Der feurige Engel. Roman.

Buchseite und Rezensionen zu 'Der feurige Engel. Roman.' von Walerij: Brjussow
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Inhaltsangabe zu "Der feurige Engel. Roman."

Format:Broschiert
Seiten:0
EAN:9783770125401

Rezensionen zu "Der feurige Engel. Roman."

  1. Das Zeitalter des Narrenschiffs

    "In einer Zeit, von der man heute zu sagen pflegt: Wer mit 23 nicht starb, mit 24 nicht ertrank und mit 25 nicht ermordet wurde, muss Gott für das Wunder danken."

    So charakterisiert Ruprecht, der Ich-Erzähler in "Der feurige Engel", seine Jugendjahre. 1504 wurde er in Losheim geboren, einem Städtchen im Dreiländereck zwischen Trier und Saarlouis. Er besitzt Menschenkenntnis und Lebenserfahrung: Sich selbst schätzt er nicht geringer ein "als jene, die sich eines zwei- und dreifachen Doktortitels rühmen", aber was er weiß, hat er nicht auf der Schulbank gelernt: "Von Jugend an war mir jede sitzende Beschäftigung zuwider", zur Enttäuschung seines kleinbürgerlichen Vaters. Ruprecht war Landsknecht, Söldner, Kaufmannsgehilfe und hielt sich etliche Jahre in "Neu-Spanien", also in Lateinamerika, auf. Mit ein paar Ersparnissen kehrt er zurück und hofft, nun endlich die Anerkennung seiner Familie zu erfahren. Doch auf dem Heimweg begegnet er Renata, die seine Hilfe begehrt. Viel mehr als ihren Namen erfahren wir nicht; was sie Ruprecht über ihre Herkunft berichtet, mag er selbst nicht recht glauben.

    Renata ist auf der Suche nach ihrem Exgeliebten, einem Grafen Heinrich, von dem sie überzeugt ist, er sei in Wirklichkeit der Engel, der ihr schon in ihren Jugendjahren im Traum erschien. Der von dem schönen, vor Sehnsucht wie verklärten Mädchen faszinierte Ruprecht reist mit ihr nach Bonn und nach Köln. Auf seine Kosten teilen die beiden Zimmer und manchmal Bett in den Herbergen - ihr näherzukommen, ist ihm nicht gestattet, da Renata sich für ihren Engel bewahrt. Der ritterliche Ruprecht hat nicht komplett den Verstand verloren: so teilt er sein Geld in drei Teile auf, das erste Drittel will er für Renata ausgeben, das zweite sparen; das dritte sollen seine Eltern bekommen, sobald er wieder zu Hause anlangt, und das soll spätestens nach drei Monaten der Fall sein - bis dahin höchsten will er Renata zu Diensten bleiben. So sein Plan - der natürlich nicht eingehalten wird; Renata hat ihn binnen kurzem fest an sich gebunden. Dabei benimmt sie sich zeitweise wie eine Verrückte, verlangt von ihm heute dies und morgen das Gegenteil, verspricht ihm an einem Tag die Ehe und erwartet am nächsten, dass er sich für sie im Zweikampf töten lasse. Man müsste Ruprecht für vollkommen verblendet halten, machte er nicht im allgemeinen einen handfesten und sehr vernünftigen Eindruck. Je weiter aber die Geschichte fortschreitet, umso mehr verliert er sich gleichsam selbst: "Instinktiv war ich nach wie vor um mein Leben besorgt, obwohl es mir als ganz wertlos erschien".

    "Da ich es mir von jeher zum Grundsatz gemacht habe, etwas Geschehenes nie zu bereuen, war ich darauf bedacht, die Reise mit Doktor Faust in vorteilhaftem Lichte zu sehen."

    Es bestünde kein Anlass, Ruprechts Beweggründen so genau nachzuspüren, wenn wir eine klassische Abenteuergeschichte vor uns hätten, in der die Menschen nach literarischen Schablonen handeln. Doch der Verfasser Walerij Brjussow, geboren 1872 in Moskau, ist ein ambitionierter Stilist, der sich als Russlands Antwort auf Verlaine und Poe verstand. Seine historischen Romane sind sehr genau recherchiert (Brjussow studierte eingehend die historischen Grundlagen, zeichnete Gewänder, Gerätschaften und Hausgrundrisse) und führen einige bekannte Persönlichkeiten vor, in "Der feurige Engel" zum Beispiel den Universalgelehrten Agrippa von Nettesheim und den Wunderheiler und Alchimisten Johann Faust mitsamt seinem mitreisenden Diener, dem komödiantischen Mönch Müllin (genannt Mephisto). Die Stationen der Reise, die man leicht auf der Karte nachvollziehen kann, sind so bildhaft geschildert, dass ein zeitgenössischer Rezensent glaubte, der Verfasser sei Deutscher, wie der Herausgeber Frank R. Schenk in seinem Nachwort berichtet. Der Stil dieses hinreißenden phantastisch-historischen Romans ist jederzeit genau und treffend und der Natur des so vernünftig-unvernünftigen Erzählers Ruprecht angepasst.

    Wie das Nachwort herausstreicht, befinden wir uns in einer Zeit "großer naturwissenschaftlicher Entdeckungen, zugleich auch tiefer existenzieller Unsicherheit" - Ruprechts Bemühungen, die Welt abwechselnd nach magischen und wissenschaftlichen Begriffen zu verstehen, entsprechen vermutlich dieser Zeit. Als Beispiel sei erwähnt, wie er bei einer Inquisitionsszene, bei der er als Schreiber mitwirken muss, kaum an sich halten kann, die Inqusitoren zu beleidigen: wie die Notwendigkeit der Folter mit himmelwärts gedrehten Augen gerechtfertigt wird, treibt ihm die Galle ins Blut. Betitelt ist dieses Kapitel jedoch mit den Worten: "Wie der Erzbischof mit Exorzismen (...) gegen die Dämonen kämpfte", was eigentlich nur ironisch gemeint sein könnte, wenn Ruprecht Neigung zur Ironie hätte. Die zeigt er jedoch nirgends - andererseits ist diese merkwürdige Doppelgesichtigkeit für seine Erzählweise typisch und macht einen großen Teil des Lesereizes aus. Man weiß eben nie genau, wie man dran ist mit dem so aufrechten, integren Ruprecht, der sich gern gut kleidet und "einen wackeren Degen führt". Ein Erzähler, der uns auf Anhieb sympathisch ist und doch bis zuletzt einen Rest Geheimnis bewahrt - ich hoffe, er hatte danach noch ein langes und glückliches Leben.
    Wer einen dicken History-Schinken mit mystischen Anklängen lesen möchte, der nicht nur Lokalkolorit einbringt, sonderen auch - was ich sehr wichtig finde! - das zeitentsprechende Denken abbildet, ist hier richtig. Das Buch hat ein paar Längen; ich habe es trotzdem sehr gern gelesen.

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