Der letzte Sessellift

Buchseite und Rezensionen zu 'Der letzte Sessellift' von John Irving
4.1
4.1 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der letzte Sessellift"

1941 in Aspen, Colorado. Die 18-jährige Rachel tritt bei den Skimeisterschaften an. Eine Medaille gibt es nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimat New Hampshire zurückkehrt. Ihr Sohn Adam wächst in einer unkonventionellen Familie auf, die allen Fragen über die bewegte Vergangenheit ausweicht. Jahre später macht er sich deshalb auf die Suche nach Antworten in Aspen. Im Hotel Jerome, in dem er gezeugt wurde, trifft Adam auf einige Geister. Doch werden sie weder die ersten noch die letzten sein, die er sieht.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:1088
Verlag: Diogenes
EAN:9783257072228

Rezensionen zu "Der letzte Sessellift"

  1. Keine gewöhnliche Familiengeschichte

    Aspen im US-Bundesstaat Colorado: Adam Brewster wächst bei seiner Großmutter auf. Seine Mutter Rachel, eine talentierte Skifahrerin, sieht er nicht besonders oft. Seinen Vater kennt Adam nicht. Doch er würde gerne herausfinden, wer dieser ist. Das ist allerdings nicht das Einzige, was in seiner Familie ungewöhnlich ist…

    „Der letzte Sessellift“ ist ein Roman von John Irving.

    Meine Meinung:
    Der Roman verfügt über eine klassische Struktur. Er umfasst drei Teile („Akte“) und insgesamt 53 Kapitel. Die Handlung umspannt mehrere Jahrzehnte. Zum Verfolgen der Zeitsprünge ist allerdings ein aufmerksames Lesen erforderlich.

    Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Adam. Zumindest überwiegend, denn in stilistischer Hinsicht ist der Roman nicht durchgängig gleich. Einzelne Kapitel sind nämlich wie ein Drehbuch gestaltet. Der Schreibstil ist anschaulich, zum Teil bildhaft, im Erzählton jedoch geschwätzig und weniger literarisch als erhofft.

    Die Vielzahl an Figuren und ihre Beziehungen sind anfangs verwirrend und ein wenig undurchsichtig, was jedoch vermutlich Absicht ist. Einige Figuren wirken stereotyp oder überzeichnet. Insgesamt setzt sich das Personal jedoch interessant zusammen.

    Inhaltlich ist der Roman ebenfalls sehr vielschichtig und gleichzeitig aktuell. Unterschiedliche sexuelle Orientierungen spielen eine entscheidende Rolle. Gekonnt verwebt wird die Geschichte einer Familie mit der Historie der USA. An einigen Stellen ist mir die Story zu absurd und damit unglaubwürdig. Für meinen Geschmack wird zudem das Gespenster-Motiv zu stark ausgereizt. Als Irving-Neuling sind mir möglicherweise jedoch einige Feinheiten entgangen, die den Inhalt aufwerten könnten.

    Zwar weiß die Geschichte mehrfach zu überraschen und bietet spannende, dramatische Momente. Auf den mehr als 1000 Seiten tauchen leider aber einige Längen und Wiederholungen auf, was die Lektüre für mich immer wieder etwas anstrengend und frustrierend gemacht hat.

    Der Titel, der wortgetreu aus dem Original („The Last Chairlift“) übersetzt wurde, ist vorzüglich formuliert. Auch das passende, reduziert gestaltete Cover spricht mich sehr an.

    Mein Fazit:
    Meine erste Begegnung mit John Irving lässt mich leider ein wenig enttäuscht zurück. Wahrscheinlich ist „Der letzte Sessellift“ nicht die beste Wahl für diejenigen, die mit dem Autor zuvor noch nicht in Berührung gekommen sind. Da nach meiner Ansicht jedes Werk aber für sich alleine stehen sollte, kann ich in diesem Fall bedauerlicherweise keine klare Empfehlung aussprechen.

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  1. Voller Leben

    Als langjähriger bekennender Irving-Fan habe ich dem Erscheinen dieses Romans lange entgegen gefiebert. Irving ließ seine Fans so lange auf diesen neuen Roman warten wie meines Wissenes noch nie zuvor. Die Arbeit an einem Regiebuch kam dazwischen, sicher auch der Anspruch, in diesen zumindest letzten großen Roman noch einmal alles hineinzulegen. Mit fast 1100 Seiten ist der Roman so umfangreich wie keiner zuvor. Gespannt machte ich mich an die Lektüre, zu Beginn bereits verbunden mit einer gewissen Wehmut und ein wenig Angst vor dem letzten Satz. 35 Jahre lang hatten mich die Romane Irvings bereits durch die Höhen und Tiefen meines Lebens begleitet. Im frühen Erwachsenenleben fand ich nach einer Durststrecke durch Irving zu guter Literatur zurück. Ich ließ mich gerne verzaubern von Irvings Universum, den schrillen Charakteren, den stets wechselnden und zum Teil sehr gesellschaftskritischen Themen. Bei aller Unterschiedlichkeit der Romane bekam man immer einen "typischen" Irving mit einer absolut einzigartigen Erzählstimme. Einen Irving zu lesen bedeutet, in eine andere Wirklichkeit einzutauchen, oft kommt es einer Verabredung mit guten alten Bekannten gleich, die man vor langer Zeit ins Herz geschlossen hat und ihnen nun freudig entgegen geht. All dies gilt auch für den nun erschienen letzten Sessellift.

