Der Inselmann: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Inselmann: Roman' von Dirk Gieselmann
4.4
4.4 von 5 (18 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Inselmann: Roman"

Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:176
EAN:9783462000252

Rezensionen zu "Der Inselmann: Roman"

  1. Gebt den Außenseitern in dieser Welt einen Platz zum Leben

    In einer Nacht- und Nebelaktion verlässt eine kleine Familie mit wenig Habseligkeiten das Festland um auf einer See-Insel zu leben. Für den zehnjährigen Hans ein unverrückbarer Lebensinhalt, der ihm Halt und Hoffnung gibt. Viel mehr wird er nicht haben und doch hat er alles.

    Dirk Gieselmann erzählt in seinem Debüt, wie der zehnjährige Hans zusammen mit seinen Eltern auf eine Insel zieht, die nur von ihnen bewohnt wird. Lediglich eine Schafherde, die den Lebensunterhalt sichert und ein Hütehund leisten ihnen Gesellschaft. Der Schreibstil ist eindringlich und schonungslos direkt. Eine düstere Melancholie legt sich über die Seiten und bleibt als Grundstimmung der Handlung erhalten. Der Autor versteht es auch die kleinsten Details hervorzuheben und ihnen eine Stimme zu geben.

    Hans liebt die Einsamkeit und die Nähe zu seinen Eltern. Auf der Insel vergisst er die Zeit und verschmilzt mit der Natur und seinen Bewohnern. Hier fühlt er sich wie ein König in seinem Reich.

    "Er dachte an das, was er sich so sehnlich gewünscht hatte. Jetzt war er noch immer der Ärmste, aber der Reichste zugleich."
    Doch die kurze Idylle trügt, denn das mehrfache Fernbleiben des Jungen in der Schule bleibt nicht unentdeckt. Sachlich und voller Kälte wird die Bootsfahrt ans Festland beschrieben. Hans wird in die Burg, eine Anstalt für schwer erziehbare Kinder, gebracht. Sieben Jahre voller Qual und Leid muss er überstehen. Fast wie im Märchen stellt man sich die Frage: Was ist die Moral aus der Geschichte?

    Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, ohne daran zu brechen. Was ist mit den Eltern, die ihren Sohn verloren haben. Was ist mit Hans, der seiner Heimat beraubt wurde? Poetisch, fast lyrisch wird die Stimmung immer wieder eingefangen:

    "Hans, der Verwundete. Hans, der Unverwundbare. Hans, der unter Hieben lächelt."

    Man versinkt in diesem Text. 176 Seiten, die mich festgehalten haben und immer wieder innehalten ließen. Hans Einsamkeit ist laut und eindringlich. Immer wieder der Blick auf den See und die Insel, die sich nicht ändern, was auch um sie herum geschieht.

    "Der See wechselte sein Wasser aus, die Flüsse halfen ihm dabei. Sein Spiegel stieg, sein Spiegel sank und stieg dann wieder. Er fror zu und taute auf, viele, viele Male."

    Dies ist kein Roman für eilige Leser. Die Betrachtung eines ganzen Lebens findet auf diesen wenigen Seiten Raum. Es geht ans Herz und darüber hinaus. Ein Menschenleben fern jeden Konsums, Geltungsbewusstseins und Konkurrenzdenkens. Gebt den Außenseitern in dieser Welt einen Platz zum Leben.

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  1. 4
    21. Mär 2023 

    Über Einsamkeit - traurig, schön und pure Poesie

    In den frühen 1960er Jahren irgendwo in Deutschland leben der 10jährige Hans und seine Eltern, die davon träumen, dieser Welt zu entfliehen. Dies wird eines kalten Wintertages mit großer Kraftanstrengung und viel Geduld in die Tat umgesetzt: die Familie zieht auf eine abgeschiedene Insel im nahegelegenen See. Dort gibt es ein Haus, in der ein Schäfer mit seinem Hund gelebt hat. Hans' Familie tritt in seine Fußstapfen und der Hund wird Hans' bester neuer Freund. Während die Eltern damit beschäftigt sind, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen, sträunert Hans ganz seelig allein mit Hund über die Insel und genießt die Stille.

    "Bald, sehr bald würde er ein Inselkönig sein, gekrönt durch sich selbst.
    Hans, der Erste.
    Hans, der Große.
    Hans, Herrscher von Amerika." (S.15)

    Endlich ist Hans seinen Peinigern aus der Schule entkommen. Aber auch Sehnsucht nach seinem Freund Kalle bricht sich Bahn. Die Einsamkeit kann einerseits schön, andererseits aber auch traurig sein.

    Als man in der Stadt vom neuen Wohnsitz der Familie erfährt, ändert sich einiges. Und durch ein bisschen Ungehorsam von Hans ändert sich gleich sein ganzes Leben.

    "Hans, einer von vielen.
    Hans, Knecht unter Knechten.
    Hans, der nicht mehr Hans ist." (S.112)

    Mit großer Zartheit und fantastischen poetischen Bildern erzählt Gieselmann die Geschichte von Hans -von seinem Inselmann. Die Sprache des Romans könnte Hans als König der Insel eigentlich den Rang streitig machen. Die Sprache ist wunderbar, mit eingängiger Melodie und melancholisch träumerischen Bildern. Kurze Sätze bringen das Geschehen voran, so dass trotz des knappen Umfangs viel passiert. Im Äußeren, wie auch im Inneren von Hans.

    Macht sich anfangs beim Lesen noch eine angenehme Stille breit, so gibt es plötzlich so etwas wie einen Knall, und alles ist anders. Ich persönlich empfand dies als Bruch und hadere ein wenig mit der unerwarteten Wendung. Die Stille wurde jäh durchbrochen, wie unangenehm. Aber möglicherweise genau so gewollt.

    Was danach kommt, bleibt bei mir nicht mehr gut haften. Dies zeigt mir, dass der Roman trotz großer Sprachwunder auch Distanziertheit mit sich bringt. Richtig gut bei Hans bin ich nicht angekommen. Im Gegensatz zu ihm selbst...

    Das Ende bringt die Stille zurück. Eine andere Stille. Friedlich, erschöpft, einsam... aber schön.

    Welch ein Zufall, dass ich dieses wunderbar poetisch-lyrische Werk ausgerechnet am "Welttag der Poesie" rezensiere ;)

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  1. Ein Kleinod der Stille in diesen lauten Zeiten

    „Wer angekommen ist, hat weit zu gehen.“ (Tomas Tranströmer, aus: Aus einem afrikanischen Tagebuch, 1963 in: Sämtliche Gedichte)

    Wenn ein Buch mit einem Donner-Satz wie „Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.“ (S. 7) beginnt, hat der geneigte Leser nicht nur eine Gänsehaut vom Lesen, sondern womöglich auch DAS Debüt des Jahres vor sich. Vorausgesetzt, man lässt sich auf den folgenden gut 170 Seiten auf den lyrisch-reduzierten Schreibstil von Dirk Gieselmann ein, der mit „Der Inselmann“ (2023, Kiepenheuer & Witsch) ein famoses Erstlingswerk veröffentlicht hat.

    Wie passt nun die Beschreibung des 1. Satzes zu der Überschrift dieser Rezension? Nun, auch in der Stille ist bzw. kann es laut sein – vorausgesetzt, man spitzt die Ohren und nimmt (ungewohnte) Geräusche, Klänge etc. wahr und lässt diese an sich heran.

    Hans Roleder zieht in den 1960er Jahren mit seinen Eltern auf eine einsame Insel – genau verorten lässt sich der Ort der Handlung nicht, aber dass es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR spielt, lässt sich durch Kleinigkeiten im Text erahnen.

