Der zweite Jakob: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der zweite Jakob: Roman' von Norbert Gstrein
3.5
3.5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der zweite Jakob: Roman"

„Natürlich will niemand sechzig werden.“ Damit beginnt Jakobs Lebensgeständnis. Dem bekannten Schauspieler, über den ein Verlag eine Biografie plant, graust es vor dem Kommenden. Da stellt ihm seine Tochter die Frage, die alles sprengt: „Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?“ Jakob erinnert sich an einen Filmdreh an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Die Morde an Frauen und das Elend dort bekam er bloß distanziert mit – aber zwei Mal war er plötzlich mittendrin. Er schämt sich, ringt mit den simplen Urteilen der Welt und sehnt sich in gleißenden Erinnerungen nach dem Glück. Warum ist er kein Original, sondern stets nur „der zweite Jakob“? Norbert Gstrein schreibt einen Roman, der mitreißende, große Kunst ist.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:448
EAN:9783446269163

Rezensionen zu "Der zweite Jakob: Roman"

  1. Eine andere Art des Unglücks⁣

    Mir gefällt, wie klar, wie ruhig der Schreibstil ist, wie selbstverständlich er auch Lücken zulässt – sowohl in der Handlung als auch im Gefühlsleben des Protagonisten –, die Leser:innen dann mit den eigenen Erwartungen, Vorstellungen und Gedanken füllen können. Dabei hinterlässt Gstrein aber genug Wegmarken im Text, in Form von prägenden Beziehungen und Schlüsselelementen dieses schwierigen Lebens, dass achtsames Ergänzen nicht in belangloser Beliebigkeit endet. Ich hatte das Gefühl, diesen Mensch im Kern zu kennen, ohne die Notwendigkeit, ihn im Detail zu kennen.⁣

    “Es war Herbst, und ich irrte mit dem anhaltenden Gefühl durch meine Tage, Staub und Splitter würden in Zeitlupe unaufhörlich auf mich herunterrieseln und ich wartete auf den Knall der Explosion, die sich irgendwann ereignet haben musste, oder hatte vielleicht auch nur mein Gehör verloren.”⁣
    (Zitat)⁣

    Die Lebensgeschichte des „zweiten Jakobs“ ist durchzogen von Momenten, in denen eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, in denen er aber auf die verschiedensten Arten scheitert oder Schuld auf sich lädt. In jeder Szene schwingt eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten mit. Oft sind es seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben (er war viermal verheiratet), die im Guten wie im Schlechten als Katalysator wirken.⁣

    Die wichtigste dieser Beziehungen ist die zu seiner Tochter Luzie, die eine „Komische“ ist. Gstrein verzichtet darauf, ihre Andersartigkeit mit einer Diagnose zu versehen, beschreibt jedoch hier und dort Verhaltensweisen, die typisch sind für Menschen auf dem autistischen Spektrum. Der Protagonist liebt seine Tochter, ehrlich und bedingungslos, neigt aber gerade deswegen zu einem überbehütendem, übergriffigem Kontrollzwang, was sie betrifft.⁣

    “Ich dachte zuerst, der Laut würde von irgendwo unter dem Tisch kommen, aber dann sah ich, wie Luzie sich mit der Hand an den Mund fuhr, und obwohl sie ihre Lippen kaum bewegt hatte, konnte dieses fiepende Wehklagen nur von ihr stammen.”⁣
    »Ihr habt was, Papa?«⁣
    (Zitat)⁣

    Dass er sich gezwungen sieht, ausgerechnet ihr seinen vermeintlich größten Moment der Schuldhaftigkeit zu beichten, rückt diesen geradezu albtraumhaft in den Fokus. Sein Verhalten in diesem Augenblick war so entschlossen, so bar jeden Zögerns, dass es die Frage aufwirft: ist dies der „echte“ Jakob – das, was übrigbliebe, könne er jegliche gesellschaftliche Moralvorstellungen und Prägungen abwerfen? Ein anderer Moment, in meinen Augen noch verwerflicher als der gebeichtete, schwingt immer wieder mit, bringt ihn selber an den Rand der Verzweiflung, weil er es nicht vermag, vor der Selbsterkenntnis die Augen zu verschließen.⁣

    Seine erste Rolle als Schauspieler war die eines Frauenmörders, den er offensichtlich sehr überzeugend spielte – seither versucht er, aus dieser Schiene auszubrechen, wird jedoch immer wieder als Mörder, als Scheusal, besetzt. Er weist weit von sich, dass dies seinem Wesen entspräche, und doch fragte ich mich als Leserin immer wieder: siehst du nicht, wie nahe du diesem Scheusal in dir manchmal kommst? Nein, er ist kein Mörder, nein, er schlägt seine Geliebten nicht – aber da ist ein gewisses namenloses, undefiniertes Potenzial.⁣