    Hier folgen wir vor allem Adam Brewster durch die Wechselfälle des Lebens. Als Junge las ihm die Großmutter immer wieder Moby Dick vor, später wird er Schriftsteller. Wir erfahren viel über sein ausuferndes und bizarres Sexleben und natürlich seine unkonventionelle Familie. Schon immer hatte Irving ein Herz für Außenseiter und Minderheiten. Nun erhebt er einmal mehr seine Stimme insbesondere für die Rechte der LGBTQ+ Community. Dabei wettert er viel gegen US-amerikanische Politiker und die katholische Kirche. Irving-typische Längen gibt es, doch die schrecken die Fangemeinde nicht. Ebenso wenig die integrierten Regiebücher, weiß man doch, dass die zentral auch zu Irvings Schaffen gehören. Der Irving Fan erfreut sich an den skurilen Charakteren und die kunstvolle Gesamtkonzeption, das Irving-Universum, mit all seinen typischen Elementen. Einfach herrlich! Ob und inwiefern Adam das alter ego Irvings ist, sei dabei dahingestellt. Es spielt keine Rolle mit Blick auf den Lesegenuss.

    "Der letzte Sessellift" spielt zentral in heimischen Skigebieten. Adams Mutter ist Skilehrerin, ebenso wie ihre Lebensgefährtin Molly. Eine schöne Kulisse für den Roman. Eine Idylle, die jedoch trügerisch ist, da die Gesellschaft mit der Unkonventionalität und Nonkonformität nicht umzugehen weiß und mit Hass und Missgunst reagiert. Irving wäre nicht Irving würde er sich nicht für die Rechte der Geächteten einsetzen.

    Auch eine recht melancholische Stimmung hat der Roman. Irving setzt sich auch mit dem Thema der Endlichkeit auseinander. Doch er selbst strotzt vor Lebendigkeit und EInfallsreichtum. Und so hinterlässt er mit dem letzten Sessellift einen weiteren Roman voller Leben. Möge es nicht der letzte Wurf Irvings sein und doch noch, wie in Aussicht gestellt, das ein oder andere "Kleinformat" folgen. Ich hoffe es sehr!!

    Der neue Roman ist ein Muss für alle Fans, vielleicht ein Dank an seine treuen Fans. Irving-Neulingen würde ich dieses Buch nur bedingt zum Einstieg empfehlen, auch wenn ich es für sehr lesenswert halte. Zum Ausprobieren empfehlen sich entweder kürzere Werke oder die ganz großen Erfolge wie "Owen Meany", "Gottes Werk und Teufels Beitrag" oder "Garp und wie er die Welt sah".

    Jedem Ende wohnt auch ein Zauber inne: der des neuen Anfangs. Mach's noch einmal, John!

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  1. "Es gibt mehr als nur eine Art zu lieben!"

    Mein Lese-Eindruck:

    Irvings Roman umfasst die Spanne von 60 Jahren, in denen wir das Leben des Adam Brewster verfolgen. Adam wächst vaterlos auf, und so wird die Suche nach seinem Vater zu einem der Motoren des Romans. Seine Mutter ist begeisterte Skilehrerin, und Adam weiß nur eines: er wurde gezeugt im Hotel Jerome im Ski-Ort Aspen. Dieses Hotel wird daher zu einem Bezugspunkt des Romans.

    Als Irving-Fan war für mich dieser Roman so etwas wie das Hotel Jerome. Ich fühlte mich sofort zuhause, weil ich fast alle bekannten Motive und Erzählweisen dort wiedergetroffen habe. Da waren sie wieder !: die gesellschaftlichen Außenseiter, die skurrilen Gestalten, die Kleinen, bizarre Episoden wie die Hochzeit der Mutter, Wien und Wiener Schmäh mitsamt der Zither-Musik gehören auch dazu, ebenso der Ringer-Sport, Sex in unterschiedlichen Orientierungen, die alleinerziehende Mutter und natürlich auch der Bär, der sich allerdings listig versteckte. Mir kam dieser Reigen wie die Schlussszene in einem Zirkus vor, in der alle Artisten noch einmal gebündelt auftreten und sich verabschieden. Sollte es tatsächlich Irvings Abschied vom Erzählen sein?

    Irvings Themen sind ebenfalls nicht neu. Er stellt ein Familienmodell vor, das sich nicht um gesellschaftliche Erwartungen kümmert, sondern dessen Mitglieder ihre Bedürfnisse und ihre Andersartigkeit konsequent ausleben können. Diese Familie wird nicht nur durch verwandtschaftliche Verhältnisse zusammengehalten, sondern es ist ein starkes emotionales Band, das sehr verschiedene Menschen zusammenbindet und füreinander einstehen lässt.
    Hier gelingen ihm wunderschöne und anrührende Bilder. Ich denke da besonders an die Gedenkfeier für den in Vietnam gefallenen Freund, als dessen Vater, immerhin ein hochdekorierter Offizier, die Schützlinge seines Sohnes zur Gedenkfeier einlädt : ein Trupp von verlausten, verlotterten und ausgehungerten Menschen, die aus den gesellschaftlichen Rastern herausgefallen sind. Im Zusammenhang mit dem Familienthema steht ein zweites Thema: das der ungehinderten sexuellen Orientierung, für die Irving schon immer mit aller Vehemenz eingetreten ist.

