Der Jahrhundertroman

Rezensionen zu "Der Jahrhundertroman"

  1. Bibliophilenroman mit aktuellem Bezug

    Peter Henisch, geboren 1943, ist seit Jahrzehnten ein renommierter österreichischer Schriftsteller. Mir sagte sein Name bisher nichts, allerdings machten Verlag und Inhaltsangabe Lust, das neue Buch mit dem vielversprechenden Titel kennenzulernen.

    Der betagte, etwas verschrobene Herr Roch ist ein Büchernarr ersten Ranges. Früher war er als Bibliothekar tätig, gemeinsam mit seiner Frau leitete er auch eine kleine feine Buchhandlung. Heute lebt er verwitwet in seinem Depot, einer Art bewohnbarer Lagerhalle, wo er umgeben von einem riesigen Konvolut aus Büchern einen Jahrhundertroman geschrieben hat.

    Fast täglich besucht Herr Roch das Café Klee im Herzen Wiens. Dort arbeitet die Germanistik-Studentin Lisa als Kellnerin, um ihre Finanzen aufzubessern. Sie stammt aus guten Verhältnissen, hat jedoch mit ihrem Vater gebrochen, von dem sie jegliche Zuwendung ablehnt. Da kommt ihr das Roch´sche Angebot, das besagte Manuskript gegen ein angemessenes Honorar abzutippen, sehr gelegen, auch wenn sie Vorbehalte gegenüber dem alten Mann hegt. Allerdings erweist sich das Manuskript für Lisa als unlesbar. Deshalb bringt sie es dem Urheber zurück, der es nun diktieren will. Unglücklicherweise kann Roch den Anfang nicht finden, irgendwie müssen die 300 Seiten durcheinander geraten sein… Diesem Missgeschick ist es geschuldet, dass die meisten Passagen, die der Leser präsentiert bekommt, nicht mehr in exaktem Sinnzusammenhang stehen.

    Herr Roch taucht in sein Manuskript ein, er liest es uns quasi vor. Allerdings aus den genannten Gründen nicht chronologisch, was den Text kurzweilig und ungewöhnlich macht. Es handelt sich im Grunde um einen Autorenroman: Roch lässt viele österreichische Schriftsteller/innen, die das vergangene Jahrhundert literarisch geprägt haben, darin auflaufen. Er verwickelt sie in allerlei mehr oder weniger interessante Episoden und Geschichten, auf deren Wahrheitsgehalt es nicht ankommt. Robert Musil, Joseph Roth, Peter Handke, Albert Drach, Elfriede Jelinek, Franz Kafka, Ilse Aichinger, Ernst Jandl, Friederike Mairöcker und viele andere tauchen im Buch auf, was eine Freude für jeden literaturbewanderten Leser sein dürfte. Roch selbst scheint beim Lesen der Geschichten aufzuleben. Er sehnt sich zurück in die Vergangenheit, als die Literatur seiner Meinung nach noch Bedeutung hatte. Roch verquickt das Leben der berühmten Vorbilder mit eigenen Lebenserinnerungen, was dem Roman etwas sehr Berührendes verleiht. Rochs Schlaganfall hat offenbar Spuren hinterlassen, die über ein hinkendes Bein hinausgehen: „So viel trifft schon zu: Die Zeit ist ins Gleiten geraten… Seit er sich hingesetzt hat, mit dem Vorsatz, diesen Roman zu schreiben… Oder ist es bloß er, der ins Gleiten geraten ist, auf dieser glatten abschüssigen Zeit? Manchmal, im Traum, hat er gesehen, wie er entweder hinter sich selbst zurückbleibt oder sich selbst davonfährt.“ (S. 97)

