macht.
Es ist schon eine kleine Überraschung, wie diese beiden Schicksale miteinander verknüpft werden, man ahnt es zwar, aber nicht den Weg dorthin. Doch nicht diese fast schon kitschig anmutenden Lovestorys ohne happy End macht dieses Buch lesenswert, sondern die vielen kleinen Beobachtungen am Rande des Geschehens, die sehr eindringlich, manchmal aber auch etwas verwirrend daherkommen. Die Zeit, die zwischen den beiden Handlungen liegt, lassen deutlich die Veränderungen spüren, die aus einst auskömmlichen und zufriedenen Menschen, die offen über Grenzen handeln und reisen konnten, verängstigte Vertriebene gemacht hat, die nur auf dem Papier die Unabhängigkeit erlangt hatten. Eines aber hatte sich über all die Jahre nicht geändert, wer über die Toleranzgrenzen überschritt, war ein Abtrünniger.
Die Lektüre verlangt ein wenig Konzentration, denn sie erzählt viele Geschichten, die wichtig und würdig sind. Aber man kann sich auch fallen lassen und nur die Erzählung zweier großer Lieben genießen.
„Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht nur uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ (Zitat Seite 182)
Inhalt
Ende des 19. Jahrhunderts findet in einer kleinen ostafrikanischen Stadt der Krämer Hassanali eines Tages im Morgengrauen einen stark geschwächten Mann. Martin Pearce ist Engländer und als er später zurückkommt, um sich für seine Rettung zu bedanken, verliebt er sich in Rehana, Hassanalis Schwester. Eine Liebe, die nicht nur ein Skandal, sondern auch streng verboten ist. Mitte des 20. Jahrhunderts verliebt sich der junge Amin in Jamila, einige Jahre älter als er, eine geschiedene Frau, die auf Grund ihrer Unabhängigkeit und ihrer angeblich zweifelhaften Herkunft im Mittelpunkt von Gerüchten steht. Auch diese Liebe wäre ein Skandal, käme sie an die Öffentlichkeit. Amins Eltern bedrängen ihn wegen der drohenden Schande und der gesellschaftliche Ächtung, die er über die Familie bringen würde. Rashid, Amins jüngerer Bruder, will der Enge der Heimat entfliehen und plant zu dieser Zeit bereits seine Reise nach London, wo er bereits an einer Universität aufgenommen wurde. Trotz der Ablehung und Ausgrenzung, mit der man ihm begegnet, bleibt er nach dem Abschluss seines Studiums in England. Doch die Geschichte von Amin und Jamila beschäftigt ihn auch noch viele Jahre später, und er beginnt mit Nachforschungen.
Thema und Genre
Dieser außergewöhnlich facettenreiche Roman spielt in Ostafrika und England, und ist sowohl ein Familienroman, als auch ein Generationenroman. Themen sind Kolonialismus, Unterdrückung, Ausgrenzung, gesellschaftliche Traditionen, Politik, Heimat und Fremde, Liebe und Trennung.
Charaktere
Es sind unterschiedliche Charaktere und ebenso unterschiedlich ist ihre Art, mit äußeren Zwängen und dem Druck gesellschaftlicher Regeln und Wertvorstellungen umzugehen, und trotz aller Widerstände ihren Platz im Leben zu suchen.
Handlung und Schreibstil
Die Handlung wird in neun Abschnitten erzählt, wobei jeweils eine Person im Mittelpunkt steht, die dem jeweiligen Abschnitt den Titel gibt und wo es vor allem um die jeweilige persönliche Lebenssituation, die Vergangenheit, Erfahrungen und Konflikte geht. Der Autor nimmt sich Zeit und schildert nicht nur die Ereignisse und das Leben der einzelnen Protagonisten, sondern auch das Umfeld, das Alltagsleben der Menschen, die politische Situation dieses Teiles von Ostafrika unter den Engländern, und später während der Umstürze, nachdem Sansabar Ende 1963 unabhängig geworden war. Es ist Rashid, der die Geschichte erzählt, doch er präzisiert: „Es gibt, wie Sie sehen, ein Ich in dieser Geschichte, aber es ist keine Geschichte über mich. Es ist eine Geschichte über uns alle, über Farida und Amin, über unsere Eltern und über Jamila.“ (Zitat Seite 182). So folgen wir fasziniert und gespannt einem Zeitrahmen etwa einhundert Jahren, pendeln zwischen Afrika und England und sind keine einzige Minute gelangweilt.