    Von Anfang an liegt eine Atmosphäre des Frostes über dem Text (s. erster Satz). Diese Kälte zieht sich dann auch wie ein roter Faden bis zum Ende, denn was die Leserinnen und Leser über Hans, seine Eltern, das (Zusammen-)Leben auf der Insel, den Umgang untereinander erfahren, lässt einem immer wieder eisigen Schauer über den Rücken laufen.

    Und trotzdem: durch die einfühlsam reduzierte Sprache, die dadurch etwas Lyrisches bekommt (der Einfluss Tomas Tranströmers auf Herrn Gieselmann scheint nach meinem Eindruck sehr groß zu sein – ich meine das als Kompliment!), wird die (Lese-)Temperatur wieder erhöht, Ruhe kehrt ein und als Leser:in kann man sich fallen lassen in die Geschichte um den „Inselmann“, die für mich jetzt schon zu DEN Debüts und Büchern des Jahres 2023 gehört!

    Wohlverdiente 10 von 5* Sternen und eine glasklare Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

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  1. Reif für die Insel?

    Die Handlung beginnt mit dem Entschluss von Hans Eltern, dem Alltag zu entfliehen und die Hoffnungen auf ein Inselleben zu setzen. Wir wissen nichts Genaueres über den Handlungsort und die konkreten Umstände. Während dieser Schritt für seine Eltern eine Notwendigkeit zu sein scheint, erfährt Hans die Veränderung als eine Art Abenteuer. So wird es ihm möglich, nervenden Klassenkameraden zu entfliehen und auf der Insel sein eigener König zu sein.

    Atmosphärische Bilder ziehen auf und wechseln einander ab. Da ist zunächst das schier endlos erscheinde Warten auf das Schiff in eisiger Kälte, das sie zur Insel bringen soll. Die Ankunft steht ebenfalls nicht unter einem guten Stern, die erhoffte Wende scheint auszubleiben. Düster geht es weiter mit dem Fund eines toten Kalbes, eines abgemagerten Hundes, einem ins Wasser gegangenen Schäfers und am Ende der brieflichen Anweisung, Hans habe zu Beginn September in der Schule zu erscheinen.

    Hans pendelt zur Schule. Der Alltag hat ihn wieder. Er wünscht sich fort, fernab der nervenden Kinder, die in ihm einen Verräter sehen. Diesen düsteren Einbruch in das hoffnungsfrohe Inselleben, in dem sich der Junge gerade erst einzurichten beginnt, wird von Gieselmann gekonnt inszeniert - auch in sprachlicher Hinsicht.

    Doch Hans fasst einen Entschluss. Er will ausbrechen, beginnt die Schule zu schwänzen. Dies bleibt nicht ungestraft, und so landet er in einer Besserungsanstalt, in welcher die Kinder und Jugendlichen zur Disziplin gedrillt werden. Ziel ist es, die Kinder und deren Widerstand zu brechen - notfalls auch mit Gewalt. Hans lässt dies jedoch kalt. Es scheint, die Sehnsucht, auf die Insel und zu seinen Eltern zurückkehren zu können, hält ihn aufrecht. Schließlich kommt der Tag X und Hans kehrt zurück....

    Den Roman habe ich sehr gerne gelesen. Der Autor überzeugt mit einer sehr bildhaften, atmosphärischen und teils poetischen Sprache. Die Atmosphäre des einsamen und verlassenen Jungen ist sehr erdrückend geschildert. Etwas schwer habe ich damit getan, dass vieles nur angedeutet bleibt. Letztlich könnte die Geschichte vielleicht überall spielen. Es scheint nicht relevant, wo das Geschehen sich ereignet, und was die konkreten Gründe für die Eltern sind, auf eine Insel überzusiedeln. Am Ende scheint es mir ein gesellschaftskritischer Roman über die Unmöglichkeit zu sein, der Gesellschaft und ihren Zwängen zu entkommen. Hans sucht Einsamkeit und Individualität. Auf der Insel scheint er Außenseiter sein zu dürfen, so dass er sich kurzfristig vielleicht wie ein König fühlt. Doch dauerhaft funktioniert dies nicht. Die Realität bricht in diese Wunschvorstellung herein und es wird klar: gesellschaftlichen Zwängen kann man nicht entrinnen. Die Botschaft scheint düster. Zumindest in meiner Lesart.

    Ich habe das Buch insgesamt betrachtet trotz der bleibenden Leerstellen sehr gerne gelesen und empfehle es gerne weiter.

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  1. 4
    06. Mär 2023 

    Einsamkeit

    Der zehnjährige Hans zieht mit seinen Eltern auf eine unbewohnte Insel, mitten in einem großen See. Gründe für diese ,,Flucht“ werden nur angedeutet. Auch genauere Orts- oder Zeitangaben werden nicht genannt, lassen sich stellenweise aber aus der Handlung erschließen. So spielt die Handlung sich vermutlich Anfang der 60er Jahre im Osten Deutschlands ab.
    Für die Eltern ist der Umzug eine Flucht vor der Stadt und vor der Realität. Für Hans bedeutet die Insel trotz der harten Lebensbedingungen eine große Freiheit. In der Natur findet er ein Zuhause, das ihm die emotional sehr verkümmert wirkenden Eltern nicht bieten können. Doch als die Behörden auf den Jungen aufmerksam werden, muss Hans täglich zur Schule rudern. Dort findet sich der einzelgängerische Junge nur schwer zurecht und wird Opfer bösartiger Mitschüler und unverständiger Lehrer. Da er dann beginnt, die Schule zu schwänzen, wird er in ein Internat für schwer erziehbare Kinder eingewiesen. Das gnadenlose System dort kann er nur mit seinem Wunsch, auf seine Insel und in die Einsamkeit zurückzukehren, ertragen. Doch erst Jahre später kehrt er dorthin zurück.
    Der Roman ist sehr poetisch geschrieben und wirkt, nicht nur durch die ausdrucksstarke Sprache, sondern auch aufgrund der oft nur angedeuteten Realität, märchenhaft. Dieser poetische Stil wirkt stellenweise allerdings auch etwas überladen.
    Besonders die Passagen, in denen Hans in der Schule oder im Internat Unverständnis und Quälereien ausgesetzt ist, sind sehr ergreifend. Auch die Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinen Eltern, die sich dann auch auf alle seine menschlichen Kontakte auswirkt, ist bedrückend. Hans‘ Eigensinn und Wunsch nach Einsamkeit wird durch seine Lebensgeschichte verständlich. Dennoch hinterlässt die Lektüre bei mir einen zutiefst traurigen und melancholischen Eindruck.

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  1. Hans und seine Insel

    Hans und seine Insel

    Hans Rohleder zieht mit seinen Eltern auf eine Insel, der Vater wird von nun an für die Schafe sorgen. Als der Kahn die kleine Familie dort absetzt, hat es etwas endgültiges, denn das Boot wird erst in einigen Monaten wiederkommen. Warum die Eltern sich für dieses Exil entschieden haben wird nicht ganz klar, fest steht aber, dass sie mit sich und ihrer Welt nicht im Einklang sind. Hans bekommt keine Zärtlichkeiten, wird zwar versorgt, aber eben nicht umsorgt. Die Streitereien mit dem Nachbarjungen zeigen, dass Hans auch dort den kürzeren zieht. Und so ist die Insel für den Jungen wie eine Erfüllung, er mag diese Insel, und liebt den Hund, den der alte Schäfer zurück gelassen hat.
    Doch leider währt dieses karge, aber idyllische Leben für Hans nicht lang, nach wenigen Monaten erhalten die Eltern einen Brief, Hans muss von nun an täglich wieder in die Schule. Als ein Vorfall aus dem Ruder läuft entschließt sich Hans nicht mehr hinzugehen. Eine Verkettung von schlimmen Ereignissen nimmt ihren Lauf, Hans muss der Insel Lebewohl sagen.