    Doch auch Lisas Perspektive ist interessant. Auch sie schreibt viel und gerne. Von ihrem Freund Ronnie hat sie sich getrennt, eigentlich aber auch nicht so richtig. Sie ist den üblichen altersgemäßen Spannungsfeldern einer 19-Jährigen ausgesetzt. Große Sorgen macht sie sich über ihre beste Freundin, die Iranerin Semira, der die baldige Abschiebung droht. Offenbar ist Semira untergetaucht, denn Lisa kann sie nirgends finden. Dieser höchst aktuelle Handlungsstrang durchbricht die latent vorhandene Nostalgie des Romans um Herrn Roch. Für meinen Geschmack nimmt dieser Teil einen fast zu geringen Teil der Geschichte ein. Hier hat Peter Henisch es versäumt, mit mehr Fakten und Sichtweisen ein tieferes Verständnis für die Problematik von Flüchtlingen ohne dauerhaftes Bleiberecht in Europa zu wecken. Einen diesbezüglichen Appell an die Mitmenschlichkeit kann man zum Ende hin zwar herauslesen, doch verhallt er ziemlich schwach. Der Leser bekommt leider keine Gelegenheit, Semira mit ihrem Umfeld näher kennenzulernen, wodurch Chancen vertan werden.

    „Der Jahrhundertroman“ liest sich trotz der großen Namen erstaunlich flüssig, man benötigt keinerlei Vorwissen, die einzelnen Geschichten stehen für sich. Sie sind die bibliophile Stärke des Romans. Wunderbar gezeichnet sind die beiden Protagonisten, die beide auf ihre Art sperrige Charaktere sind und nicht leicht zueinander finden. Auch die mütterliche Caféhausleiterin Frau Resch wird herrlich beschrieben. Gut gelungen scheint mir auch das Wiener Kolorit vergangener und gegenwärtiger Zeiten zu sein, die zahlreichen Dialoge (ohne Redezeichen) wirken mit ihren verwendeten Austriazismen sehr authentisch.

    Mir persönlich fehlt der Bezug zu den oben genannten Schriftsteller-Persönlichkeiten. Insofern hätte mich die Nebenhandlung rund um Semira stärker interessiert, die mir insgesamt zu kurz kommt. Auch wenn der Spannungsbogen zum Ende hin deutlich ansteigt, hat mich das offene Ende etwas ratlos zurückgelassen. Insofern kann ich keine eindeutige Empfehlung für den Jahrhundertroman aussprechen. Kenner der österreichischen Literaturszene werden jedoch möglicherweise völlig anders urteilen.

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  1. Bibliophilenroman mit aktuellem Bezug

    Peter Henisch, geboren 1943, ist seit Jahrzehnten ein renommierter österreichischer Schriftsteller. Mir sagte sein Name bisher nichts, allerdings machten Verlag und Inhaltsangabe Lust, das neue Buch mit dem vielversprechenden Titel kennenzulernen.

    Der betagte, etwas verschrobene Herr Roch ist ein Büchernarr ersten Ranges. Früher war er als Bibliothekar tätig, gemeinsam mit seiner Frau leitete er auch eine kleine feine Buchhandlung. Heute lebt er verwitwet in seinem Depot, einer Art bewohnbarer Lagerhalle, wo er umgeben von einem riesigen Konvolut aus Büchern einen Jahrhundertroman geschrieben hat.

    Fast täglich besucht Herr Roch das Café Klee im Herzen Wiens. Dort arbeitet die Germanistik-Studentin Lisa als Kellnerin, um ihre Finanzen aufzubessern. Sie stammt aus guten Verhältnissen, hat jedoch mit ihrem Vater gebrochen, von dem sie jegliche Zuwendung ablehnt. Da kommt ihr das Roch´sche Angebot, das besagte Manuskript gegen ein angemessenes Honorar abzutippen, sehr gelegen, auch wenn sie Vorbehalte gegenüber dem alten Mann hegt. Allerdings erweist sich das Manuskript für Lisa als unlesbar. Deshalb bringt sie es dem Urheber zurück, der es nun diktieren will. Unglücklicherweise kann Roch den Anfang nicht finden, irgendwie müssen die 300 Seiten durcheinander geraten sein… Diesem Missgeschick ist es geschuldet, dass die meisten Passagen, die der Leser präsentiert bekommt, nicht mehr in exaktem Sinnzusammenhang stehen.