    “Es gab nicht zu beschönigen an der Situation, der Alkohol, und welche Substanzen auch immer in den selbstgedrehten Zigaretten gewesen sein mochten, waren nur eine Ausrede, ich wusste genau, was da passierte, was ich tat, was ich passieren ließ, und doch folgten ein paar Augenblicke, die alles viel schlimmer machten. Das war, als ich zuerst eine Hand und gleich auch die andere in das Haar des Mädchens krallte und ihren Kopf mit beiden Händen umfasst hielt. Ich spürte ihren Schrecken, noch bevor sie in ihrer Bewegung zögerte, ich spürte, wie es ihren ganzen Körper durchschoss (…).”⁣
    (Zitat)⁣

    Die Charaktere werden meines Erachtens großartig beschrieben, ungemein prägnant. Auch hier geht Gstrein nicht ausufernd ins Detail, sondern schildert stattdessen Momente, die die Quintessenz ihres Wesens deutlich machen. Allerdings wird ausgerechnet der „erste Jakob“ – der Onkel, dessen Vornamen der Protagonist als Künstlernamen übernommen hat – beinahe vollständig ausgespart, obwohl der „zweite Jakob“ ihm übel mitgespielt hat. Erst ganz am Schluss macht sich seine Tochter Luzie auf, Onkel Jakob kennenzulernen – im Rahmen einer Reise, bei der sie die Orte und Menschen aufsucht, sofern möglich, bei denen ihr Vater Schuld auf sich geladen hat.⁣

    Fazit:⁣

    Jakob, ein bekannter Schauspieler, wird von seiner Tochter gefragt, was das Schlimmste sei, das er je getan habe. Er kennt sie zu gut, um zu versuchen, sie mit Ausflüchten abzuspeisen, obwohl er sich davor fürchtet, diese Erinnerungen wieder abzurufen und laut auszusprechen. Doch er wagt den Sprung, lässt kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag die Abgründe und Schattenwege seines Lebens im Geiste auferstehen, um vor seiner Tochter und sich selber seine Schuld anzuerkennen.⁣

    Der Autor erzählt mit dezenter Zurückhaltung, dabei aber nicht belanglos oder weniger ausdrucksstark. Jaokobs Geschichte ist komplex und lässt viel Interpretationsspielraum offen, doch klar wird immer wieder: sein Leben war eines voller Entscheidungen, die die Weichen unwiderruflich neu justieren – wenn auch manchmal nur die Weichen des eigenen Ethos. Die Leserin fragt sich: wer ist Jakob im Kern seines Wesens wirklich?⁣

    Die anderen Charaktere werden ungeschönt geschildert, dabei aber nicht überdramatisiert. Oft deutet Gstrein Wesenszüge nur an oder lässt sie indirekt, im Scherenschnitt zu Jakobs Eigenschaften gesehen, einfließen. Für mich ergaben dies in Verbindung mit dem ruhigen, klaren Schreibstil ein rundes, überzeugendes Bild.

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  1. Von innerer Leere und Einsamkeit

    Kurzmeinung: Anstrengende Nebelwanderung.

    Ein langsam alternder Schauspieler steht vor seinem 60igsten Geburtstag. Am liebsten möchte er diesem Tag aus dem Weg gehen und nicht gefeiert werden, denn, obwohl er eine bekannte Persönlichkeit ist, schwant ihm, dass er nichts Besonderes ist und keine Ehrungen verdient.

    Das Besondere an ihm, wie seine Tochter Luzie ihm unbarmherzig quasi ständig vorhält, ist einzig und allein, dass er so viel Geld geerbt hat, dass er auf die Meinung anderer pfeifen konnte. Und so hat er gelebt. Auf andere gepfiffen. Drei Ehen hat er versemmelt, die Chance auf den ganz großen Ruhm verpasst, weil er aus Dünkel die Rolle seines Lebens einem anderen überlassen hat, er war kein guter Schauspieler und hatte seiner Meinung nach nur lausige Rollen, dreimal spielte er einen ekelhaften Frauenmörder – so war er immer nur ein Günstling eines befreundeten Regisseurs und hat in einer Grenzerfahrung bei einem Film über Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze kein gutes Bild abgegeben. Daran laboriert er rum.

    Die Sache mit der Rolle des Frauenmörders geht ihm nach. Steckt etwas von diesen üblen Burschen in ihm ? Solche Fragen finde ich fragwürdig per se und esoterisch. Ich kann ihnen nichts abgewinnen. Was ein Quatsch.

