Der Archivar der Welt Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Der Archivar der Welt Roman' von Lia Tilon
4.75
4.8 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Der Archivar der Welt Roman"

Eine Reise, die Welten verbindet und aus zwei Männern Freunde macht. Eigentlich ist Alfred Dutertre der Chauffeur des Pariser Bankiers Albert Kahn. Jetzt soll er für ihn zum Fotografen werden: Kahn plant ein Archiv der Welt in Bildern, ein Projekt für den Frieden, das die Völker der Erde näher zusammenbringen soll. Dutertre und Kahn brechen auf zu einer Reise, nach Japan, Hawaii, in die Mongolei. Als Kahn sein Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verliert und sich schwer krank zurückzieht, bleibt Dutertre an seiner Seite, und in über 72.000 Fotos blicken sie gemeinsam zurück.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
EAN:9783423281966

Rezensionen zu "Der Archivar der Welt Roman"

  1. 5
    25. Jan 2020 

    Über einen Menschenfreund

    Albert Kahn hat zu Lebzeiten seine Brötchen als erfolgreicher Bankier verdient. Bankier war nicht sein Traumberuf sondern eher Mittel zum Zweck. Denn dank der finanziellen Grundlage, die ihm sein Beruf ermöglichte, war er in der Lage seiner eigentlichen Berufung nachzugehen: Kahn war ein Menschenfreund und vertrat folgende einfache Philosophie: "Wenn man sich ein Bild von den Fremden macht, hören sie auf, fremd zu sein." Banal gesagt: man ist erst in der Lage, Menschen fremder Kulturen zu verstehen, wenn man diese besucht hat. Und für denjenigen Teil seiner Landsleute, der nicht in der Lage war, fremde Länder und Kulturen zu bereisen, brachte er diese Kulturen in Form von abertausenden Fotografien und Reiseberichten von seinen eigenen Reisen durch die Welt nach Frankreich.

    In dem Roman "Der Archivar der Welt" der niederländischen Autorin Lia Tilon geht es um ebendiese Lebensaufgabe von Albert Kahn.

    In diesem Buch spielt Albert Kahn jedoch scheinbar nur eine Nebenrolle. Protagonist ist Alfred Dutertre, der in jungen Jahren eine Anstellung als Chauffeur bei Kahn fand und diesen über viele Jahrzehnte bis zu dessen Tod begleitete. Dabei hat er ihn nicht nur chauffiert sondern hat auch die, für Kahn viel wichtigere Funktion des Fotografen übernommen, wovon er anfangs überhaupt keine Ahnung hatte. Kahn sorgte dafür, dass sich Dutertre die notwendigen fotografischen Fähigkeiten aneignete und diese mit der Zeit verbesserte.

    Zu Beginn ihres Arbeitsverhältnisses war Dutertre sehr unsicher in seiner Rolle als Angestellter. Er hatte Angst, dass er es seinem Chef nicht Recht machen konnte. Mit den Jahren schien er jedoch mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, zumindest scheute er sich nicht, Kahn die Stirn zu bieten oder ihn in seine Grenzen zu weisen, wenn dies nötig war.

    Der Roman von Lia Tilon setzt unmittelbar vor Beginn des zweiten Weltkrieges ein. Zu diesem Zeitpunkt ist Kahn bereits Ende 70. Er ist krank und gebrechlich. Dutertre, der Kahn zu diesem Zeitpunkt seit 34 Jahren ein treuer Wegbegleiter war, kümmert sich rührend um ihn. Und hier wird deutlich, dass Dutertre für Kahn mehr als ein chauffierender Fotograf war und ist. Aus dem Angestelltenverhältnis hat sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt, auch, wenn Dutertre diese nicht als solche bezeichnen würde. Dafür ist sein Respekt vor dem Menschenfreund Kahn zu groß.

    Dutertre erzählt in "Der Archivar der Welt" von seiner Zeit mit Kahn. In einem Wechsel aus seinen Tagebuchaufzeichnungen über seine Reisen sowie Erinnerungen beschreibt Dutertre das Leben eines außergewöhnlichen Mannes und dessen Philosophie. Dabei findet die Handlung immer wieder zum anfänglichen Ausgangspunkt dieses Romans zurück.