Fazit
Abdulrazak Gurnah ist ein leiser, aber eindrücklicher Erzähler, er klagt nicht an, sondern beleuchtet alle Graubereiche der Geschichte und der Menschen, und dies alles in einer wunderbar zu lesenden Erzählsprache.
Familiengeschichte - Ostafrika und Sansibar - viele Themen: Kolonialismus, Vorurteile, Emanzipation von Frauen, Heimatverlust u.a.
'Es ist eine Geschichte über uns alle … ' - 'Eine Geschichte erzählt viele Geschichten' (182)
Wie passend ist dieses Zitat aus dem Buch! Zuerst sind wir Ende des 19. Jahrhunderts an der Ostküste Afrikas, in Mombasa und nördlich davon. Wir lernen Hassanali und seine Schwester kennen, ihr Familienleben und ihren Alltag, der vom Kolonialismus der Briten geprägt ist, verkörpert durch den arroganten, vorurteilsbeladenen Beamten Frederick. Gegenpol ist der britische Orientalist Pearce, der von Hassanali erschöpft gefunden und in Obhut genommen wurde. Dadurch lernt er dessen Schwester Rehana kennen und sie verlieben sich ineinander, eine unmögliche Liaison in der damaligen Zeit und in dieser Gesellschaft mit ihrem Ehrenkodex.
Leider erfahren wir davon erst mal nichts weiter, auch nicht von den Problemen mit dem Kolonialismus, sondern es mischt sich mitten im Buch ein Ich-Erzähler ein, der die Geschichte seiner Familie erzählen möchte. Er weiß nicht alles und muss Vermutungen anstellen und Möglichkeiten erfinden, wie es gewesen sein könnte. Teilweise sehr ausführlich, teilweise gerafft, erfahren wir die Geschichte von Farida und den Brüdern Amin und Rashid (der Ich-Erzähler) und ihrem Leben auf Sansibar.
Während Rashid nach Großbritannien geht und ein Studium beginnt, bleibt sein Bruder Amin bei den Eltern und trauert seiner Liebe Jamila nach, die ihm von den Eltern verboten wird. Hier wird endlich eine Verbindung zu den vorher ausführlich dargestellten Personen aufgezeigt.
Hatte ich anfangs den Eindruck, dass es um Kolonialismus geht, sind es viele Themen, die angerissen und für mich nicht zufriedenstellend dargestellt werden: Vorurteile, auch innerhalb der afrikanischen Gesellschaft, Vorstellungen von Ehre und Familie, Emanzipation von Frauen, ihre Stellung in der Gesellschaft, Heimatverlust und Entfremdung. Etwas mehr Konzentration auf eines der Themen – die anderen vielleicht nebenbei – wäre mir lieber gewesen. So fühlte ich mich hin- und hergerissen und vermisste 'den roten Faden'.
Ein wenig konstruiert erscheint ein Zufall am Ende des Buches, der allerdings versöhnlich wirkt und einen positiven Aspekt in die ansonsten traurigen Geschichten bringt.
Wenn auch mir die die Erzählweise, die zwischen allzu ausführlich und allzu gerafft wechselt, nicht besonders gefallen hat, muss ich doch Abdulrazak Gurnah doch objektiv zugestehen, dass er gut schreiben kann. Anderen wird das Buch sicher gefallen, mir leider nicht besonders.