    Ein neues Thema klingt jedoch an: das des Verschwindens und des Todes. Ein zunehmend elegisch werdender Ton zieht sich durch das Buch, verstärkt durch das Auftreten von Gespenstern und dem Einfügen von Drehbüchern; immerhin halten Filme auch die Verstorbenen lebendig. Die Schlusskapitel zeigen in beeindruckender Verdichtung das immer schneller werdende Vergehen der Zeit, das mit immer häufiger werdenden Altersangaben gezeigt wird, dazu kommen ruhelos wirkende stringente Sätze – ein schöner erzählerischer Kunstgriff!

    Die Biographie des Adam Brewster erinnert in weiten Teilen an Irvings eigene Biografie, so dass man Adam getrost als Irvings Alter Ego auffassen kann. Die Themen, die Adam umtreiben, sind daher auch die Themen, mit denen sich Irving in den USA unbeliebt gemacht hatte, z. B. seine kritische Stellungnahme zum Vietnamkrieg und zum Abtreibungsverbot. Und so vermengt sich die autofiktionale Biografie mit der Zeitgeschichte, ein großes Panorama der amerikanischen Gesellschaft tut sich auf, und in den Passagen über die Macht der Katholischen Kirche oder die Ignoranz Reagans gegenüber AIDS spürt man die Empörung des Autors.

    Das Lesen des fast 1100 Seiten starken Romans wird erschwert durch zu viele Wiederholungen, und auch die standardisierten Umschreibungen der Personen wurden mir mit der Zeit lästig. Auch die genauen Informationen über diverse globale Skiweltmeisterschaften etc. verstärkten vielleicht das Lokalkolorit, aber waren in dieser Ausführlichkeit nicht notwendig. Der Roman wurde damit gelegentlich schwammig und verlor seine Prägnanz.

    Umso mehr ist Irvings souveräne Erzählkunst hervorzuheben, die den Leser wieder einfängt und in die Geschichte zurückzieht.

    4,5/5*

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  1. Adam und sein unkonventionelles Umfeld

    Wie ist es möglich, dass mich (absolut unsportlich, schon in der Schule vom Sport befreit und natürlich noch nie auf Skier gestanden) ein Buch fesselt, in dem es von sportlichen, gut durchtrainierten Menschen nur so wimmelt, ob es nun Skilehrer, eine Pistenpflegerin/Raupenfahrerin, Schneeschuhgänger oder Ringer sind? (Ich musste sogar nachschlagen, was ein ‚Ausfallschritt‘ ist!)

    Ich vermute, es lag an der Erzählkunst John Irvings und ist auch der Tatsache geschuldet, dass ich unter keinerlei Zeitdruck stand. So konnte ich mich herrlich fallen lassen und die unkonventionellen Verwandten und Freunde von Adam, bzw. wunderbar skurrile Szenen, ausführlich genießen.

    Wir begleiten Adam Brewster *18.12.1941 durch seine Kindheit, erleben die ereignisreiche Hochzeit seiner Mutter, als er 14 Jahre alt ist, nehmen an seinen ersten schrägen (aber unterhaltsamen) Sex-Versuchen teil und lesen natürlich auch die politischen Entwicklungen der ganzen Jahrzehnte. Seine Wut (und die seines Umfelds) auf den Vietnamkrieg, auf die verpassten Chancen in Punkto Aids, den Kindesmissbrauch durch katholische Priester sind ebenso Themen wie die Legalisierung der Abtreibung (bzw. die Abtreibungsgegner) und die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten.

    Der Leser darf Adams berufliche Laufbahn als Autor und Drehbuchschreiber verfolgen und ein paar Drehbücher bekommen wir auch zu lesen. (Da wusste ich immer, dass es emotional bewegend wird!) Ich benötigte wohl einen ganzen Monat für diesen Roman, verlor aber nie den roten Faden, wenn ich ihn wegen anderer Prioritäten zur Seite legen musste.

    Ich empfehle diese 1088 Seiten allen, die sich von Skurrilität, Gespenstern, Springen zwischen den Zeiten, LGBT und den vielen Seiten nicht abschrecken lassen und vergebe voller Überzeugung 5 Sterne!

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  1. Mein erster Irving, anstrengend aber gut

    Dies ist mein erster Roman von Irving, und ich war stellenweise sehr verwirrt, weil der Autor sich einiger ungewöhnlicher Mittel bedient, um seine Geschichte zu erzählen. Einiges wirkte auch etwas verwirrend, dennoch übte dieser Wälzer nach kurzer Zeit einen Reiz aus, der mich gespannt weiterlesen ließ. Man darf wohl nicht alles allzu Ernst nehmen, der Autor hat anscheinend eine skurille Ader……im Nachhinein denke ich, dass ich auch einiges anders wahrgenommen hätte, wenn ich die anderen Werke gekannt hätte, denn scheinbar verwebt der Autor Dinge und Personen aus den anderen Büchern gerne weiter.