    Herr Roch taucht in sein Manuskript ein, er liest es uns quasi vor. Allerdings aus den genannten Gründen nicht chronologisch, was den Text kurzweilig und ungewöhnlich macht. Es handelt sich im Grunde um einen Autorenroman: Roch lässt viele österreichische Schriftsteller/innen, die das vergangene Jahrhundert literarisch geprägt haben, darin auflaufen. Er verwickelt sie in allerlei mehr oder weniger interessante Episoden und Geschichten, auf deren Wahrheitsgehalt es nicht ankommt. Robert Musil, Joseph Roth, Peter Handke, Albert Drach, Elfriede Jelinek, Franz Kafka, Ilse Aichinger, Ernst Jandl, Friederike Mairöcker und viele andere tauchen im Buch auf, was eine Freude für jeden literaturbewanderten Leser sein dürfte. Roch selbst scheint beim Lesen der Geschichten aufzuleben. Er sehnt sich zurück in die Vergangenheit, als die Literatur seiner Meinung nach noch Bedeutung hatte. Roch verquickt das Leben der berühmten Vorbilder mit eigenen Lebenserinnerungen, was dem Roman etwas sehr Berührendes verleiht. Rochs Schlaganfall hat offenbar Spuren hinterlassen, die über ein hinkendes Bein hinausgehen: „So viel trifft schon zu: Die Zeit ist ins Gleiten geraten… Seit er sich hingesetzt hat, mit dem Vorsatz, diesen Roman zu schreiben… Oder ist es bloß er, der ins Gleiten geraten ist, auf dieser glatten abschüssigen Zeit? Manchmal, im Traum, hat er gesehen, wie er entweder hinter sich selbst zurückbleibt oder sich selbst davonfährt.“ (S. 97)

    Doch auch Lisas Perspektive ist interessant. Auch sie schreibt viel und gerne. Von ihrem Freund Ronnie hat sie sich getrennt, eigentlich aber auch nicht so richtig. Sie ist den üblichen altersgemäßen Spannungsfeldern einer 19-Jährigen ausgesetzt. Große Sorgen macht sie sich über ihre beste Freundin, die Iranerin Semira, der die baldige Abschiebung droht. Offenbar ist Semira untergetaucht, denn Lisa kann sie nirgends finden. Dieser höchst aktuelle Handlungsstrang durchbricht die latent vorhandene Nostalgie des Romans um Herrn Roch. Für meinen Geschmack nimmt dieser Teil einen fast zu geringen Teil der Geschichte ein. Hier hat Peter Henisch es versäumt, mit mehr Fakten und Sichtweisen ein tieferes Verständnis für die Problematik von Flüchtlingen ohne dauerhaftes Bleiberecht in Europa zu wecken. Einen diesbezüglichen Appell an die Mitmenschlichkeit kann man zum Ende hin zwar herauslesen, doch verhallt er ziemlich schwach. Der Leser bekommt leider keine Gelegenheit, Semira mit ihrem Umfeld näher kennenzulernen, wodurch Chancen vertan werden.

    „Der Jahrhundertroman“ liest sich trotz der großen Namen erstaunlich flüssig, man benötigt keinerlei Vorwissen, die einzelnen Geschichten stehen für sich. Sie sind die bibliophile Stärke des Romans. Wunderbar gezeichnet sind die beiden Protagonisten, die beide auf ihre Art sperrige Charaktere sind und nicht leicht zueinander finden. Auch die mütterliche Caféhausleiterin Frau Resch wird herrlich beschrieben. Gut gelungen scheint mir auch das Wiener Kolorit vergangener und gegenwärtiger Zeiten zu sein, die zahlreichen Dialoge (ohne Redezeichen) wirken mit ihren verwendeten Austriazismen sehr authentisch.

    Mir persönlich fehlt der Bezug zu den oben genannten Schriftsteller-Persönlichkeiten. Insofern hätte mich die Nebenhandlung rund um Semira stärker interessiert, die mir insgesamt zu kurz kommt. Auch wenn der Spannungsbogen zum Ende hin deutlich ansteigt, hat mich das offene Ende etwas ratlos zurückgelassen. Insofern kann ich keine eindeutige Empfehlung für den Jahrhundertroman aussprechen. Kenner der österreichischen Literaturszene werden jedoch möglicherweise völlig anders urteilen.

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