Die Abtrünnigen - englisch „Desertion“, das Verlassen - spielt in zwei Zeiträumen – 1899 und Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Roman beginnt in einer kleinen Stadt an der ostafrikanischen Küste nördlich von Mombasa. Hassanali, ein lokaler Krämer, findet vor der Moschee einen bewusstlosen britischen Offizier, Martin Pearce, und nimmt ihn mit nach Hause, um sich um ihn zu kümmern. Infolge werden Martin und Hassanalis Schwester Rehana, gegen alle gesellschaftlichen Regeln, ein Liebespaar. Faszinierend der Einblick in die überwiegend muslimische Gesellschaft Sansibars, eine überraschend kosmopolitische Region mit Menschen aus der arabischen Welt, Afrika und Indien.
Zwischen den beiden Teilen des Romans gibt es einen Bruch, ein „Gedankliches Zwischenspiel“, das alles, was bislang erzählt wurde, relativiert. Als Erzähler des Romans gibt sich ein junger Mann namens Rashid zu erkennen, ein in Großbritannien lebender Sansibar-Exilant. Rashid hatte nur wenige Fakten. Was wir soeben gelesen haben und so glaubwürdig fanden, hat lediglich diese Fakten extrapoliert. Eine an der Stelle ziemlich ernüchternde Dekonstruktion.
Im zweiten Teil des Romans, der kurz vor der Unabhängigkeit Sansibars spielt, ist Rashids Bruder Amin eine Beziehung mit Jamila eingegangen, die sich als Rehanas Enkelin herausstellt. Rashids Familie zwingt seinen Bruder, Jamila nicht mehr zu sehen, wovon Amin sich nie mehr erholen wird. Rashid geht nach England, um zu studieren. Hier befindet er sich in der erzählten Gegenwart immer noch.
Worum geht es nun in diesem Roman? Das große Thema ist die Kolonialisierung Sansibars, Gurnahs Geburtsort. Aber Gurnah wäre nicht Gurnah, wenn er seinem Thema nicht mehr Resonanz verleihen würde: Es geht um Geschichte und die Geschichten, die wir uns erzählen. Warum lässt Amin sich seine große Liebe verbieten? Warum geht Rashid nach England? Warum fühlen sich die Kolonialherren zu ihrer Handlungsweise berechtigt? Was können wir wissen, wenn Geschichte von den Siegern geschrieben wird? Es sind die Zuschreibungen in Gesellschaft und Familie, es sind die nationalen Narrative, die das Handeln und das Leben der Menschen beeinflussen.
Rashids Geschichte im Exil ist eine der Ausgrenzung. „…die erste Lektion, die mir in London erteilt wurde, war, mit der Geringschätzung der anderen leben zu lernen. […] So musste ich also […] begreifen, […] wie tief die Geschichten über unsere Minderwertigkeit und die Angemessenheit der europäischen Oberherrschaft in […] die Welt eingegraben waren.“ Aufgrund der Sansibar-Revolution kann er nicht einmal in sein Heimatland zurückkehren. Seine Erfahrung als Exilant wird sehr eindrücklich beschrieben.
Das zweite Thema des Romans ist das Verlassen und Verlassenwerden, wie schon der Titel „Desertion“ suggeriert. (Der deutsche Titel ist aus meiner Sicht irreführend). Rehana wird verlassen, Jamila ebenso. Rashid verlässt seine Familie, Großbritannien entlässt (verlässt?) Sansibar und Tansania in die Freiheit, worauf das Drama des Bürgerkrieges sich entrollt. Rashid wird von seiner britischen Ehefrau verlassen und fühlt sich heimatlos und verlassen im Exil. „Desertion“ ist eine Geschichte des Verlustes, des Verrats, der Einsamkeit und der Trauer.
Die Struktur des Romans mit seinen zwei Teilen, die zunächst unverbunden erscheinen, habe ich als durchaus herausfordernd empfunden. Gurnah bricht immer wieder die Fiktion und schafft eine Fiktion in der Fiktion, so dass Historisches, Fiktionales, Persönliches und Gesellschaftliches sich höchst kunstvoll vermischen und durchdringen, aber auch eine gewisse Inkohärenz und Distanz erzeugen.