    Zur Handlung selbst: Adam, der Sohn der Skifahrerin Ray, führt durch die Handlung. Sie hatte in ganz jungen Jahren in Aspen etwas mit einem noch jüngeren Mann, eher noch ein Teenager, aus der ihr " Ein und alles", sprich Adam entstand. Ihr Vater war so geschockt, dass er das sprechen aufgab, und da Ray oft in den Skigebieten unterwegs war, übernahm seine Großmutter in weiten Teilen Adams Erziehung. Sie las ihm sehr früh bereits den gesamten Klassiker Moby Dick vor, ihr Lieblingsbuch. Ich erwähne dies, weil es es auch der Autor oft und ausgiebig tut. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein, denn warum nimmt es sonst einen so großen Raum ein in der Handlung? Ob dies damit zusammenhängt, dass Adam später Schriftsteller wird? Ist Adam vielleicht sogar John Irving selbst? Man weiß es nicht.

    Das spektakuläre am Werk sind eh die sexuellen Gesinnungen seines Umfeldes. Allen voran seine eigene Mutter, die während Adams Teenagerzeit den Englischlehrer Elliot heiratet, der sehr klein geraten ist, was ihre Vorliebe für kleine Männer bestätigt, denn Adams Vater war auch klein. Elliot und sie verstehen sich enorm gut, doch beide scheinen diese Ehe nur nach außen zum Schutz zu führen. Ray lebt nämlich mit Molly zusammen, die sie durch ihren Beruf als Skilehrerin kennen und lieben gelernt hat. Elliot fühlt sich im falschen Körper und lebt dieses Bedürfnis immer weiter aus, je älter Adam wird. In Adams Leben stellt Elliot aber trotzdem so etwas wie einen Vater dar, er hilft ihm oft, und Adam sind die Gespräche mit ihm/ ihr sehr wichtig.
    Adams Cousine Nora ist lesbisch und in einer Beziehung mit Em, die nicht spricht und alles in Form von Pantomimen erklärt. Die beiden führen gemeinsam eine Show auf, wo sie oft und gerne die Politik aufs Korn nimmt. Frauenrechtlerin stehen bei ihnen hoch im Kurs, und natürlich versuchen sie sich für Homosexuelle einzusetzen.
    Dies hört sich alles sehr bizarr an, doch dieser Kreis von Menschen ist Adams Familie, die er liebt, und die ihn lieben, sie halten alle zusammen.
    Der Rest des Buches besteht in großen Teilen aus der Suche nach Adams Vater. Viele Drehbucheinlagen werden dazu mit eingebracht, was mich ein wenig ermüdet hat, da sie anstrengend zu lesen waren.

    Hier noch ein kleiner Tipp! An den Geistern, die immer mal wieder auftauchen, sollten man sich nicht stören. Es ist erst befremdlich, da man sie in so einem Roman nicht unbedingt erwartet, aber sie fügen sich im weiteren Verlauf recht gut in die Handlung, am Ende mochte ich diese Passagen sogar sehr gern.

    Mein Fazit fällt trotz meiner Kritikpunkte gut aus, da ich mich trotzdem sehr gut unterhalten gefühlt habe, und ich trotz der Wiederholungen und einiger wirrer Passagen viel Spaß an diesem Buch hatte. Ich könnte mir durchaus vorstellen bei Gelegenheit ein anderes Buch des Autors zu lesen!

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  1. Abseits der Heteronormativität

    oder: Eine Bestandsaufnahme amerikanischer Akzeptanz.

    Der letzte Sessellift fordert Durchhaltevermögen, Geduld und viel Liebe zu Irvings Büchern. Kenner wissen um Irvings Vorliebe zu Skurrilitäten, vor allem in den Intimbereichen seiner Romanfiguren und so ist es nicht verwunderlich, dass es auch in diesem letzten großen Werk davon reichlich zu lesen gibt. Außerdem durchziehen Geister den gesamten Plot, tauchen auf, erschrecken, trösten, oder erinnern an eine bewegte Vergangenheit. Nicht jeder bemerkt sie, doch Adam sieht sie.

    Adam ist der einzige Sohn Rays. Sie war gerade achtzehn, als sie schwanger wurde und der Vater verschwindet erst einmal hinter mysteriösen Andeutungen. Mit 14 findet Adam einen Ehemann für seine Mutter, die ihn auch heiratet. Doch am Hochzeitstag entdeckt Adam, dass seine Mutter eine lesbische Beziehung führt. Trotzdem hält die Ehe, denn auch Elliot, ihr Ehemann, hat ein Geheimnis.

    Adams Cousine und beste Freundin Nora ist auch lesbisch, sie tritt mit ihrer stummen Freundin Em in einem Comdey-Club auf. Ihre Sketche behandeln gesellschaftskritische Themen und trotz weltoffenem Publikum, schüren sie auch folgenreichen Hass.