    Als Vater hat Jakob offenbar versagt. Seine Tochter ist labil. Obwohl seine Tochter durchaus ein Früchtchen ist, betet er sie an. Aber früher hat er sie vernachlässigt. All seine vagen geheimen Gedanken über sich selbst, denn über etwas anderes als sich selbst denkt er niemals nach, fallen ihm auf die Füße als ein junger Schnösel ins Haus kommt, den sein Verlag damit beauftragt hat, seine Biografie zu schreiben.

    Der Biograf lässt sich weder beeindrucken noch herumscheuchen, die Abneigung der beiden ist mit Händen greifbar. Aber warum gibt seine Tochter diesem Schnösel vertrauliche Informationen?

    Der Kommentar:
    In den ersten Teilen des Buches geht der Autor beziehungsweise der Schauspieler Jakob auf seine Laufbahn ein, in weiteren kleinen Teilen erzählt er von der Liebe zu einer jungen Frau, 30 Jahre jünger als er, ganz klassisch, der alte Mann und das junge Fleisch, und zuletzt gibt es Szenen beim Arzt, die Werte sind schlecht. Dann gibt’s ein bisschen Kindheit und eine ansatzweise Aufarbeitung der Herkunft. „Ihr seids alles Faschisten“, so in etwa kommentiert der berühmte Sohn des Ortes seine Blutsverwandten. Das alles wirkt zerfasert. Und gibt kein homogenes Stück zusammen. Erklärt wird nichts. Aufgedeckt auch nicht. Alles bleibt vage und wabernd.

    Denn obwohl doch so viele Themen auf dem Tisch liegen, spannende Themen wie die Angst vor dem Altwerden und die Angst davor in die Bedeutungslosigkeit zu versinken, Identitätsprobleme, eine alte Schuld und nachlässig geführte Beziehungen, redet der Icherzähler in ausufernden larmoyanten und langweiligen Monologen vor sich hin, er arbeitet nichts auf und es gibt auch keine klugen Betrachtungen seitens des Autors. Warum ist seine Tochter suizidal? Sie hat noch mit 17 leicht bekleidet in seinem Bett gelegen. Ist da mehr dran? Warum verfolgt er sie wie ein Stalker? Warum säuft er so viel? Was denkt er wirklich von sich selbst?

    Warum erfahren wir nicht, woran seine Ehen gescheitert sind? Und saß er am Ende selber am Steuer als die junge Frau in Mexiko zu Tode kam? Andeutungen. Vermutungen. Unklarheiten.

    Diesen Roman „Der zweite Jakob“ von Norbert Gstrein, empfinde ich leider als äußerst dröge. Zäh. Und zudem wenig erhellend. Dazu kommt, dass mich das Schauspielermilieu sowie so nicht so besonders interessiert. Es sei denn, es wäre super aufbereitet, so wie zum Beispiel Anne Enrights Roman „Die Schauspielerin“.

    Die Sprache Norbert Gstreins reißt normalerweise alles raus, aber diesmal bin ich nicht einmal von der Sprache begeistert. Wenn man nichts zu sagen hat, hat man nichts zu sagen. Warum geht er nicht wenigstens einem der Fäden, die er herumliegen hat, nach, zieht daran und bringt den Fisch an Land? Don’t know. Das soll wohl Kunst sein. Der angedeutete Suizid am Schluss gibt mir den Rest. I'm not amused. No.

    Am besten passt auf die Atmosphäre des Buches ein Gedicht von Herman Hesse: „Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein, Kein Baum sieht den andern, Jeder ist allein. // Voll von Freunden war mir die Welt, Als noch mein Leben licht war; Nun, da der Nebel fällt, Ist keiner mehr sichtbar.// Wahrlich, keiner ist weise, Der nicht das Dunkel kennt, Das unentrinnbar und leise Von allen ihn trennt. // Seltsam, im Nebel zu wandern, Leben ist Einsamsein, Kein Mensch kennt den andern, Jeder ist allein.

    Fazit: Ein ziemlich ungereimter, sogar in seinem Aufbau zerfaserter Roman, der sich irgendwie nicht richtig entscheiden kann, welches Thema er bearbeiten möchte. Alle? Keins? Das Ungefähre, Vage ist sicherlich gewollt, allein, ich mag es nicht „seltsam im Nebel zu wandern“.

    Kategorie: Belletristik
    Verlag, Hanser 2021

    „Der zweite Jakob“ steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2021. Kunst liegt eben im Auge des einzelnen Lesers.

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