Dennoch hat der Text mich gefesselt und beeindruckt. An keiner Stelle lässt Gurnah sich dazu verleiten, Klischees zu vertiefen; das Bild, das er malt, hat Licht und Schatten, vor allem aber eine Vielzahl an Grautönen. Dazu passt das versöhnliche Ende des Romans. Erst als Rashid auf eine Nachfahrin von Martin Pearce stößt und sich die Geschichten beider Familien dadurch zu einem gemeinsamen Narrativ vereinen, scheint es so etwas wie Zukunft in seinem Exil zu geben.
Nicht Gurnahs stärkster Roman, aber dennoch herausragend in seiner Vielschichtigkeit.
Familien- und Liebesgeschichten mit kolonialen Hintergrund
Als 2021 der 1948 auf Sansibar geborene Autor Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis bekam, kannte ihn hierzulande kaum jemand, Das hat sich, nachdem nun vier Romane von ihm auf Deutsch vorliegen, mittlerweile geändert. „ Die Abtrünnigen“ erschien schon 2006 auf Deutsch und liegt nun in einer Neubearbeitung vor.
„ Es ist eine Geschichte darüber, dass eine Geschichte viele Geschichten enthält und dass sie nicht uns gehören, sondern Teil der zufälligen Strömungen unserer Zeit sind. Und es ist eine Geschichte darüber, wie wir uns in Geschichten hineinverstricken und für alle Zeit darin gefangen bleiben.“ so heißt es im Roman.
Abdulrazak Gurnah erzählt uns hier nicht nur von der Geschichte Sansibars, seiner früheren Heimat, sondern er erzählt sehr viele Geschichten : von den Menschen, die dort lebten und von solchen, die weggingen und auch die Geschichte von zwei unglücklichen Liebespaaren.
Es beginnt im Jahr 1899 in einer kleinen ostafrikanischen Küstenstadt. Der Krämer Hassanali findet frühmorgens einen weißen Mann, einen Mzungu, auf den Stufen der Moschee. Er nimmt ihn mit zu sich nach Hause und kümmert sich um ihn. Der Weiße, ein Orientalist namens Martin Pearce, verliebt sich dabei in die Schwester des Krämers und die sich in ihn. Eine verbotene Liebesbeziehung beginnt, die natürlich zum Scheitern verurteilt ist. Pearce wird nach England zurückkehren und Rehana mit einem Kind zurücklassen.
Hatten wir es bisher mit einem auktorialen Erzähler zu tun, der bilderreich und detailliert das bunte Leben der verschiedenen Kulturen aufblättert, so erfahren wir in einem sog. „ Gedanklichen Zwischenspiel“ wenig von der eigentlichen Liebesgeschichte. Hier spinnt ein Ich- Erzähler verschiedene Möglichkeiten durch, wie es zu dieser unerlaubten Beziehung zwischen einem Kolonialbeamten und einer Einheimischen kommen konnte.
Im zweiten Teil überspringt der Roman eine Generation und wir sind nun in den frühen 1960er Jahren auf Sansibar.
Auch hier entwickelt sich eine Liebe, die nicht sein darf und zwar zwischen dem jungen Studenten Amin und der etwas älteren geschiedenen Jamila. Sie ist die Enkelin Rehanas und deren Ruf als gefallene Frau haftet Jamila immer noch an. Rashids Eltern sind strikt gegen die Beziehung ihres Sohnes zu dieser selbstbewussten Frau mit fragwürdigem Hintergrund. Sie verbieten ihm jeglichen weiteren Kontakt und Amin als folgsamer Sohn hält sich daran. Es bricht ihm zwar das Herz, doch sich auflehnen gegen die Wünsche und Erwartungen der Eltern vermag er nicht.