    Der titelgebende Sessellift steht natürlich im Skigebiet von Vermont. Alle fahren Ski, retten Skifahrer, oder stapfen mit Schneeschuhen durch den selben. Es ist also fast immer Winter, auch in New York und Aspen, wo das legendäre Hotel Jerome steht, in dem Ray einst Adam empfing. Doch Adam bleibt nur ein mittelmäßger Sportler, er konzentriert sich bald aufs Schreiben. Kostproben seiner Drehbucharbeiten werden im Roman mit eingeflochten. Diese handeln vor allem von den albtraumhaften Filmen mit Paul Goode, einem Schauspieler, der sich schließlich als weiterer Dreh- und Angelpunkt erweist.

    Der Roman ist zunächst einmal die Biografie Adams. Sein Leben, das Aufwachsen mit den Großeltern, die sich einmischenden und immer zu spitzen Kommentaren aufgelegten Tanten, Cousine Nora, die ihm alles Wichtige fürs Leben beibringt und die Lückentexte der Erwachsenen ergänzt, seine Alleinstellung bei seiner Mutter, erste Versuche mit dem anderen Geschlecht... das alles hat seine lustigen, manchmal auch despektierlichen Momente und sind so sehr Irving, dass man meinen möchte, seine Biografie zu lesen. Adam erscheint als Irvings Alter Ego.

    Doch da gibt es noch die zweite Ebene im Buch. Unter all dem Trubel der kuriosen Familienverhältnisse verbirgt sich die Botschaft einer großen LGBTQ-Gemeinde, die endlich gesehen, gehört und akzeptiert werden will. Unter anderem bekommen Ronald Reagen und die Katholische Kirche eine Menge Kritik zu hören. Die einzelnen Schicksale in Adams Umfeld, berühren starke politische Themen, die nicht nur in der Vergangheit für viel Unruhe in den USA gesorgt haben, sondern immer wieder hochkochen. Was zunächst einmal rückwärtsgewandt scheint, kehrt sich gern in neue Schlagzeilen.

    Doch leider verliert sich Irving ein wenig, kreist in seinen Wiederholungen und findet nur abrupt den Schluss. Echte Fans schreckt das nicht. Einstiegslektüre aber ist es wahrlich nicht. Ich achte Irvings Intention hoch, bewundere seinen Erzählstil, feiere seine besonderen Zutaten und bedanke mich für vertrautes Terrain. An Abschied mag ich nicht denken und wenn es denn sein muss, so soll er mir als Geist erscheinen.

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  1. Adam und wie er die Welt sah

    Der kleine Adam liebt seine Mutter abgöttisch, obwohl diese die meiste Zeit gar nicht anwesend ist, sondern sich als Skilehrerin in den Bergen aufhält. Das Skifahren ist Rachels große Leidenschaft, und bei einem Aufenthalt in Aspen wurde Adam schließlich auch gezeugt. Adams Vater ist ihm jedoch nicht bekannt. Doch alle Fäden scheinen im Hotel "Jerome" zusammenzulaufen, von dessen Gespenstern Adam nicht von ungefähr träumt. Als er als 13-Jähriger den Englischlehrer Elliot Barlow kennenlernt, ist er sich zumindest sicher, den richtigen Ehemann für seine Mutter gefunden zu haben. Doch in Adams Familie lässt sich niemand so einfach in die für ihn vorgesehenen Formen pressen...

    Es ist schwer, John Irvings neuen Roman "Der letzte Sessellift", der jüngst bei Diogenes in der deutschen Übersetzung von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg erschienen ist, in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Dafür ist das Werk schlicht zu lang und ein wenig unübersichtlich, denn Ich-Erzähler Adam widmet sich nicht nur seiner eigenen Lebensgeschichte und Weltanschauung, sondern schweift auch immer wieder ab. Zudem ist das Personal unglaublich umfangreich, schließlich erstreckt sich "Der letzte Sessellift" nicht nur über knapp 1.100 Seiten, sondern auch über einen Zeitraum von etwa 70 Jahren. Freunde des 81-jährigen Irving kommen dabei durchaus auf ihre Kosten. Beliebte Zutaten eines jeden Irvings tauchen auch hier wieder auf: homosexuelle Männer und Frauen, eine Transfrau, ein Ringerteam, Politik- und Gesellschaftskritik, Schenkelverkehr. Eine Bibliothekarin spielt hingegen nur eine Nebenrolle und den Bären findet man eventuell nur versteckt und wenn man etwas um die Ecke denkt.

    Seine Stärken hat der Roman im Unerwarteten. Vermeintlich lieb gewonnene Hauptfiguren verabschieden sich auf nicht gerade glimpfliche Weise und sehr plötzlich aus der Handlung. Oder Irving streut von Zeit zu Zeit immer mal wieder die Drehbücher von Hauptfigur Adam, seinerseits Schriftsteller, ein, um von Ereignissen zu erzählen, die so schrecklich sind, dass er offenbar selbst eine gewisse Distanz benötigt, um darüber berichten zu können. Die Drehbücher lesen sich fast wie eigene "Bücher im Buch" und erstrecken sich zweimal sogar über jeweils knapp 100 Seiten. Mutig und unkonventionell und für mich die Highlights des Romans. Denn Irving gelingt es durch seine Drehbücher das Gefühl einer permanenten Bedrohung zu schaffen. Mit dem Wechsel ins erzählerische Präsens erfährt "Der letzte Sessellift" in diesen Momenten eine große Unmittelbarkeit. Man hat von Beginn an das Gefühl, einer oder mehreren Figuren könnte in diesen Szenen etwas Schreckliches widerfahren - nur wem und wie bleibt dabei unklar. Das sorgt für unterschwellige Spannung.

