Der Klang der Erinnerung

Rezensionen zu "Der Klang der Erinnerung"

  1. Ein warmer Mantel

    Birmingham, 1966: Als den jungen William die Nachricht eines furchtbaren Unglücks im walisischen Dörfchen Aberfan erreicht, steht für ihn sofort fest, dass er dorthin will, um zu helfen. Denn soeben ist er der Familientradition gefolgt und hat seinen Abschluss als Einbalsamierer gemacht und bei den 144 Toten, die durch einen Haldenrutsch ums Leben gekommen sind, wird jede tatkräftige Unterstützung benötigt. Doch was macht das mit einem gerade einmal 19-Jährigen, mit einem solchen Schicksal konfrontiert zu werden - gerade da es sich bei der großen Mehrheit um tote Schulkinder handelt? Und welche Verbindung hat William zu Allegris "Miserere", das er sich im Radio kaum anhören kann? Darüber berichtet Jo Browning Wroe in ihrem Debütroman "Der Klang der Erinnerung".

    "A Terrible Kindness" heißt das Buch im englischen Original und warum man daraus einen deutschen Titel mit zwei Substantiven, die durch den Genitiv miteinander verbunden sind, machte, erschließt sich mir nicht. Zu austauschbar wirkt dieser Titel, zu abgenutzt und beliebig, als dass er hängen bleiben könnte. Dabei ist der Bestseller aus England durchaus erinnerungswürdig.

    Browning Wroe erzählt in ihrem Debüt nämlich so souverän und warmherzig und mit einer solch großen Empathie für ihre Figuren, dass sich der "Klang der Erinnerung" fast wie ein warmer Mantel um die Leserschaft legt. Hört man sich dazu die in dem Roman vorkommenden Chorstücke an, die eine zentrale Rolle spielen, können einen die Emotionen schon einmal überwältigen.

    So geht es auch William Lavery, liebenswerter Protagonist des Buches. Ausgehend von der historisch belegten Aberfan-Katastrophe, begleiten die Leser:innen diesen William auf dessen Weg zum Erwachsenwerden. Die Autorin springt kunstvoll und gelungen zwischen den Zeiten hin und her. Mal erleben wir William in Aberfan, über eine weite Strecke erkennen wir in ihm einen äußerst begabten Chorknaben in Cambridge, dann erzählt Browning Wroe vom Beginn seiner Einbalsamierer-Ausbildung. William ist dabei der absolute Fixpunkt, keine Szene kommt ohne ihn aus. Das Vertrauen und die Empathie, die Browning Wroe in diese Figur setzt, zahlen sich aus, denn lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, in dem ein solch hohes Identifikationspotenzial mit der Hauptfigur besteht. Natürlich macht William auch Fehler - nicht wenige gar - doch als Leser:in ist man immer bereit, ihm zu verzeihen und mit ihm auf einen guten Ausgang zu hoffen.

    Ein weiterer Pluspunkt des Romans ist das Setting. Chorknaben- und Internatsromane hat man schon häufiger gelesen, wie zuletzt beispielsweise "Edinburgh" von Alexander Chee, doch durch die Verbindung zum Berufsbild der Einbalsamierer und Bestatter gelingt Browning Wroe eine bemerkenswerte Liaison. Dabei spürt man jederzeit, wie gut die Autorin über dieses Berufsbild informiert ist, stammt sie doch selbst aus einer Bestatterfamilie in Birmingham. Auch sprachlich überzeugt das Buch, denn trotz des recht konventionellen Stils findet Browning Wroe immer wieder passende Vergleiche, die dem Roman einen melancholischen Unterton geben.

    Was den Figuren hingegen ein wenig fehlt, sind die Ecken und Kanten. Über weite Strecken des Romans begegnet man eigentlich nur Sympathieträger:innen. Sei es Williams bester Freund Martin auf dem Internat, seine Liebe Gloria oder sein Onkel Robert, der sich seit dem Tod von Williams Vater rührend um den kleinen Jungen kümmert. Ambivalent wirkt lange Zeit nur Mutter Evelyn, die sich mit Williams Bindung zu Robert und dem Bestattungsinstitut nicht abfinden mag und aus ihm unbedingt einen Sänger machen möchte. Erst im letzten Drittel taucht mit Ray Price, Williams Kollegen in der Ausbildung, eine weitere Figur auf, bei der man sich nicht sicher ist, ob man sie mögen soll oder nicht.

    Und letztlich überträgt sich diese fehlende Ambivalenz leider auch auf das Finale des Romans. Während ich mich die ganze Zeit fragte, warum William den Kontakt zu seiner Mutter abbrach und ob sich die in die Brüche gegangene Freundschaft zu Martin wieder kitten lässt, werden diese dramatischen Ereignisse nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit gelöst. Fast scheint es, als würde Browning Wroe der Leserschaft Williams Leid nicht länger zumuten wollen. So umschifft das Buch am Ende leider nicht ganz die Klippen des Kitsches, die es über weite Strecken so gekonnt und souverän vermied.

    Ein kleiner Wermutstropfen eines in der Gesamtheit allerdings überzeugenden und äußerst berührenden Coming-of-Age-Romans, der in der Zielgruppe genügend Anhänger:innen finden dürfte. Und spätestens, wenn William für die toten Kinder das walisiche Lied "Myfanwy" singt, sollte man ihn spüren, diesen warmen Mantel - und sich seinen Emotionen ganz hingeben.

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