Der Geigenbauer

Rezensionen zu "Der Geigenbauer"

  1. Der norwegische Geigenbauer (*1782) auf Smedvika

    Nachdem ich mit Marta Kristine ‚Die Hebamme‘, *1793, vom norwegischen Autor Edvard Hoem, kennengelernt hatte, war ich natürlich neugierig auf seinen neuesten Roman über ein weiteres Mitglied seiner Vorfahren: Lars Olsen Hoem, *1782, besser bekannt als ‚Der Geigenbauer‘.

    Wir erfahren von der Kindheit in Norwegen auf einem Bauernhof auf einer Anhöhe im Ytre Romsdal, als Jüngstes von drei Geschwistern + dem Stiefbruder Pe. Dieser Stiefbruder ist der einzige Sohn, der seiner Mutter nach einem Scharlachfieber, das ihren 1. Mann und 3 weitere Söhne dahingerafft hatte, geblieben war. Auch Mägde, z.B. Siri oder Guri, spielen immer wieder eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang.

    Das geheimnisvolle Verschwinden von Guri und das - aus diesem Grunde – drauf folgende Zerwürfnis mit Pe prägen sein ganzes weiteres Leben! Lars war groß, hatte Kraft und ‚es war nicht leicht, mit seinem merkwürdigen Gemüt zurechtzukommen.‘ Seine Zeit beim Militär und seine 5- jährige Gefangenschaft auf englischen Gefangenenschiffen taten ihr übriges. Einziger Lichtblick: sein Mitgefangener Monsieur Jean aus Nantes, dem er beim Geigenbau helfen durfte und der ihm dafür ‚das Geheimrezept des Firnesses‘ verriet.

    Erst mit Gunhild zieht bei ihm Freude ein und nach ihrer Hochzeit im April 1819 werden sie mit 7 Töchtern gesegnet. Im Jahr 1846 ‚beenden Gunhild und Lars das Gespräch, das an einem Januartag im Jahre 1815 begann. Dieses Gespräch war mal laut, dann wieder leise, mal tiefsinnig, mal schwerlos leicht gewesen.‘

    Der Schriftsteller (+ Theaterregisseur + Shakespeare-Übersetzer) Edvard Hoem lässt die Szenen bildhaft vor einem erstehen, so dass wir als Leserschaft z.B. das Gefühl haben, wir stehen mit an den Klippfischfelsen im Frühling auf Smedvika und waschen/salzen mit Gunhild den gefangenen Fisch (Kabeljau). Auch das bäuerliche und religiöse Leben dieser Zeit, sowie der Geigenbau – noch 30 Geigen sind von Lars Olsen vorhanden - sind virtuos beschrieben.

    Ich empfehle dieses Meisterwerk allen, die Interesse an gut recherchiertem, historischem Lesestoff haben. Mich hatte das Buch von Anfang an gepackt, ich war begeistert und vergebe vollkommen überzeugt die Höchstzahl der möglichen Sterne.

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  1. Ein Leben voller Überraschungen

    "Der Geigenbauer" ist ein weiterer Teil aus der Familienchronik von Edvard Hoem, von der auf Deutsch bisher "Heimatland. Kindheit" (Original 1985, übersetzt 2009), "Die Geschichte von Mutter und Vater" (2005 bzw. 2007) und "Die Hebamme" (2018 bzw. 2021) vorliegen. In Norwegen sind diese historischen Romane Bestseller, denn sie sind nicht nur Porträt des Verfassers und seiner Vorfahren, sondern zugleich Dokumente zur westnorwegischen bäuerlichen Gesellschaft ihrer Zeit mit unvergesslichen Naturbeschreibungen. Auf mich üben diese Romane eine solch große Faszination aus, dass ich im Sommer 2022 einige der Originalschauplätze nahe Molde besucht habe: den Hof, auf dem Edvard Hoem aufwuchs, und dessen Erbe er zugunsten der Schriftstellerei ausschlug, die Kirche seiner Kindheit, den Friedhof mit dem Grab der Eltern und den Romsdalsfjord. Dass ich mit Kristiansund unwissentlich auch in der Stadt war, die dem Geigenbauer Lars Olsen Hoem zur langjährigen Heimat wurde, hat mich nun besonders gefreut.

    Wahrheit und Fantasie
    Der Geigenbauer und Vorfahr Lars Olsen Hoem spielte schon in der Kindheit des kleinen Edvard eine Rolle in den Erzählungen seines Großvaters und wird in "Heimatland. Kindheit" erwähnt. Im Familiengedächtnis blieb einerseits sein abenteuerlicher Lebenswandel, andererseits sein über 50 Jahre währendes Zerwürfnis mit seinem älteren Halbbruder Pe, an dessen Unschuld beim mysteriösen Verschwinden der Dienstmagd Guri Lars trotz dessen gerichtlichen Freispruchs 1792 immer zweifelte. Fast 40 Jahre nach dem Erscheinen von "Heimatland. Kindheit" hat Edvard Hoem für "Der Geigenbauer" Archivmaterial, Kirchenbücher, Nachlassverzeichnisse, Stammrollen, Gefangenverzeichnisse, Zeitungsartikel, Augenzeugenberichte sowie Literatur zum Geigenbau und lokalhistorische Arbeiten aus dem frühen 19. Jahrhundert befragt und Fakten zusammengetragen, die er wie immer mit Fantasie ergänzte, größtmögliche Nähe anstrebend.

    Wenn alles anders kommt
    Lars Olsen Hoem wurde 1782 als Bauernsohn an der norwegischen Westküste geboren und träumte als Jugendlicher von einer eigenen Schute. 1801 wurde er einberufen, als Dänemark-Norwegen an der Seite Napoleons gegen England kämpfte, und nach einem 40-tägigen Marsch von Molde nach Schonen in der Seeschlacht von Kopenhagen als Ruderer eingesetzt. 1809 geriet er mit einem Getreideschiff in Höhe des Nordkaps in englische Gefangenschaft und wurde mehr als fünf Jahre auf Gefangenenschiffen festgehalten. Hier begegnete der musikbegeisterte Mann einem französischen Geigenbauer und lernte dessen Handwerk. Als Lars 1814 endlich nach Hause zurückkehrte, heiratet er Gunhild, bekam mit ihr sieben Töchter, lebte ab 1822 in Smedvika auf Nordlandet in Kristiansund und baute bis zu seinem Tod 1852 über 500 Geigen, von denen etwa 30 erhalten blieben.

    Ein magischer Erzähler
    Niemand beschwört die Vergangenheit ähnlich gut herauf wie der 1949 nahe Molde geborene Schriftsteller, Theaterregisseur und Shakespeare-Übersetzer Edvard Hoem. Er malt ein buntes Bild des 19. Jahrhunderts, lässt Klänge, Gerüche und Farben entstehen und schildert mit viel Zuneigung die tiefgreifenden Auswirkungen der Weltpolitik auf die Menschen an der Westküste und ihr beschwerliches Leben. Herausragend  sind die Abschnitte über den Geigenbau und die beschwerliche, gesundheitsschädliche Tätigkeit der „Klippfischfrauen“, die wie Gunhild auf den Felsen um Kristiansund Trockenfisch zum Export herstellten, außerdem die über die religiöse Strömung um den Erweckungsprediger Hans Nielsen Hauge (1771 – 1824), die in späteren Generationen der Familie Hoem große Bedeutung erlangte.

    Eine große Leseempfehlung!

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