    Außerordentlich berührend wird der Roman in den Momenten, in denen Irving besonders persönlich wird und man den Autoren hinter seiner Hauptfigur erkennt. Folgt man den Gerüchten, soll "Der letzte Sessellift" ja angeblich der letzte große Roman von Irving sein. Hat man dies im Hinterkopf, wird man auf den letzten Seiten fast überwältigt von der großen Melancholie, die dem Altmeister hier gelingt. Den letzten Satz kann man wohl nicht lesen, ohne mindestens eine Gänsehaut zu bekommen. Ohnehin hat das Buch seine starken Momente in den ernsten Szenen. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht die wunderbar zärtlich und liebevoll geschilderte Vater-Sohn-Beziehung zwischen Adam und dem kleinen Matthew, der im letzten Viertel den Roman bereichern darf.

    Die Suche nach Adams leiblichen Vater entpuppt sich hingegen als Enttäuschung. Von mir lange Zeit als zentrales Element des Werks ausgemacht, erscheint die Auflösung doch recht lapidar. So wird allgemein nicht ganz klar, was die zentrale Aussage des Buches überhaupt sein soll. Es gibt viel Politik, viel Sex, viel Gewalt, viele Tote, viele Tränen. Und natürlich gibt es erneut Irvings großen Einsatz für Minderheiten und seinen Kampf für die Anerkennung der LGBTQ-Community, die sicherlich nicht nur für diesen Roman, sondern für sein gesamtes Lebenswerk mit in die Bewertung dieses Buches einfließen kann.

    Dennoch hat "Der letzte Sessellift" auch erhebliche Schwächen. Viele der Figuren zeigen kaum Anzeichen einer Entwicklung. Das lesbische Stand-up-Comedy-Duo Nora und Em wirkt beispielsweise in Teenager-Jahren genauso wie im fortgeschrittenen Alter, so dass es nicht immer leicht ist, dem Roman bei seinen zahlreichen Sprüngen zeitlich zu folgen. Der Humor begibt sich teilweise in recht brachiale Gefilde und lässt selbst die Fäkalschiene nicht aus. Der Umgang mit unsympathischen Figuren ist bisweilen zu despektierlich. Wenn beispielsweise der demenzkranke Großvater permanent als "Windelträger" bezeichnet und ihm auch nur ein slapstickhafter Abgang aus dem Buch gestattet wird, werden die Grenzen des guten Geschmacks schon mal unterschritten.

    Zudem ergötzt sich das Buch in permanenten Wiederholungen. Damit sind nicht nur Handlungsbögen gemeint, die mehrfach erzählt werden, sondern auch ständig wiederkehrende Bezeichnungen der Figuren. So war ich dem "Schneeläufer", der "kleinen Englischlehrerin", der "Pistenpflegerin" und vielem mehr doch irgendwann arg überdrüssig. Auch dadurch wird "Der letzte Sessellift" in seiner Gesamtheit viel zu lang und hätte gut und gerne um 200 oder 300 Seiten gekürzt werden können.

    Gelungen ist hingegen der Titel, dessen Bedeutung im Roman schrittweise aufgeklärt wird und sich nicht nur auf die Skibesessenheit einiger Figuren bezieht. Vielmehr bekommt der "letzte Sessellift" eine fast mythologische Bedeutung als eine Art Styx oder als metaphysische Verbindung zwischen Leben und Tod, in dem die Menschen auf- und abfahren wie die Seelen der Verstorbenen.

    Alles in allem ist "Der letzte Sessellift" wahrscheinlich nicht John Irvings stärkster Roman. Er ist aber auch mitnichten eine Enttäuschung. Dafür zeigt sich der Altmeister einfach in zu guter (Erzähl-)Form und Fabulierlust. Und dafür ist auch diesmal sein Einsatz für Minderheiten wieder zu groß.

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  1. „… See how much there is to give …“ („Aspenglow“ John Denver)

    Klappentext:

    „1941 in Aspen, Colorado. Die 18-jährige Rachel tritt bei den Skimeisterschaften an. Eine Medaille gibt es nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimat New Hampshire zurückkehrt. Ihr Sohn Adam wächst in einer unkonventionellen Familie auf, die allen Fragen über die bewegte Vergangenheit ausweicht. Jahre später macht er sich deshalb auf die Suche nach Antworten in Aspen. Im Hotel Jerome, in dem er gezeugt wurde, trifft Adam auf einige Geister. Doch werden sie weder die ersten noch die letzten sein, die er sieht.“