Im dritten und letzten Teil des Romans kommt Rashid, der jüngere Bruder Amins, als Ich- Erzähler zu Wort. Er war es auch, der sich in dem „ Zwischenspiel“ seine Gedanken machte.
Rashid hat es, kurz vor der Unabhängigkeit Sansibars, mit einem Stipendium nach England geschafft. Er studiert in London, promoviert, macht Karriere als Hochschullehrer und wird nie mehr in seine Heimat zurückkehren.
Dort erlebt die Familie nach der Revolution einen gesellschaftlichen Absturz. Der Vater verliert seine Arbeit als Lehrer; es folgt ein Leben in Armut und Angst.
Doch auch Rashid hat mit einigen Widrigkeiten zu kämpfen. Ihm schlagen in England Missachtung und offener Rassismus entgegen. „ Aber die erste Lektion, die mir in London erteilt wurde, war, mit der Geringschätzung der anderen leben zu lernen….Wie viele Menschen in ähnlichen Umständen begann ich mich selbst mit wachsender Abneigung und Unzufriedenheit zu betrachten, begann mich, mit ihren Augen zu sehen.“
In der Figur des Rashid hat Gurnah eigene Erfahrungen und Erlebnisse verarbeitet.
„ Desertion“ heißt der Roman im Original. „Fahnenflucht“ bringen wir mehr mit Krieg und Militär in Verbindung , deshalb ist der deutsche Titel „ Die Abtrünnigen“ treffend. Abtrünnig verhalten sich hier viele. Nicht nur die Liebenden verlassen einander wegen kolonialem Denken oder falsch verstandenem Ehrenkodex. Auch Rashid fühlt sich als Abtrünniger, als er seine Heimat für immer verlässt. Und letztendlich verhält sich England abtrünnig, als es seine Kolonie unvorbereitet in die Freiheit entlässt.
Abdulrazak Gurnah hat auch hier wieder einen komplexen Roman vorgelegt. Dabei zeichnet er ein breites Panorama seiner Heimatregion vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Unabhängigkeit in den 1960er Jahren. In vielen Bildern und Episoden lässt er die vergangene Welt lebendig werden, dieses Vielvölkergemisch mit seiner unterschiedlichen Kultur und Lebensart. Und später erlaubt er uns einen tiefen Einblick in familiäre Strukturen und den Alltag auf Sansibar Mitte des 20. Jahrhunderts.
Dabei vermeidet er Schwarz-Weißzeichnungen. Es gibt nicht nur bei den Kolonisatoren Verbote und ein Menschenbild, das dem persönlichen Glück im Wege steht. Auch einheimisches Standesdenken und das Verbot, Grenzen zu überschreiten, verhindern ein erfülltes Leben.
Bei den Engländern zeigt er offenen und brutalen Rassismus, bringt aber mit Pearce einen Gegenentwurf ins Spiel. Ihn zeichnet er als Menschen, der der ihm fremden Kultur offen und mit Respekt entgegentritt und der mit Scham das Treiben seiner Landsleute beobachtet. „ Ich glaube, wir werden unser Tun in Ländern wie diesem mit der Zeit in immer weniger heldenhaftem Licht sehen,…, wir werden uns für manches schämen, was wir getan haben.“
Gurnah packt keineswegs belehrend, sondern sehr organisch sehr viel Informationen über den gesellschaftlichen und politischen Hintergrund in die spannenden Familien- und Liebesgeschichten .
Dabei spielt er mit unterschiedlichen Erzählformen. Er lässt den Ich- Erzähler vom letzten Kapitel als den auktorialen Erzähler vom Anfang erkennen, fügt Tagebucheinträge von Jamin dazu und beleuchtet so das Geschehen von verschiedenen Seiten. Mit den Brüchen zwischen den Teilen und den Zeitsprüngen fordert er den Leser.
Doch Gurnah geht souverän mit seinem großen Stoff um und bringt am Ende alle losen Fäden zusammen.
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