    Im weiteren Verlauf nimmt der Leser stark an Hans Erlebnissen teil, er begleitet ihn und erlebt, wie er in jeder Lebenslage auf seine Weise immer noch Halt und Geborgenheit in seiner Insel findet. Auch im hohen Alter ist sie das einzige, was er wirklich braucht., was ihn erfüllt.

    Eine poetische Sprache, die viele wunderschöne Sätze hervorbringt, deren Inhalt aber trotzdem düster und teilweise trostlos wirkt. Das Ende lässt sich sowohl positiv als auch traurig deuten, und über allem die Frage: Gab es den Inselmann, oder ist alles nur ein Märchen?

    So oder so hat mir dieser Roman recht gut gefallen, wenn auch die Grundstimmung melancholisch ist, so gibt es immer wieder Situationen die zeigen, dass Hans im Einklang mit der Natur ist. Er hat nie das Gefühl von Geborgenheit erlebt, zumindest kam dieses Gefühl nie von Menschen aus seinem Umfeld. Lediglich der Hund und die Insel konnten ihm etwas vergleichbares geben. Reicht dies einem Menschen zum glücklich sein? Eine Frage, die ich für mich immer noch nicht abschließend beantworten konnte….

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  1. »Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.«

    Anfang der Sechziger zieht das Ehepaar Roleder mit seinem kleinen Sohn Hans auf eine unbewohnte Insel mitten in einem großen See – eine Realitätsflucht, die der vernachlässigte Junge nicht versteht, die ihm aber eine neue Heimat schenkt. Mehr als seine Insel und seinen Hund braucht er nicht zum Glücklichsein, doch dann soll er jeden Tag zur Schule auf dem Festland rudern – und das führt dazu, dass er alles verliert. Erst Jahre später kann sich Hans auf den beschwerlichen Weg zurück nach Hause begeben, ohne zu wissen, wie seine Eltern ihn empfangen werden.

    Die Geschichte ist zutiefst bedrückend, denn Hans wird viel Unrecht getan. Er hat keine Eltern, die je wirklich hinter ihm stehen. Keine Freundschaften, die ihm bleiben, und das nicht aus eigener Schuld. Von einem klassischen Spannungsbogen will ich gar nicht sprechen; es war die Hoffnung auf eine Wendung seiner Geschicke, die mich weitertrug. Wenn schon nicht Glück, dann wünschte ich ihm wenigstens Frieden.

    Viele Fragen bleiben offen, und in unserer Leserunde kam die Überlegung auf, ob deren Beantwortung denn überhaupt wichtig und bedeutsam gewesen wäre. Es ist keine handlungsgetriebene Geschichte; sie wirft nur einen Stein ins Wasser, und du schaust dann den Kreisen zu, die sich in dir bilden, ganz individuell. Für mich machte dies sogar den besonderen Reiz des Buches aus; jede Leserin darf ihre eigenen Schlüsse ziehen. Nicht in jedem Roman funktioniert das, aber ich finde, hier ist die Geschichte stark genug, um diese Unbestimmtheit aushalten zu können.

    »Und was ist mit Hans?«

    Hans ist von Anfang an ein Verlorener. Schon als Kind geprägt von einen gefühlskalten, schweigsamen Elternhaus, findet er Momente der Ruhe und Zufriedenheit lediglich in der Natur. Er wird in sparsamen Charakterstudien beschrieben, die sein Wesen nur behutsam andeuten, und dennoch machen sie empathisch fühlbar, was ihm widerfährt. Doch was es für ihn bedeutet, steht auf einem anderen Blatt.

    Aber Hans muss doch unglücklich sein! Aber Hans kann doch unmöglich zufrieden sein. Aber Hans ist doch…? Schwer zu fassen.

    Je länger man liest, desto mehr fragt man sich, inwiefern man die eigene Vorstellung vom idealen Lebensmodell als Blaupause nimmt. Desto mehr begreift man, dass die für Hans schlichtweg nicht funktioniert. Und so wünschte ich ihm, als ich mich dem Ende näherte, vor allem, dass er mit sich im Reinen sein möge.

    Auch Hans’ Eltern werden in raschen, flüchtigen Skizzen beschrieben. Rückblickend bleibt mir von ihnen nur ein Gefühl der Versehrtheit, der emotionalen Kälte; man kann erahnen, dass sich dahinter eine Art von Trauma verbirgt. Das ist für die Geschichte völlig ausreichend, denn im Grunde sieht man sie mit dem Blick eines Kindes, das die Beweggründe der Erwachsenen noch nicht nachvollziehen kann.

    Der Autor haucht seinen Charakteren mit wenigen Worten Leben ein, ohne sie bis ins kleinste Detail auszuerzählen. Sie sind wie Scherenschnitte, die im Schattenspiel zum Leben erwachen.

    »Ist seine Geschichte traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?«

    Dirk Gieselmann findet wunderschöne, poetische Bilder für eine Geschichte, die im Kontrast dazu inhaltlich aufs Wesentliche reduziert wird. Die Atmosphäre trägt dich von Schlüsselszene zu Schlüsselszene, Trittsteine in einem eisigen Fluss. Du frierst im Sprühnebel, fühlst dich erdrückt vom düster schwelenden Himmel und kannst dich doch der kargen Schönheit nicht entziehen. Manchmal gewinnt die Erzählung auch einen märchenhaften, versöhnlichen Klang.

    Nur gelegentlich verliert sich der Roman in allzu detailverliebten oder zahlreichen Bildern, die sich mit dem inhaltlichen Minimalismus beißen, doch meist lässt er auch die Stille zu. Ob man den Roman mag oder nicht, steht und fällt indes wahrscheinlich mit der eigenen Bereitschaft, Dinge unerklärt loszulassen.

    Fazit

    Die Geschichte ist oft bedrückend, manchmal geradezu tragisch und schwer zu ertragen. Die Charaktere werden mit leichtem Strich angedeutet, und doch ist Hans ein Protagonist, mit dem man mitleidet und -hofft. Die lyrische Sprache trägt mit großartigen Bildern dazu bei, dass »Der Inselmann« sicher lange im Gedächtnis bleibt; nur gelegentlich ist sie etwas überfrachtet mit Metaphern. Doch die vielen wunderschönen Sätze machen die wenigen weniger gelungenen mehr als wett.

    Der Roman gibt keine Lösungen vor, es liegt voll und ganz im Auge des Betrachters, wie er oder sie die Dinge interpretieren möchte. Und gerade das macht aus ihm ein tiefgründiges Leseerlebnis.

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  1. 5
    02. Mär 2023 

    Ein Sprachstil zum Niederknien!

    „Allein auf einer Insel leben" - für den Einen ist dies ein Fluch, für den Anderen ein Segen. Die Wahrheit für Hans Roleder, der Inselmann aus Dirk Gieselmanns gleichnamigem Roman liegt irgendwo dazwischen.
    Auf seine Insel kommt Hans im Alter von 10 Jahren. Wir befinden uns in den 60er Jahren inmitten der DDR, als Hans‘ Eltern beschließen, sich dem DDR-Alltag zu entziehen und fortan allein auf einer Insel zu leben, die in einem großen See liegt. Zwischen Festland und der Insel liegt genügend Abstand, um ein Leben ungestört von staatlichen Einflüssen zu leben, so dachten die Roleders. Doch eine gute Stunde Fahrtzeit mit dem Ruderboot ist für die staatliche Bürokratie kein Hindernis, wie insbesondere Hans zu spüren bekommt, als die Erfüllung seiner Schulpflicht eingefordert wird. Ihm, dem Träumer und Einzelgänger fällt schwer, sich dem Schulbetrieb zu unterwerfen. Doch mit seiner Gegenwehr hat er wenig Erfolg, ganz im Gegenteil. Der Staat nutzt die, ihm zur Verfügung stehenden Methoden, um den schwer erziehbaren Hans zu einem besseren Menschen zu machen, der seinen Platz wie alle anderen in der Gesellschaft einnimmt. Dieses Vorhaben schlägt fehl. Denn als Hans erwachsen ist, kehrt er auf seine Insel zurück und lebt sein Leben, wie es ihm gefällt.