    Gleich vorweg: ich bin ein sehr großer John Irving-Fan! Seine Werke wie „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ oder „Witwe für ein Jahr“ sind wahre Meisterwerke! Das aktuelle Werk „Der letzte Sessellift“ schaffte bei mir gerade mal nur 2 Sterne - kurzum, ich fand die Lektüre „weniger gut“. Warum? Die Geschichte rund um Rachel bildet den Grundstein. Der eigentliche Erzähler ist aber ihr Sohn Adam, oder doch nicht? Wir schwanken auf über 1000 Buchseiten immer wieder in den Zeiten (und das ist selbst bei aufmerksamen Lesern hier eine wahre Herausforderung!) und müssen ihnen Stand halten und wir wechseln zwischen den Personen und eben auch der Ansprache die Irving hierfür nutzt. Nicht wirklich so ganz typisch für den Autor…Alles schwierig, alles zu viel, alles zu weitläufig. Ja, es gab durchaus wirklich humorvolle, schlüssige Parts, deshalb auch meine 2 Sterne, aber der Hauptteil war mir einfach zu ermüdend, zu langweilig, zu nichts-sagend und am allerschlimmsten: alles war irgendwie viel zu viel. Irving spricht viele Themen an - bildhaft gesehen genau so viele wie Sessellifte an einem Seil an so einer Seseelliftstation hängen. Es ist ein Auf und Ab der Themen, es ist ein Auf und Ab der Gefühle und Emotionen, es gibt hier und da Talfahrten in denen die Protagonisten mit ihren Erzählstilen eine wahre Schussfahrt machen, andere wiederum führen gekonnte schwungvolle Fahrbahnen und bleiben auf der Piste. Und dann gibt es den mal leichten mal beschwerlichen Leseaufstieg genau wie mit der Hochfahrt in einem Sessellift. Die Erzählstränge winden sich ebenso wirr wie die Bahnen auf den Skipisten bevor der Pistenbulli sie alle wieder glatt streicht und die Piste ebnet. Rachel hatte ihren letzten Sessellift genommen, eine echte Talfahrt danach erlebt und Adam ist das Resultat. War es ihr „Ziel“, ihr „Sieg“? Lesen Sie es und machen sich selbst ein Bild davon! Hatte Rachel sich das so vorgestellt? Mit Sicherheit nicht. Mich ermüdeten einfach die ewig langen Dialoge, dieses Wirrwarr aus allem und ja, es fällt auch wirklich schwer den Personen zu folgen geschweige einen Zugang zu ihnen zu bekommen. Was soll ich nun abschließend sagen? „Der letzte Sessellift“ war definitiv nicht mein letztes Buch von Irving, das steht fest! Sein Schreibstil und seine Art der Erzählung ist unter seinen Kennern und Fans einmalig und eben besonders aber dieses Buch wird absolut nicht zu meinen Favoriten von ihm zählen.

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  1. Patchwork im Winter.

    Kurzmeinung: Irving wird keiner meiner Lieblingsautoren - aber er kann was.

    Was Liebe angeht, können sich viele Familien von der erweiterten Patchworkfamilie der Brewsters eine Scheibe abschneiden. Liebe gibt es reichlich unter ihnen.

    Die Familie, über die Adam als Icherzähler berichtet, zunächst als Kind, später als Heranwachsender und Beobachter, noch später an seinem Lebensabend, besteht und bestand aus Menschen, die ihre Sexualität ausserhalb der Norm leben, was in den frühen 1950er Jahren durchaus ein gesellschaftliches Problem darstellt. Es ist eine Familie, deren exzentrischer Lebensstil nichts ausspart. Es wird nie ganz klar, ob und wie das eine das andere bedingt; denn muss eine, gemessen an den Mehrheitsverhältnissen ungewöhnliche sexuelle Veranlagung, wirklich zu Exzentrizität führen? Weil und wenn man sie verbergen muss, dann vielleicht schon.

    Je nach Charakter und Veranlagung der Einzelnen werden die entsprechenden Neigungen mehr oder weniger offen gelebt und führen zu allerhand Kuriositäten: Adams Cousine tritt regelmässig im New Yorker Kabarett des Gallows auf, einem Szenecafé, mit der innovativen und provokanten Nummer „Zwei Lesben, eine spricht“, Adams Mutter führt eine Ehe zu dritt, wer die Vaterschaft von Adam zu vertreten hat, bleibt lange ungeklärt, einige Familienmitglieder können nur hilflos lachen, andere verstummen teilweise oder ganz, alle sind irgendwie politisch, ein anderer geht in Opposition zu den Exzentrikern, wird Republikaner und Waffenfanatiker.
    Obwohl die Einzelnen ganz offen mit ihren Neigungen umgehen, tun sie es nicht so, dass sie Adam irgendetwas erkären würden, er muss nach und nach durch Beobachtungen selber hinter die Dinge kommen, die bei ihm zu Hause nun einmal anders ablaufen als anderswo, mit ihm die Leserschaft.

