Der Duft des Waldes: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Duft des Waldes: Roman' von Hélène Gestern
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Duft des Waldes: Roman"

Ein verwunschenes Haus mitten in Frankreich und ein Bündel alter Briefe - ein großer Roman über Fernweh und die Sehnsucht nach Ankunft. Elisabeths Leben ändert sich schlagartig, als ihr die 89-jährige Alix die Briefe ihres Onkels Alban anvertraut, geschrieben von der Front des Ersten Weltkrieges an dessen Freund Anatole. Als Elisabeth außerdem Alix‘ verwunschenes Landhaus südlich von Paris erbt, weiß die junge Historikerin, dass eine große Aufgabe auf sie wartet, eine, die ihrem Leben wieder Sinn verleiht. Die Briefe geben Rätsel auf, und Elisabeth stürzt sich in die Recherche: Welches Geheimnis verband die Freunde, warum ging Alban zurück an die Front, wo ihm der Tod sicher war, und wer war die eigenwillige 17-jährige Diane? Auf der Suche nach Antworten reist Elisabeth nach Lissabon, Bern und Brüssel und sucht all die Menschen auf, die mit ihren Erinnerungen Elisabeth helfen, hundert Jahre Lebensgeschichten zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ein so bewegender wie spannender Roman über die Macht der Erinnerung und der Liebe.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:704
Verlag: S. FISCHER
EAN:9783103973433

Rezensionen zu "Der Duft des Waldes: Roman"

  1. Spurensuche

    Der Historikerin Elisabeth Bathori, deren große Liebe vor zwei Jahren unter tragischen Umständen gestorben ist und die immer noch mit der Rückkehr ins "normale" Leben kämpft, werden Briefe, Postkarten und Bilder eines französischen Frontsoldaten aus dem 1.Weltkrieg angeboten.

    "Mir lag das Album eines poilu vor, eines Frontsoldaten, der während des Ersten Weltkriegs zweieinhalb Jahre lang Postkarten und selbstaufgenommene Fotos vom Alltag in den Schützengräben verschickt hatte. Außerdem hatte er fast jede Woche seiner Schwester geschrieben und dem berühmten postsymbolischen Dichter Anatole Massis, der offenbar sein bester Freund gewesen war. Der Fundus war von unschätzbarem historischem Wert" (11).

    Der "Schatz" gehört Alix de Chandelar, 89 Jahre alt, und stammt von ihrem Onkel Alban de Willecot. Da sie nicht will, dass dieser ihrem "nutzlosen" Enkelsohn in die Hände fällt, hat sie entschieden, ihn Elisabeth anzuvertrauen, die für das Institut für Fotogeschichtsschreibung des 20.Jahrhunderts arbeitet.

    Elisabeth erwirbt den historischen Schatz für das Institut und freundet sich in den wenigen Monaten, die bis zum Tod der alten Dame vergehen, mit ihr an, und erbt von ihr überraschenderweise deren Haus in Jaligny-sur-Besbre. In dem abgeschiedenen Haus, in dem "der Duft des Waldes" zu riechen ist, vertieft sie sich in die Briefe Willecots und findet durch die Arbeit einen Weg, ihre Trauer zu überwinden.
    Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive erzählt, gerichtet an ein Du, an den verlorenen Geliebten der Protagonistin. Daneben stehen die Briefe Alban, einen Eindruck von der wachsenden Verzweiflung Albans an der Front und seine Erkenntnis, dass man seine Menschlichkeit verliert und der Krieg sinnlos erscheint. 1916 hat er die Hölle von Verdun erlebt.

    "Und weißt Du, was das Schlimmste ist, Anatole? Man gewöhnt sich daran. Man gewöhnt sich an diese Routine, die daraus besteht, dem Tod entgegenzugehen oder den Tod zu bringen. Nach den ersten paar Tagen springen wir nun alle mit Geschrei aus unseren Löchern, als hätten wir ein Leben lang nichts anderes gemacht." (29)

    Neben den Briefen hat Alban seinem seinem Freund Anatole Massis auch Bilder vom Alltag der Frontsoldaten schickt - anscheinend finden auch unentwickelte Filme trotz Zensur ihren Weg zum Dichter und werden von diesem heimlich entwickelt. Was zeigen sie? Und wo befinden sich diese Bilder? Welches Ziel verfolgen die beiden Freunde damit?
    Als der Enkel Anatoles Kontakt mit Elisabeth aufnimmt, schöpft sie die Hoffnung auf die Antwort-Briefe des Dichters, die angeblich beim Brand des Wohnhauses von Blanche de Borges, der Schwester Alban de Willecots, in Othiermont verloren gegangen sein sollen. Statt dessen erhält sie eines der heimlich aufgenommenen Bilder, das neue Fragen aufwirft.