    Hans war emotional betrachtet schon immer ein Inselmann. Der Grundstein für seine Isolation wurde bereits vor dem Umzug auf die Insel gelegt. Seine Eltern haben ihrem einzigen Sohn nie mehr als die nötige Aufmerksamkeit entgegengebracht: Ein Dach über dem Kopf, geregelte Mahlzeiten, ein paar Spielsachen - was seine emotionale Entwicklung betraf, war Hans also auf sich allein gestellt. Ein Freund aus der Nachbarschaft vor dem Umzug war ihm gefühlsmäßig näher als seine Eltern. Hans schafft sich daher eine eigene Gedankenwelt, in die er sich zurückzieht, weil er hier mit sich allein ist und auf seine selbstgewählte Weise leben kann.
    „Der Inselmann“ ist ein traurig-melancholischer Roman, der von einem Sprachstil dominiert wird, der mich in seiner Poesie und stilistischen Bandbreite begeistert hat. Es gibt kaum ein Stilmittel, das sich nicht in diesem Roman finden lässt.
    Besonders haben es mir die Erzählperspektiven in diesem Roman angetan und deren plötzliche Wechsel, wobei die Geschichte nicht nur aus Sicht der Protagonisten erzählt wird, sondern auch für kurze Momente aus Sicht von weniger menschlichen Figuren, Gegenständen usw.. Doch alle haben eines gemeinsam. Ihre Darstellungen wirken seltsam entrückt und in sich gekehrt, als ob sie das Geschehen aus der Isolation heraus betrachten und nicht zu der Realität dazugehören.
    Dies ist nur ein Beispiel für die außergewöhnliche Erzählweise des Dirk Gieselmann.
    Die Geschichte über einen Einzelgänger, der einer bleiben wollte, erzählt in dieser hochpoetischen Sprache hat mich daher mehr als beeindruckt.
    Mein Fazit: "Der Inselmann" ist ein literarischer Hochgenuss.

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  1. Er hat sein Herz, seine Seele an diese Insel verloren...

    !ein Lesehighlight 2023!

    Klappentext:

    „Anfang der Sechziger in einem entlegenen Teil Deutschlands. Das Ehepaar Roleder zieht auf eine unbewohnte Insel inmitten eines großen Sees. Es ist eine Flucht nach innen, vor der Stadt und der Wirklichkeit. Mit dabei ist ihr Sohn Hans, der auf der Insel ein neues Zuhause findet. Und noch so viel mehr. Denn mit der Zeit scheint der schüchterne Junge geradezu mit der Insel, den Bäumen, dem Laub, dem Moos und dem Gestein zu verwachsen. Hans wird zum König der Insel. Bis, mit dem Bescheid der Schulbehörde, die Realität in seine kleine große Traumwelt einbricht und ihn von Insel und Eltern trennt. Es ist der Beginn einer beschwerlichen Odyssee, gelenkt zunächst von gnadenlosen Institutionen des Staates und schließlich dem einen großen, pochenden Wunsch: zurückzukehren auf seine Insel, in die ersehnte Einsamkeit im Schatten der Welt. Doch: Wie wird die Insel, wie werden die Eltern ihn empfangen?“

    Autor Dirk Gieselmann hat mit „Der Inselmann“ sein Debüt auf den Literaturmarkt gebracht und dies gleich mit einer enorm hohen Messlatte versehen. Seine Geschichte rund um die Familie Roleder bzw. der Hauptprotagonist ist eigentlich Hans, ist gespickt von einer kräftigen und deutlichen Sprache, von Gefühlen, von Wünschen, von Hoffnung. Einerseits beschreibt Gieselmann die „Flucht“ der Familie aus der Stadt raus in die Einsamkeit wie sie in der heutigen Zeit unheimlich populär geworden ist. Die Menschen wollen raus aus den Städten, sie wollen aufs Land, wollen ihre Ruhe, wollen zurück zu ihren „Wurzeln“ finden. Wie aber sehen das die Kinder? Hier in der Geschichte findet Hans sein ganz persönliches Glück: er findet die Einsamkeit in der er doch nicht wirklich einsam ist, denn die Natur wird sein Freund. Er er verwächst mit der Insel wie Moos auf Dächern oder Wiesen wo es eigentlich nicht immer erwünscht ist. Er verwächst aber positiv. Er lernt von der Natur, lässt sich auf sie ein und stellt keine Bedingungen an sie. Diese Blase platzt als der Brief von der Schulbehörde alles zunichte machen zu scheint. Das Moos wird aus dem Rasen geharkt - Hans soll die Insel verlassen. Es ist selbst für den Leser bedrückend zu lesen wie sehr ihn das alles schmerzt. Gieselmann holt hier zwar weit aus aber es passt alles sehr gekonnt zusammen. Der Ton, der Ausdruck, die Wortwahl (äußerst poetisch, fast lyrisch angehaucht!), die bildhaften Beschreibungen - alles passt perfekt zusammen! Hans hinterlässt ein Loch wie eben bei einem frisch vertikutieren Rasen und nicht nur er stellt sich die Frage, wie wird es sein wenn er wieder kommt? Füllt er dieses Loch wieder? Verwurzelt er mit seiner Insel wieder? Das müssen Sie aber schon selbst erlesen! Fest steht jedenfalls um es bildhaft und mit einer Metapher zu sagen: Moos kommt immer wieder, egal wie oft man vertikutiert oder es aus dem Rasen harkt. Ob das für Hans zutrifft? Lesen Sie diese bewegende Geschichte, die absolut zum nachdenken anregt und nachhallt. Dirk Gieselmann hat ein fabelhaftes Debüt vollbracht welches tief unter die Haut geht und Neugier wecken lässt auf die nächsten neuen Werke des Autors. Man sollte sich den Namen Gieselmann definitiv merken! 5 Sterne vergebe ich für „Der Inselmann“.

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  1. 4
    20. Feb 2023 

    Ein Leben in Einsamkeit...

    "Er war zehn Jahre alt, und er wusste: wenn er nicht erfröre, würde heute sein Leben beginnen. Er wusste es, wie nur ein Kind es wissen kann, auch wenn es falsch sein mag." (S. 9)

    Dirk Gieselmann präsentiert in seinem Debüt einen nahezu lyrischen Kurzroman, der ein Leben in Einsamkeit skizziert. Er setzt ein zu dem Zeitpunkt, als der Junge Hans zehn Jahre alt ist und mit seinen Eltern auf eine unbewohnte Insel in einem See flieht - wovor auch immer. Dies bleibt ebenso vage wie die Ortsangaben und die Zeit, zu dem der Roman spielt. Das Zeitempfinden ist einer der Aspekte, die hier sehr bildhaft umschrieben werden:

    "Die Zeit verging, kehrte um und verging dann noch einmal. Es kam nicht nur ein Februar, es kamen gleich zwei oder drei. Dann kam ein März und ein weiterer. Dann noch ein Februar. Es war nicht so, dass nichts geschah: Das Nichts geschah, das dunkelweiße Nichts eines nicht endenden Winters." (S. 67)

    Hans wächst in einem gleichgültig-lieblosen Umfeld auf, geprägt vom Schweigen der Eltern. Einziger Lichtblick ist sein Freund Kalle, dessen Kindheit aus Angst vor den Eltern und vor gewalttätigen Schulkameraden besteht. Doch Kalle kommt nicht mit auf die Insel, Hans ist nun ganz allein und hat nur den alten Mudi, einen Hund, der schon vor ihnen auf der Insel war. Dennoch fühlt sich Hans nicht unglücklich, da auf der Insel, wo er immer mehr eins mit der Natur sein kann. Wäre da nicht die Schulbehörde, die auf seinen Schulbesuch pocht. Und schließlich der Einsamkeit die Ohnmacht gegenüber Ereignissen und Mitmenschen hinzufügt, das vollkommene Ausgeliefertsein von Willkür und Gewalt. Wie bleibt man Mensch unter derartigen Umständen? Welche Sehnsüchte bleiben da noch?

