Der tragische Kanzler

Buchseite und Rezensionen zu 'Der tragische Kanzler' von Peter Reichel
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Inhaltsangabe zu "Der tragische Kanzler"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:464
EAN:9783423289733

Rezensionen zu "Der tragische Kanzler"

  1. Portrait eines zu unrecht vergessenen Staatsmanns

    Peter Reichel bricht eine Lanze für den "tragischen Kanzler" Hermann Müller. Der SPD-Politiker war zweimal Kanzler in der Zeit der Weimarer Republik, zuerst 1920, für gut drei Monate, dann von Juni 1928 bis März 1930. Zuvor hatte er als Außenminister die undankbare Aufgabe übernommen, den Versailler Vertrag zu unterzeichnen, was ihm lebenslänglich den Hass rechter Fanatiker eintrug. Nach dem gescheiterten Kapp-Putsch der rechten Republikgegner wurde er Nachfolger kurzzeitig Nachfolger des sich in der dadurch hervorgerufenen Krise zwiespältig verhalten habenden Reichskanzlers Bauer, ebenfalls von der SPD. Doch die Kanzlerschaft währte nur kurz, denn bei den anstehenden ersten Wahlen zum Reichstag verlor die Weimarer Koalition, vor allem die MSPD, an Stimmen. Doch Müller blieb ein wichtiger Politiker der Weimarer Republik. Er leistete zum einen einen großen Beitrag zur Wiedervereinigung von MSPD und USPD. Als SPD-Vorsitzender war er zum anderen an weiteren Regierungsbildungen/Sondierungen dazu beteiligt, bis er dann 1928 wieder Kanzler einer großen Koalition wurde. Doch auch die zweite Kanzlerschaft war von großen Belastungen gekennzeichnet, außenpolitisch ging es um die Regulierung der Reparationszahlungen durch den Young-Plan, Voraussetzung für die endgültige Räumung der von Frankreich und Belgien besetzten Gebiete in Deutschland. Gegen die Anfeindungen von rechts kam es in diesen Fragen zu einer für das Deutsche Reich durchaus positiven Entscheidung, innenpolitisch scheiterte Müller aber am Streit der Flügelparteien SPD und DVP über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, die durch die Weltwirtschaftskrise zusätzliche Brisanz bekam. Angesichts der immensen Belastungen konnte Müller, wie viele andere auch, eigentlich nur scheitern, doch daraus hat er zumindest das beste gemacht. Bescheiden mögen seine Erfolge sein, aber mehr war auch nicht zu erwarten. Durch sein Naturell hat er sich durchaus Achtung bei seinen innen- und außenpolitischen Gegnern verschafft, sieht man mal von den Extremisten von links und rechts ab, die ihn über den Tod hinaus verachteten.

    Peter Reichel gebührt der Verdienst, diesen zu unrecht weitgehend vergessenen Politiker der Weimarer Republik in angebrachte Erinnerung zu rufen. In Detailfragen kann man allerdings bisweilen anderer Ansicht als Reichel sein, so etwa bei der Darstellung der Vorgeschichte des Versailler Vertrags. Auch Reichel rügt zu recht das Verhalten des Vorgängers Müllers als Außenminister, Graf Brockdorff-Rantzau, der absichtlich den diplomatischen Fauxpas beging, während seiner Erklärung zur Vertragsübergabe sitzen zu bleiben. Doch ob ein klügeres Verhalten angesichts des virulenten Hasses nach dem Weltkrieg einen für Deutschland günstigeren Vertrag ermöglicht hätte, darf meiner Ansicht nach bezweifelt werden. Und was Reichels mehrfach geäußerte Kritik an der angeblichen Kompromissbereitschaft der SPD betrifft: Wie weit soll eine Partei im Sinne der Staatsraison mit der Selbstverleugnung gehen? Drei Mal (!) stellte die Reichstagsfraktion die Parteihaltung über das Staatsinteresse, beim ersten Mal wegen der Ungleichbehandlung der Reichsländer Sachsen und Bayern im Punkt Radikalismus (im linken Sachsen kam es zur sogenannten Reichsexekution, im rechten Bayern konnten sich Rechtsradikale munter ungehindert ausbreiten), in der Panzerkreuzerauseinandersetzung ging es um Kosten der Aufrüstung angesichts steigender Staatsausgaben und drohender Verelendung großer Volksteile. Und, negativer Höhepunkt aus Sicht Reichels, der erzwungene Rücktritt Müllers wegen der Weigerung seiner Partei, einer vom Koalitionspartner DVP gewünschten Reduzierung der Arbeitslosenhilfe zuzustimmen. Aber erstens gehören zum Scheitern einer Ehe immer zwei, außerdem liefen hinter den Kulissen längst Bestrebungen des konservativen Reichspräsidenten Hindenburg und ihm nahe stehender Konservativer, die Republik abzuschaffen und den Einfluss der SPD ein für alle mal auszuschalten. Wenn Reichel an dieser Stelle den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten vorwirft, zu den Totengräbern der Republik zu gehören, so ist das meiner Ansicht nach falsch. Von diesen Ausnahmen abgesehen haben die Sozialdemokraten sich nämlich sehr oft verbiegen müssen, um Politik möglich zu machen. Doch irgendwo sollte auch Selbstachtung ins Spiel kommen, oder?

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