    Kahn stirbt am 14. November 1940 im Alter von 80 Jahren. Sein Vermächtnis findet sich heute im Musée Albert-Kahn in Paris, in dem Foto- und Filmmaterial von Kahns und Dutertres Reisen sowie anderer Fotografen, die in Kahns Dienst standen, ausgestellt werden.

    Die Fotografie steckte in der damaligen Zeit noch in den Kinderschuhen. Fotografie war ein Kunsthandwerk. Der Aufwand, ein Foto zu bekommen war enorm, ganz zu schweigen von der Materialschlacht, die ein Fotograf in Kauf nehmen musste. Da nur wenige Fotomotive den Weg in ein Fotostudio fanden, musste der Fotograf mit seiner Ausrüstung zum Motiv. Das war immer beschwerlich, noch beschwerlicher war es, wenn man für seine Motive um die Welt reisen musste.

    Albert Kahn hat also mit seinem fotografierenden Chauffeur die Welt bereist. Das Ergebnis waren zig Tausende von Fotografien, die in Kahns damaligem Anwesen gelagert wurden.

    Schließlich ist die Idee entstanden, dem Rest der Welt die Reiseerlebnisse und Fotografien nicht vorzuenthalten. In Kahns "Les Archives de la Planète" (die Archive des Planeten) wurden diese anderen Menschen zur Verfügung gestellt.

    Kahn träumte von einer besseren Welt, in der die Menschen friedlich nebeneinander leben, ungeachtet der Kultur aus der sie kommen. Diesem Anspruch hat er sein Leben gewidmet. Er mag vielen in erster Linie als einer der reichsten Männer seiner Zeit bekannt sein. Doch viel wichtiger ist sein einfacher philosophischer Ansatz, der gerade in der heutigen Zeit aktueller denn je ist.
    Lia Tilon lenkt mit ihrem Roman von dem Finanzier Kahn ab und legt den Fokus auf den Menschenfreund Kahn. Indem sie dies aus der Sicht des Chauffeurs Dutertre macht, hebt sie Kahn von dem Podest des mächtigen Finanzmoguls herunter. Übrig bleibt ein verletzlicher Mensch, der sich der Erfüllung seines Traums einer friedlichen Welt gewidmet hat. Beeindruckend.

    Leseempfehlung!

    © Renie

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  1. Mit dem Fotoapparat um die Welt

    Nach einer wahren Geschichte: Albert Kahn hat sich aus eigener Kraft bis in die Position eines wohlhabenden Bankiers hochgearbeitet. Er hat nie geheiratet und hat keine Kinder. Stattdessen hat er eine Vision. Nach den schrecklichen Erfahrungen des ersten Weltkriegs will er die Menschen überall auf der Welt näher zusammenbringen. Sein Mittel: Die gerade erfundene Farbfotografie. Denn Albert Kahn glaubt, dass – wer sich von Angesicht zu Angesicht gesehen hat – keinen Krieg gegeneinander führen kann.

    Albert Kahn begibt sich also auf eine Reise um die Welt. Auf diese Reise nimmt er seinen Chauffeur Alfred Dutertre mit, den er für technisch versiert genug hält, die komplizierten Apparaturen der ersten Fotoapparate zu bedienen. Alfred Dutertre und eine Reihe weiterer Fotografen, die Albert Kahn im Laufe der Jahre beauftragt, legen eine riesige Sammlung an, die am Ende etliche tausend Fotos umfasst.

    Die Geschichte wird aus der Perspektive Alfred Dutertres erzählt. Seine Tagebuchauf-zeichnungen von der Weltreise ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Am Ende sind einige der im Buch erwähnten Fotografien abgedruckt. "Dazwischen" erfährt der Leser, wie es mit Albert Kahn weiter ging. Er hat mit der Weltwirtschaftskrise sein Vermögen verloren; die falschen Freunde kommen nicht mehr in sein Haus. Er ist alt, allein und der nächste Weltkrieg steht vor der Tür. Bei ihm geblieben ist allerdings Alfred Dutertre, der viel mehr als nur sein Chauffeur und Fotograf war.