    "Für Hoffnung gilt das Gleiche wie für Süßes: Zu viel davon ist schlecht für Jungen." (S. 115)

    Eine düster-melancholische parabelhafte Erzählung zieht einen in ihren Sog, voller beeindruckender Sprachbilder und Metaphern. Märchenhaft-träumerisch fast, dadurch auch seltsam distanziert, nimmt die Geschichte doch gefangen. Ich will nicht vorgeben, alle Bedeutungsebenen entdeckt und verstanden zu haben, allein die lyrische Sprache konnte mich schon begeistern.

    "Was auch immer, wer auch immer, warum auch immer: Das sagte der Vater, wenn er nicht wusste, was stattdessen zu sagen gewesen wäre, und auch dann, wenn er es wusste. Er sagte es oft: Es war der Refrain seines Schweigens." (S. 16) "Klang sein Schweigen so wie ihres?" (S. 153 f.).

    Eine Erzählung über ein Leben in Einsamkeit. Über das was dann noch bleibt. Überwältigend atmosphärisch, beeindruckend sprachgewaltig. Bitter, düster, traurig - und doch schön und nicht hoffnungslos. Mich konnte der Kurzroman berühren.

    © Parden

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  1. 5
    20. Feb 2023 

    Die Vergangenheit als Dystopie

    Dirk Gieselmann erzählt uns in seinem Roman „Der Inselmann“ in einem extrem reduzierten Stil die Lebensgeschichte des Hans. Wann und vor allem wo Hans lebt, bleibt dabei genauso unklar und verschwommen wie viele seiner Lebensdetails. Wir lernen Hans zunächst als kleinen Jungen kennen, der mit seinen Eltern in ärmlichen Verhältnissen lebt. Aus aufgeschnappten Äußerungen der Eltern muss Hans und auch wir als Leser erkennen, dass die Eltern an ihren Lebensverhältnissen verzweifelt sind und dringend etwas ändern wollen/müssen. Doch was sie so verzweifeln lässt, bleibt dabei vollkommen im Unklaren. Sie wollen umziehen und zwar eine durchaus radikale Art. Denn es handelt sich nicht nur um einen Umzug in eine andere Wohnung bzw. eine andere Stadt, sondern es geht um einen Umzug an einen Ort, der nur als Fluchtpunkt von allem, was bisher war, verstanden werden kann. Eine Flucht aus dem Leben steht an und zwar auf eine Insel, die bisher einem Schäfer eine „Heimstatt“ und Arbeit bietet, dabei vollkommen abgeschieden ist vom Rest der Welt und vom Rest des Landes. Die Kontakte und Kontaktmöglichkeiten sind genauso eng begrenzt wie die Möglichkeiten, hier aus Armut und elenden Lebensverhältnissen herauszukommen. Doch für Hans ist dieses Leben, in dem er dem Vater mit den Schafen hilft und ansonsten die rauen Naturgegebenheiten der Insel für sich erkundet, ein kleines Paradies. Die üblen Angriffe der Mitschüler, denen er als offensichtlicher Außenseiter bisher ständig ausgesetzt war, treffen ihn hier genauso wenig wie die Herzlosigkeit des Lehrers in dessen Erziehungsversuchen. Doch diese Phase des Lebens dauert nicht an. Denn trotz Abgelegenheit hat auch hier der Staat seine Zugriffsmöglichkeiten und erzwingt den Schulbesuch von Hans, der seitdem eine Zeit lang tagtäglich aufs Festland rudert, um dort die Schule zu besuchen, in der er sich so gar nicht einfinden kann, und in der er keinerlei Empathie, Zuwendung oder menschliche Wärme findet. Er bleibt auch hier ein Mensch, der außerhalb der menschlichen Gemeinschaft steht. Kein Wunder also, dass der tägliche Schulbesuch nur eine vorübergehende Aktivität bleibt und bald wieder aufgegeben wird. Doch nun setzt der Staat mit voller Härte dagegen und lässt Hans in ein Erziehungsheim bringen, das als Burg gestaltet und inhaltlich eher einer Straf-, denn einer Erziehungsanstalt ähnelt. Nach Jahren der Qual wird Hans aus dieser Anstalt entlassen und versucht, sich wieder im Leben zurechtzufinden. Dazu gehört natürlich irgendwann auch ein Besuch auf der Insel, um die Eltern wiederzusehen. Er findet dort bei seinem Besuch aber nur den stark gealterten Vater wieder, der ihn nicht wieder aufnehmen will. Hans führt dann ein unangepasstes Leben auf dem Festland, bevor er erneut die Insel aufsucht und dort nun auch seine alte, schwache Mutter wiedertrifft. All das allerdings erneute ohne Gefühle, Herzenswärme und Aufnahme.
    Diese Geschichte erzählt Dirk Gieselmann uns in einer Form, von der ich nicht geglaubt hätte, dass es sie geben könnte. Er erzählt über die Vergangenheit als Dystopie und setzt damit die Definition der Dystopie, die ja eigentlich in der Zukunft angesiedelt ist, quasi ad absurdum. Aber es funktioniert erstaunlicherweise! Auch durch eine dystopische Darstellung der Vergangenheit kann man auf warnende Weise die Gegenwart spiegeln und den Lesern eine richtungsgebende Botschaft übermitteln. Die Frage aber ist, welche Gesellschaft Gieselmann hier in Form einer Dystopie darstellt. Die fehlenden Orts- und wenigen Zeitbezüge (etwa der Hund Laika im Weltraum) lassen mich an die DDR der 50er Jahre denken.
    Für dieses außergewöhnliche Format und die Stilsicherheit und atmosphärische Tiefe, mit der der Autor dieses gemeistert hat, bekommt der Roman neben meiner großen Achtung auch meine volle Wertung von 5 Sternen!