    Der Kommentar:
    John Irvings Roman ist eines: lang und ausschweifend, detailverliebt. Das mag dem einen gefallen und dem anderen nicht; für den einen sollte der Roman nie zu Ende gehen und der andere ist froh, wenn er Irvings Figuren endlich hinter sich lassen kann: Mit anderen Worten, Irving ist einfach Geschmacksache.
    Neben seiner liebevollen Zeichnung der LGBTQA+ Brewsterfamilie und ihrer Bezugspersonen, sind weitere Themen des Romans: Kritik am Vietnamkrieg, die Verarbeitung von Tod und Sterben, der Film noir und die Aidspolitik der USA in den 80ern. Zur Verarbeitung des Themenbereichs Tod werden Gespenster in die Lobby eines berühmten Wintersporthotels gesetzt: dort spielen sich wahrhaft tragische und zugleich makabre Szenen ab.
    Wenn Adam, der im Roman alsbald Schriftsteller wird, versucht, schreibend seine Familiengeschichte aufzuarbeiten, kommen seine unveröffentlichten Drehbücher zum Zuge und man ist als Leser gezwungen, mindestens drei, fast eigenständige (Dreh)Bücher im Buch mit zu konsumieren. Natürlich haben diese Drehbücher eine Funktion im Roman, trotzdem mag mancher dieses Stilmittel gar nicht, andere sehen sie als hohe Kunst an.
    Irvings bekannte Liebe zu Sport im allgemeinen und zum Wintersport im besonderen und zum Film noir kommen im Roman ausgiebig zum Zuge.

    Das Leseerlebnis:
    Das Leseerlebnis hat mich von dem Roman nicht ganz überzeugen können. Die vielen Drehbücher lesen zu müssen, befand ich als mühsam, die vielen Handlungsanweisungen darin als überaus langweilig. Ich mag eh keine Theaterstücke lesen. Theater schauen ja, aber Stücke lesen, nein.
    Die Intention des Autors, die Gesellschaft vorzuführen und zu mehr Toleranz aufzufordern, beziehungsweise den Mangel an Respekt und Toleranz anzuklagen, ist ein berechtigtes Anliegen, zumal dieser Mangel an Respekt bis zu Morddrohungen und Schlimmerem führt. Andererseits macht die Brewsterfamilie es „den aus ihrer Sicht anderen“ auch nicht gerade leicht. Die Protagonisten leben nach dem Motto, „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“. Sie erfahren von ihrer Umwelt kein Verständnis und sie geben diese Haltung gnadenlos zurück. So werden die Jugendlieben Adams, des einzigen heldenhaften Heteros im Roman, es gibt noch andere Heteros, aber diese sind nicht heldenhaft, boshaft durch den Dreck gezogen. Das ist ordinär, vulgär, gemein und widerlich. Cis-Frauen geben kein gutes Bild ab in dem letzten Sessellift.
    Geschickt ist es, in einer Welt, in der die meisten Gewalthandlungen von Männern ausgehen und diese Problematik im Buch auch hinreichend belichtet wird, dass Irving mit Adam einen „fast normalen“ Mann zum Icherzähler bestimmt hat. Allerdings ist Adam nicht so normal, wie es anfangs scheint; im Grunde genommen ist er beziehungsunfähig. Ein echter Sympathieträger ist eben auch Adam nicht. Man könnte über seine Fixierung auf ältere Frauen diskutieren. Inwieweit sie innerfamiliär bedingt ist, zum Beispiel oder ob sie „normal“ ist. Aber was ist schon „normal“? Wem steht darüber ein Urteil zu oder eine Deutungshoheit, insofern der Begriff "normal" eine Wertung beinhaltet und nicht einfach bedeutet: das, was die Mehrheit macht. Verschnupft sagt Adams Mutter zu ihm als er sagt, er wolle endlich ein normales Leben führen: „Jedes Lebewesen will ein normales Leben führen, selbst ein Tintenfisch.“

    Durch den männlichen Icherzähler löst Irving geschickt ein Ungleichgewicht auf. Denn Männer sind nicht nur böse. Maskuline Gewalt muss thematisiert werden, darf aber nicht zu einem generellen Männerhass führen. Der icherzählende Adam ist von daher ein hervorragender Schachzug des Autors.
    Da Irving über LGBTQA+ schreibt, ist Sexualiät ein übergreifendes Thema, das alle anderen Themen überlagert; zeitweise scheint es, als ob sämtliche Protagonisten 24/7 pro Tag/Woche an nichts anderes dächten.
    Dass die Protagonisten durch fehlende Innenschau/en fast leblos bleiben und deshalb dann doch irgendwie Stereotype sind, ist ein Manko. Andererseits baut Iriving zwei fulminante Höhepunkte in die Lektüre ein; man mag halb eingeschläfert worden sein, zum Beispiel durch das Lesen der Drehbücher, dann schreckt man doch wieder auf: Iriving macht seine Leser immer wieder wach. Das ist ein Plus. Und ich mag Schnee im Buch. Die Schneeszenen sind mein Highlight.

    Ein Fazit: zu ziehen ist schwierig. Sowohl die auswalzende Erzählweise Irvings wie auch seine Gespenstermethode als Stilelement und Aufarbeitungsmittel von Tod und Sterben, entsprechen nicht meinem Geschmack. Gar nicht. Irvings Personal ist nicht my cup of tea, wie man so schön sagt. Der Film noir interessiert mich nicht die Bohne. Politisch sehe ich manches differenzierter. Dennoch ist „Der letzte Sessellift“ listig komponiert und alles sitzt an der richtigen Stelle. Handwerklich kann man nichts aussetzen und manche Szene ist sogar berührend. Aber Irvings Themen sind nicht meine.
    Ich werte hier nach Kunst, Komposition und Können und stelle meinen persönlichen Geschmack hintenan.

    Kategorie: Gesellschaftskritischer Roman
    Verlag: Diogenes, 2023

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