    Das Projekt und die Freundschaft der beiden Männer sind beeindruckend. Die Tage-buchaufzeichnungen und die Fotografien sind sehr bewegend, nehmen allerdings nur einen vergleichsweise geringen Raum in dem Buch ein. Das widersprach meinen Erwartungen. Ich hatte gehofft, auf die Reise mitgenommen zu werden. Stattdessen dominieren in dem Buch die Kapitel, in denen Alfred Dutertre den alten Albert Kahn pflegt und sich bei seinen langen Wanderungen durch dessen alte Villa sporadisch an einzelne Begebenheiten erinnert. Diese Erinnerungen wirkten auf mich ungeordnet und waren mir auch zu kurz, als dass ich mich hätte hineinvertiefen können. Aufgrund der enttäuschten Erwartung würde ich hier eigentlich drei bis vier Sterne vergeben. Da das Projekt und die Geschichte an sich aber anerkennenswert sind, runde ich auf vier Sterne auf.

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  1. Beeindruckend!

    Ein Mann, eine Vision – so in etwa könnte man den Inhalt von „Der Archivar der Welt“ von Lia Tilon (erschienen im September 2019 bei DTV) „runterbrechen“.

    Jedoch würde das dem (zum Teil) auf Tatsachen beruhenden Roman (O-Ton Lia Tilon: „[…], ich habe die Fakten benutzt, um Fiktion schreiben zu können.“ (S. 252)) in keinster Weise gerecht werden – ist er doch so viel mehr.

    Es ist auf der einen Seite die Geschichte einer „ungewöhnlichen“ Freundschaft zwischen dem französischen Bankier Albert Kahn und seinem Chauffeur Alfred Dutertre

    „Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mann wie ich mehr tut als nur fahren; ein wirklich guter Chauffeur führt seinen Dienstherrn in die richtige Richtung. […] Es ist meine Aufgabe, ihn sicher an sein Ziel zu bringen.“ (S. 9)

    und auf der anderen Seite die Geschichte des „Archivs des Planeten“ – einer Idee Albert Kahns. Damit wollte er „[…] dauerhaft Aspekte, Praktiken und Ausprägungen menschlicher Aktivität […] dokumentieren, deren endgültiges Verschwinden nur noch eine Frage der Zeit ist.“ Albert Kahn, Januar 1912 (S. 270)

    Die in der Zeit von 1909 bis 1931 entsandten Fotografen (durch Stipendien von Kahn finanziert) haben weltweit insgesamt über 70.000 Fotografien erstellt und so ein einzigartiges Gedächtnis der Welt hinterlassen, die es spätestens nach den zwei Weltkriegen in der Form nicht mehr gab.

    Der Roman besteht aus Tagebucheinträgen Dutertre´s, durch welche die Leserschaft unmittelbar mit „auf Reise“ genommen wird; sie vermitteln trotz teilweise kurzer Sätze, aber auch ausführlicheren Beschreibungen wie der japanischen Teezeremonie (eine meiner Lieblingspassagen im Buch! *g*) ein authentisches Bild von Reisebedingungen und den Aufenthalten in u. a. Japan und China, lassen Dutertre´s Selbstzweifel an seiner Kompetenz als Fotograf, aber auch an dem Projekt selbst erkennen. Trotzdem lässt er seinen Chef nicht im Stich – was zum nächsten Handlungsstrang führt: hier geht es um die letzten Tage von Albert Kahn mitten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs. Dutertre bleibt bis zum Schluss bei ihm, kümmert sich aufopferungsvoll um Kahn und seine Vision – großartig geschrieben in zum Teil äußerst bildhafter Sprache!

    Darüber hinaus ist der Roman eine Hommage an die künstlerisch wertvolle Fotografie mit einer „echten“ Kamera – in Zeiten, in denen täglich mehrere Milliarden Fotos aufgenommen, verbreitet, geteilt, geliked und gelöscht werden, bedarf es ab und an solch eines Blickes auf die Vergangenheit *g* - wie gut, dass es Archive gibt, in denen die Zeugnisse dieser Zeit verwahrt werden!

    Im Anhang lässt die Autorin das Gelesene mithilfe von Farbtafeln authentisch werden und liefert gleich noch ein umfangreiches Quellenverzeichnis mit – ein zusätzlicher Pluspunkt!