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  1. Trifft ins Herz

    Eine dreiköpfige Familie zieht kurz vor Weihnachten auf eine einsame Insel. Für die Eltern scheint es eine Flucht aus ihrem bisherigen Leben zu sein, für den 10-jährigen, sensiblen Hans ein Abenteuer und die Chance, endlich die ihn ärgernden Nachbarskinder hinter sich zu lassen. Hans streift durch die Insel, beobachtet genau, lernt sie immer besser kennen und lieben. Sogar sein Herzenswunsch nach einem eigenen Hund erfüllt sich als plötzlich ein herrenloser Mudi auf der Insel auftaucht und die beiden unzertrennlich werden. Nur seinen besten Freund Kalle vermisst Hans. Doch sein Leben als „Inselkönig“ nimmt ein Ende als Hans zurück zur Schule muss und schließlich in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche eingewiesen wird. Bei allen Grausamkeiten und Widrigkeiten, denen er im Leben ausgesetzt ist, trägt er die Insel, seinen Freund Kalle und seinen Hund Bull im Herzen und schöpft daraus Kraft.
    Vieles in diesem nur etwa 170 Seiten umfassenden Buch bleibt vage und wir erfahren kaum etwas über die Lebensumstände der Familie und ihre Beweggründe auf die Insel zu ziehen. Zeitlich setzt die Geschichte wohl in den 1960er Jahren ein, der Handlungsort scheint in der DDR zu liegen.
    Das außergewöhnliche an diesem Text ist die poetische, verdichtete, bildhafte Sprache, durch die eine intensive Atmosphäre und Raum für eigene Gedanke geschaffen wird. Es ist eine stille Geschichte voller Melancholie, wunderschönen Naturbeobachtungen, wenigen glücklichen und vielen bitteren und traurigen Momenten. Dabei sind wir nah bei Hans, der mit Situationen zurechtkommen muss, ohne verstehen zu können, warum ihm das alles widerfährt. Hans, der in einem sprachlosen, kommunikationsgestörten Elternhaus aufwächst, wird nie lernen unter seinesgleichen zu leben. Dafür findet er einen Zugang zur Insel, zur Natur, die von intensiver Schönheit ist und ihn glücklich macht. Beim Lesen schwankte ich zwischen Mitleid für Hans und einer Bewunderung für seine Stärke, seine Resilienz, seine Empathiefähigkeit allen Umständen zum Trotz.
    Doch was, ist „Der Inselmann“ eigentlich? Handelt es sich um eine hochpoetische, verdichtete, „traurig-schöne“ oder „schön-traurige“ Erzählung, ein im Realen verankertes Märchen oder ein zeitloses gesellschaftskritisches Stück, das Individualität, Einzelgänger- bzw. Außenseitertum verhandelt und kollektive Maßnahmen zur Umerziehung anprangert? Sicherlich finden sich alle diese Lesarten im Text.
    Sprache und Aufbau sind gelungen. Ich habe mich sehr gerne auf die sprachlichen Bilder eingelassen, war immer wieder tief berührt und getroffen von der Wucht und Schönheit der Worte. Auf emotionaler Ebene hat mich das Buch ins Herz getroffen, durchgeschüttelt, traurig und wütend, aber auch angerührt und zufrieden gemacht. Sogar glückliche Momente gab es im überwiegend bedrückenden Setting. Geschichte, Erzählweise, Atmosphäre und Emotionalität sind so außergewöhnlich, dass ich den "Inselmann" wohl nicht vergessen werde. Für mich ist das Romandebüt von Dirk Gieselmann eine kleine, hochpoetische, literarische Kostbarkeit.
    Ich empfehle aufgrund des Schreibstils allerdings vor der Lektüre die Leseprobe.

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  1. Ein hochpoetisches, traurig-schönes Kleinod

    „Es war so kalt, dass selbst der Wind fror.“ Mit diesem atmosphärischen ersten Satz lässt uns Autor Dirk Gieselmann in seinem Debütroman ankommen. Es ist eiskalt. Eine Familie hat ihre warme Stadtwohnung verlassen, um ihr Heil auf einer abgelegenen Insel mitten in einem See zu suchen. Warum? Das bleibt unklar, denn der kindlichen Erzählperspektive fehlen zunächst wichtige Informationen. Zeitlich gelingt es besser, die Handlung an den Anfang der 1960er Jahre zu verorten. Räumlich befinden wir uns irgendwo in der jungen DDR, die politisch beklemmende Situation scheint über der Familie zu schweben. Ebenso kalt wie die Temperaturen wirkt die Sprache. Die Protagonisten sind zunächst namenlos: Der Vater, die Mutter, der (zehnjährige) Junge. Die Drei stehen am Bootsanleger und warten stundenlang auf den Fuhrmann, der sie in ihr neues, einsames, zurückgezogenes Leben schippern soll. Der Junge empfindet den Neuanfang mit gemischten Gefühlen. Als introvertierter Außenseiter wird er zwar seinen Peinigern in der Schule entgehen, aber auch seinen besten Freund Kalle wird er nicht mehr treffen können. Letztlich muss er sich aber dem Willen seiner wortkargen, gefühlsarmen Eltern beugen, er hat keine Wahl.

    Im Zuge der ersten Hälfte des Romans lernt man sowohl das alte wie auch das neue Leben der Familie kennen. Man ist erschüttert, wie trostlos sich die Kindheit des Jungen Hans gestaltet. Seine Eltern scheinen nicht in der Lage zu sein, ihm Fürsorge, Wärme oder Liebe geben zu können. Warum das so ist, bleibt offen. Märchenhaft wird das Umfeld in der Stadt geschildert, ebenso surreal erscheint manche Szene auf der Insel. Doch Hans wird von der Insel sehr schnell in ihren Bann gezogen. Er wird eins mit ihr und ihrer herben Natur, er beobachtet intensiv die Tiere und Pflanzen, passt sich der Jahreszeit an. Als er noch Bull, den Hund des ehemaligen Schäfers, zum Freund gewinnt, ist Hans´ Glück fast perfekt.

    Doch leider ist es nicht von Dauer… Das Schulsystem ruft Hans mit all seiner Strenge und Konsequenz. Es brechen weitere tieftraurige Zeiten jenseits seines Zuhauses für den Jungen an, vor denen ihn seine Eltern nicht schützen können oder wollen. Hans muss sich selbst behaupten lernen und Stärke entwickeln. Auf diesem Weg bleibt ihm die Insel als sehnsuchtsvolle Erinnerung und unermessliche Kraftquelle erhalten.

    Das Herausragende an diesem Roman ist die ausdrucksstarke poetische Sprache. Man muss den Text langsam lesen, ihn fast zelebrieren. Der Autor schafft mit wenigen Worten eine unglaublich dichte emotionale Atmosphäre. Unzählige wunderschöne Metaphern und Stilmittel säumen den Text, der die Gefühle des Protagonisten ins Zentrum rückt. Seine Verlorenheit und Einsamkeit werden auf empathische Weise fühlbar, während man Hans´ Beobachtungen und Gedanken folgt. Vieles geschieht zunächst in Zeitlupe, später auch im Zeitraffer. Die Zeit vergeht ohnehin höchst unzuverlässig und lässt an den berühmten Zauberberg denken. Längst nicht alles wird auserzählt, manches bleibt im Ungefähren, überall ist Raum für eigene Interpretationen und Gedanken. Der Text beinhaltet poetische Bilder und innovative Wortkreationen, er lässt neben dem auktorialen Erzähler auch andere Erzählinstanzen zu.

    Der Roman hat mein Herz im Sturm erobert. Ich verzeihe ihm seine Leerstellen und die Fragezeichen, die vielleicht am Ende bleiben. Der Autor hat einen versiert lyrischen Umgang mit der Sprache, er streut Märchenmotive gezielt ein, verwendet Einschübe aus der Tier- und Sagenwelt. In seine Sätze kann man regelrecht eintauchen, ihre Aussage entfaltet sich dabei mit ungeheurem Tiefgang – man muss sich nur darauf einlassen können. Wer den Inhalt der Sprachbilder stets an der Realität abgleichen möchte, wird mit dem Inselmann nicht glücklich. Für mich haben gerade die Andeutungen und das Rätselhafte einen besonderen Reiz ausgemacht. Es ist ein Buch, das zwar von großer Melancholie durchzogen wird, dem aber nie die Hoffnung ausgeht. Man spürt, dass Hans an den Unbilden des Lebens nicht zerbricht. Er ist ein Kind der Nachkriegszeit, er hat gelernt sich anzupassen und das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen.

    Der Inselmann ist ein ungeheuer intensives Leseerlebnis. Selten haben mich Sprache und Stil so für sich eingenommen. Auch das Ende, bei dem Gieselmann ganz bewusst verschiedene Ebenen ineinander fließen lässt und damit Zweifel sät, hat mich komplett überzeugt. Er bleibt seinem Stil treu.