    Neben der Ich-Perspektive und den Briefen bilden erzählte Passagen, die Elisabeths Hypothesen abbilden, was damals geschehen sein könnte, eine weitere Erzählebene, ebenso wie Dianas Tagebuch, die eine Freundin oder Geliebte (?) Albans gewesen ist.

    In alten Briefen Alix´findet Elisabeth einen Hinweis, der sie zu Violeta Mahler nach Lissabon und die Leser*innen zu einem weiteren Handlungsstrang in den 2.Weltkrieg führt, der sehr komplex mit dem ersten verwoben ist.

    Violetas Mutter Suzanne gelang mit ihrem Onkel Ari während der Besatzung Frankreichs die Flucht nach Lissabon, während ihre jüdische Mutter Tamara bis heute als verschollen gilt. Warum hat sie ihr einziges Kind im Stich gelassen? Auf der Suche nach Antworten stieß Suzanne auf den Namen Victor Ducreux, der Sohn Dianas.

    Violeta besitzt das verschlüsselte Tagebuch Dianas, das sie Elisabeth überlässt und deren Inhalt immer neue Überraschungen bereit hält, so dass Elisabeths Hypothesen permanent revidiert werden müssen, bis am Ende die "Wahrheit" endlich ans Licht kommt.

    Durch Violeta lernt die Historikerin deren Bruder Samuel kennen, in den sie sich verliebt - auch dessen Vergangenheit birgt ein Geheimnis, das enträtselt werden will.

    Bewertung
    Ein inhaltlich sehr komplexe Geschichte über Freundschaft und Liebe, Verrat und Betrug, über die Erinnerung und den Wunsch, die Wahrheit herauszufinden, und vor allem über die Grausamkeiten des Krieges. Über Gerechtigkeit, die einigen Soldaten posthum widerfährt und über dunkle Flecken, auch in der Militärgeschichte.

    Die Figuren aus der Vergangenheit, die in den Briefen, im Tagebuch und auch in einzelnen Kapiteln erscheinen, wirken authentisch - nur der Dichter bleibt blass, aber auch das hat seinen Sinn, wie sich am Ende herausstellt. Gestern hat einerseits die weiblichen Figuren in den Vordergrund gestellt, die Historikerin mit ihrer Trauer und die jugendliche starke Diana, die in einer männerdominierten Welt keine Chance hat, ihre Träume auszuleben. Die heimlich ihr Abitur machen muss und deren mathematische Begabung sich nicht entfalten darf.
    Andererseits liegt der Fokus auf dem 1.Weltkrieg, auf das, was Alban in den Schützengräben erlebt, was er fotografisch eigentlich nicht festhalten darf und wie er mit seinen Bilder das Gestellte entlarvt. Dass Gesterns Fachgebiet die Fotografiegeschichte ist, zeigt sich in ihren detailgetreuen und profunden Beschreibungen der Postkarten und Bilder.
    Was mich fasziniert hat, sind die vielen Wendungen, die sich aufgrund neuer Funde und der akribische Quellenarbeit der Protagonistin ergeben, die eine neue Sichtweise eröffnen, eine andere Lesart ermöglichen. Damit verdeutlicht sie implizit und explizit an der Figur der unsympathischen "Wissenschaftlerin" Joyce Bennington, die Anatole und Alban ein homosexuelles Verhältnis unterstellt, wie gefährlich und unseriös es ist, voreilig Schlüsse zu ziehen, die sich nicht entsprechend belegen lassen.

    Eine packende, wenn auch sehr komplexe Geschichte (daher die Figurenkonstellation ;)), die beim Lesen Aufmerksamkeit fordert, die berührt und betroffen macht.

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