    Ich spreche eine riesige Leseempfehlung für diesen ambitionierten Debütroman aus, empfehle vor dem Kauf aber einen Blick in die Leseprobe. Man muss diesen besonderen Sprachstil mögen, um den Roman schätzen zu können.

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  1. 3
    17. Feb 2023 

    Von einer nebulösen Insel und einem heranwachsenden Jungen

    Dirk Gieselmann erschafft in seinem literarischen Debüt eine Welt der Natureindrücke in Verbindung mit teilweise selbstgewählter Einsamkeit, welches von poetischer Sprache gekennzeichnet ist und somit das Anliegen des Romans eher nebulös erscheinen lässt.

    Der kleine Hans zieht in einer wortwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion mitten im Winter auf eine einsame Insel mitten in einem See. Dort will der Vater die Aufgabe des Schafhirten übernehmen und die ganze Familie muss mit anpacken. Örtlich und seitlich ist der Roman Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in der DDR und nun begleiten wir auf den nur 170 Seiten Hans auf seinem gesamten mitunter tragischen Lebensweg.

    Das erscheint viel für so ein dünnes Büchlein? Man könnte meinen der Roman sei sehr dicht geschrieben? Das ist aber leider nicht so. Der Autor spielt in seinem atmosphärischen Werk mit vielen Auslassungen und Umschreibungen. Mal ziehen Wochen, mal Jahrzehnte an den Lesenden und auch an Hans vorbei. Das Buch ist so atmosphärisch, dass man schon gar nicht mehr weiß wohin mit dieser ganzen Atmosphäre. Denn Hans‘ Geschichte wird auf so eine überladene Art und Weise poetisch erzählt, dass es einen schon zu erdrücken droht. Fast jeder Satz enthält ein Sprachbild. Fast jede Begebenheit muss eine Metapher angeheftet bekommen. Diese Bilder sind mal gelungen, mal weniger gelungen. Auf jeden Fall würden sie mehr strahlen, wenn sie nur vereinzelt hätten vorkommen dürfen und damit noch stärker hätten herausstechen können. Durch diese angewandte Sprachgewalt gehen die gelungenen Bilder aber meist unter und bleiben nicht hängen.

    Zeitweise hat man das Gefühl sich in einem Märchen, einer Sage zu befinden. Das wäre dann auch in Ordnung und man könnte das Buch dementsprechend einordnen. Aber dem Autor scheint es wichtig gewesen zu sein, immer wieder Brotkrumen bezüglich der zeitlich und örtlichen Einordnung in den Text einzuweben. So wirkt das Setting Anfang der 1960er Jahre im noch jungen Staate DDR hochinteressant. Man fragt sich, warum der Vater für seine Familie den Rückzug ins Innere dieses Landes wählt, statt der Flucht nach außen, wie es so viele Bürger dieser Zeit gewagt haben. Aber dieser gesamte Themenkomplex wird weder erklärt, noch wenigsten erneut im Laufe des Romans aufgegriffen. So scheint es letztlich vollkommen irrelevant zu sein, wo und wann sich diese Sage abgespielt hat. Übrigens ebenso nebulös und merkwürdig: Der Umzug auf die Insel wird beschrieben, als handle es sich um einen vollständigen Rückzug aus der Zivilisation. Es wird gesagt, der Schiffer käme erst im Frühjahr mit Proviant etc. wieder. Später wird klar, das Hans aber auch einfach täglich zum Ufer rudern und weiter in die Schule gehen kann. Wie im zu Beginn des Buches beschriebenen Nebel um die Insel herum verschwimmt die Handlung und es bleibt kaum eine Quintessenz übrig. Ich konnte für mich persönlich so gut wie nichts mitnehmen aus dem Roman.

    Den Figuren, allen voran Hans, blieb ich fast den gesamten Roman über fern. Erst in der zweiten Hälfte des Buches wurde mein Interesse an seinem persönlichen Schicksal geweckt. Das ist für mich einfach zu wenig, um über den Roman hinweg zu tragen. Und noch einmal: Dabei handelt es sich nur um ein 170-Seiten-Romänchen! Bezogen darauf, dass der Sprachstil Gieselmanns einfach nicht meins war, konnte ich jedoch froh sein, dass die Geschichte so kurz ist.

    Letztlich würde ich keinesfalls von einer Lektüre abraten, man sollte sich aber definitiv einen ersten Eindruck über die Leseprobe verschaffen und überlegen, ob man das wirklich gerne lesen mag. Da mich die zwar nicht immer stimmige Geschichte in der zweiten Hälfte etwas mehr mitreißen konnte, runde ich auf 3 Sterne auf und überlasse jedem sein eigenes Urteil über diesen Text.

    2,5/5 Sterne

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  1. Ein Leben in Einsamkeit - melancholisch, bildhaft-poetisch

    Ein Büchlein nur, wenig Handlung, aber voll mit Gedanken und Beobachtungen in einer poetischen Sprache mit unverbrauchten Wortbildern. Ein Highlight, weshalb ich es ein zweites Mal gelesen habe.

    Mutter, Vater und ein Zehnjähriger warten auf ein Boot, das sie auf eine einsame kleine Insel in einem See bringen soll, wo sie in Zukunft leben wollen, abgeschieden von der Welt, die Eltern desillusioniert und unfähig zur Kommunikation, der Junge Hans optimistisch und voller Abenteuerlust. Es muss irgendwo in Deutschland sein; der Klappentext sagt: Anfang der Sechziger.

    Während die Eltern kärglich ihr Leben fristen, streunt Hans auf der Insel umher und lernt sie lieben, ihm zur Seite der alte Hund des ehemaligen Schäfers. Doch eines Tages bricht die Zivilisation in sein Leben ein; er muss in die Schule und von nun an befindet er sich in den Klauen gnadenloser Institutionen, in denen unglaubliche Zustände herrschen. Wird Hans daran zerbrechen? Wird er jemals auf seine Insel zurückkehren können? Wie wird sein weiteres Leben aussehen?

    Ein leises, stimmungsvolles Buch voller Melancholie, in dem vieles zwischen den Zeilen steht und wo ein Leben langsam in Einsamkeit verblasst...

    P.S. Dies ist die Rezension, die ich nach dem ersten Lesen verfasst habe, nur leicht abgewandelt.

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  1. Der Gebieter der Stille

    Irgendwo in der DDR zu Beginn der 1960er-Jahre: Der zehnjährige Hans ist ein Träumer und Einzelgänger. Sein einziger Freund ist Nachbarsjunge Karl-Georg und auch seine Eltern scheinen eher mit sich und ihren Problemen beschäftigt, als sich liebevoll um ihr einziges Kind kümmern zu können. Als der Vater beschließt, unter den vage bleibenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr weiterleben zu wollen, ändert sich für Hans alles. Denn von der Stadt ziehen sie auf eine Insel mitten in einem See. Während der Junge anfangs nur mit dem verwilderten Hund Bull Freundschaft schließt, fühlt er sich nach und nach eins mit der ansonsten unbewohnten Insel. Doch gerade, als er sein persönliches Paradies gefunden zu haben scheint, meldet sich die Schulbehörde und bestellt ihn zum Besuch der Volksschule ein...

    Dirk Gieselmann machte sich bislang vor allem als Journalist einen Namen und wurde unter anderem für seine humorvolle Live-Berichterstattung des Fußball-Magazins "11 Freunde" mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Überraschend ernst und gefühlvoll präsentiert sich sein Debütroman "Der Inselmann", der nun bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Es ist eine poetische Reise in die Seele eines jungen Individualisten, der irgendwie nicht in die Gesellschaft zu passen scheint. Gieselmann beobachtet und begleitet seinen kleinen Protagonisten mit großer Empathie und scheint immer eine schützende Hand über ihm ausbreiten zu wollen. Da überrascht es nicht, dass er Hans in einem Interview mit Radio Eins kürzlich als Freund bezeichnete. Für Hans ist diese Freundschaft überlebenswichtig, denn ohne seinen Förderer Gieselmann könnte er in doppeltem Sinne nicht in dieser Welt existieren.

    Ganz unmittelbar springt den Leser:innen die Schönheit des Textes ins Auge und ins Herz. Gleich zu Beginn legt der Autor damit den Grundstein für eine hochpoetische Reise seiner Hauptfigur und kreiert eine dichte Atmosphäre, in der Gieselmann zahlreiche wundervolle Bilder und Metaphern gelingen. Insbesondere die Naturbeschreibungen, aber auch Hans' Empathie mit den Tieren erinnern in diesen Momenten an Florian Knöpplers "Kronsnest", dem vielleicht bewegendsten Coming-of-Age-Roman der jüngsten Vergangenheit, auch wenn dieser handlungsorientierter und dialoglastiger war. Und im Finale tauchen sogar Bezüge zum jungen Aussteiger Christopher McCandless auf und Jon Krakauers dazugehöriges Buch "In die Wildnis". Denn letztlich ist Hans' Kampf nach persönlicher Freiheit auch immer ein Zwiestreit zwischen Kultur und Natur, zwischen Gesellschaft und Individuum.

    Zentrales Thema ist nämlich immer wieder die Individualität, die Freiheit des Einzelnen in einem nie explizit genannten Land, das doch so sehr auf das Kollektiv setzte. Doch auch die Stille hat für den Roman eine immense Bedeutung. So wird Hans an einer Stelle als "Gebieter der Stille" bezeichnet. Allerdings könnte man Dirk Gieselmann auch selbst als einen solchen bezeichnen. Denn ihm gelingt es, mit seinem erstaunlich leisen Roman, den kurzen, pointierten Sätzen und der großen Melancholie so viel im Leser zum Schwingen zu bringen, dass einen die vielen offenen Fragen letztlich gar nicht stören.

    Insgesamt gelingt Gieselmann ein bemerkenswerter und sprachlich innovativer Debütroman, dessen großer Pluspunkt die Atmosphäre ist, hinter die die eigentliche Handlung manchmal ein wenig zurücktritt. Hans ist ein liebenswerter Protagonist, dessen innere Entwicklung beeindruckt und unvergessen bleibt. Mit Gieselmann meldet sich eine weitere aufregende Stimme in der jüngeren deutschen Literatur zu Wort, von der wir hoffentlich noch viel hören werden.

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  1. Die Ballade von der gepeinigten Kreatur

    Kurzmeinung: Formal alles in die Waagschale geworfen ...

    Dirk Gieselmann widmet sich in seinem Romandebüt dem Außenseitertum. Irgendwann in den Anfangszeiten der DDR, wahrscheinlich noch vor Mauerbau und nach Laikas unmenschlichem, grausamem Abschuss ins nackte Weltall, zieht eine bettelarme und kommunikationsarme Familie, Vater, Mutter, Kind auf eine im Inland gelegene, sich also noch im System der DDR befindliche Insel. Ein halbes Jahr später schlägt das System gnadenlos zurück und zerstört den Versuch der Familie, sich zu retten. Wovor auch immer.

    Der Kommentar:
    Der Autor deutet örtliche und zeitliche sowie innere Umstände nur an. Dieses Vage, Fluide ist ein Grundprinzip des Romans. Genaue Angaben sind nicht, alles wird lyrisch umschrieben, „eine Woche verging, vielleicht ein Jahr oder drei“, „es kam nicht nur ein Februar, es kamen gleich zwei oder drei“. Letztlich ist es nur ein einziger Winter und ein kurzer Sommer, zwei Jahreszeiten, die Hans, das Kind, auf der Insel verbringen darf.
    Einsamkeit, Ausgeschlossenheit und Rückzug sind die Themen Gieselmanns. Er entzündet für die kurze Erzählung, die dennoch ein ganzes Leben umschließt, ein Feuerwerk an Metaphern, vornehmlich bezüglich der Natur: „Auf einer Schneewehe saß der Wasserrabe und betete mit ausgebreiteten Flügeln zur Sonne“. Der Einsatz vielfältiger Stilmittel, die hier nicht aufgezählt werden, man sollte sie selbst entdecken, ist das Auffälligste an diesem kleinen Roman, der bei Licht betrachtet storytechnisch nicht viel Fleisch auf den Knochen hat und am Ende andeutet – wieder einmal, dass er den Stoff einer Legende aufbereitet. Nichtsdestotrotz ist die Atmosphäre des Romanes dicht, wenngleich trostlos.
    Mit seiner gezielt lyrischen Sprache, nicht alle Sprachbilder sind rund genug, mit zeitlichen und inhaltlichen Verdichtungen gespickt, spart der Autor die Verpflichtung auf Erklärungen aus, das ist nicht ungeschickt. Hintergründe kann man ahnen, irgendwo im Nebel. But that‘s it. Vielleicht braucht man aber auch gar nicht mehr. Oder doch? Man kann den Roman auch so lesen: eine magere Handlung wird unterfüttert mit einigen plakativen Elementen, die jeder aus dem Zeitgeschehen kennt und gezielt aufgebläht mit lyrischen BIldern.

    Fazit: Letztlich zeigt sich „Der Inselmann“ wie ein langes Gedicht oder wie eine Ballade, die manchmal voller Sprachlust mit dem Surrealen spielt. Es ist ein Roman, der formal etwas Neues wagt, das ist nicht unspannend. Ob dieses Wagnis belohnt wird, entscheidet jeder Leser neu.

    Kategorie: Debüt. Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2023

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  1. LITERARISCH

    Eine Überschrift für dieses Rezension zu finden fand ich sehr schwer. Sie sollte kurz sein und genau das ausdrücken, was ich beim Lesen des Buches empfunden habe.
    Schon zu Beginn war ich fasziniert. Den Anfang des Buches kannte ich von der Leseprobe, aber da war mir die gekonnte Absatzbildung nicht aufgefallen. Nicht nur Gedanken oder Gespräche werden in Absätzen präsentiert, manchmal ist es auch nur ein Satz.
    Diese räumliche Trennung lässt den Leser genauer hinlesen. Lässt Zeit, das Gelesene zu erfassen und nicht einfach zu überlesen.

    Ein Beispiel ist dieser Satz:
    Die Stille war ein Lied, das lange schon verklungen war.
    Da er mit Abstand gedruckt ist, liest man genauer. Beim Schreiben der Rezension ist mir in der Satzstellung etwas verrutscht. das schon vor lange gesetzt. Und schon merkte ich, die Komposition, die Sprachmelodie und damit die Aussage ist eine andere.
    Wie Dirk Gieselmann mit Sprache umgeht ist wunderbar.
    Dazu kommt noch das sehr einfühlsame Thema des Buches. In fast jedem Satz oder Abschnitt kommen fast schon philosophische Betrachtungen des Lebens vor. Wie positiv der Junge mit 10 Jahren die Welt sieht, obwohl er eher eigentlich nicht Positives um sich hat. Weder die Mitmenschen meinten es gut mit ihm, noch lebten die Eltern ihm etwas Positives vor. Dennoch sieht es das Gute und Schöne. Schon am Anfang des Buches wird klar, dass wird nicht so bleiben. So heißt es, Die bedrohliche Schwermut....würde auf ihn übergehen.
    Wer nun den Eindruck bekommt, dass hier nur melancholische und philosophische Phrasen präsentiert werden, der irrt. Man merkt es gar nicht wie man in die Stimmung und die Entwicklung der Geschichte eingefangen wird , es ergibt sich beim Lesen.
    Ich empfand es als große Kunst, dieses Buch. Daher die Rezensionsüberschrift in Großbuchstaben.

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