    Lia Tilon hat mit „Der Archivar der Welt“ einen wunderbaren, zum Nachdenken anregenden und lehrreichen Roman veröffentlicht, der mich veranlasst, das Wirken von Albert Kahn (1860 bis 1940) weiter zu verfolgen und der Sammlung Albert Kahns einmal einen Besuch abzustatten.

    Klare Leseempfehlung und somit 5* wert!

    „Denn solange die Menschen die gleiche Sprache sprechen, haben wir die Möglichkeit, Ideen auszutauschen, auch wenn sie sich vollkommen von unseren Vorstellungen unterscheiden.“ (S. 245)

    ©kingofmusic

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  1. Les Archives de la Planète

    Wir schreiben das Jahr 1940. Albert Kahn (1860 bis 1940), verarmter französischer Bankier und einst einer der reichsten Männer Europas, liegt im Sterben. An seiner Seite: sein Freund und Chauffeur Alfred Dutertre. Gemeinsam lassen die beiden Männer anhand von Fotografien und Tagebucheinträgen ihr Leben Revue passieren. Erschienen ist Lia Tilons 272-seitiger Roman „Der Archivar der Welt“ über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft und gewaltige Mission im September 2019 bei dtv.
    Albert Kahn ist ein vielseitig interessierter Mensch. Mit Verbreitung der Fotografie und Entwicklung des Autochromverfahrens, also der farbigen Fotografie, entwickelt sich in ihm eine Vision: Anhand dieser technischen Neuerungen möchte er ein „Archiv des Planeten“ erstellen, eine Sammlung von Bilddokumenten mit dem Ziel, traditionelle Lebensweisen zu bewahren, die Welt den Menschen näher zu bringen und so einen Beitrag für den Frieden zu leisten. Die Aufgabe des Fotografierens überlässt er vor allem seinem Chauffeur, Dutertre, mit dem er gemeinsam die Welt bereist, um am Ende auf eine beachtliche Sammlung von über 72.000 Aufnahmen zurückschauen zu können, die auch heute noch im „Musée départemental Albert-Kahn“ nahe Paris zugänglich ist. Die Bildtafeln am Ende des Buches vermitteln ein beeindruckendes Bild von der Arbeit dieser beiden Männer und lassen das Gelesene lebendig werden.
    Die Geschichte dieser beiden Männer wird auf zwei Ebenen erzählt: Die Rahmenhandlung bilden die letzten Lebenstage Albert Kahns zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Alfred Dutertre kümmert sich uneigennützig um den Sterbenden, gräbt immer wieder im Archiv und somit in gemeinsamen Erinnerungen. Hierbei blicken Leserinnen und Leser zurück auf die Geschichte dieser beiden Männer sowie die der Fotografie, unternehmen mit dem Chauffeur zusammen eine Reise in glanzvollere Zeiten und erfahren Wissenswertes über Kahns Motivation, seine Lebenswerk in Angriff zu nehmen.
    Unterbrochen wird diese Rahmenhandlung immer wieder durch Dutertres Tagebucheinträge aus den Jahren 1908/09. Gemeinsam mit den Protagonisten reisen die Leser/innen in die USA, nach Japan und China. Neben Einblicken in den Reisealltag zur damaligen Zeit enthalten diese Abschnitte auch teils wunderschöne Beschreibungen von Land und Leuten.
    Gut gewählt und gleichzeitig bedrückend ist, dass das "Archiv des Planeten" eine friedensstiftende Aktion sein sollte, und gerade jetzt vor dem Hintergrund des wohl grausamsten Krieges, den Europa und die Welt durchleben mussten, resümiert wird. Dieses bietet reichlich Stoff zum Nachdenken – für mich persönlich auch der Umstand, dass wir heute in einer Zeit leben, in der die Welt nicht nur dank der medialen Entwicklung näher zusammengerückt ist, wir aber von einem friedlichen Miteinander und Verständnis füreinander nach wie vor weit entfernt sind.
    Nicht nur inhaltlich, auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Handlungsstränge voneinander: Sprachlich ist die Szenerie rund um Kahns Tod ansprechend, einzelne Szenen werden sehr ausführlich, bildhaft beschrieben, sodass man beim Lesen förmlich Bilder vor Augen hat. Auf der anderen Seite steht Dutertres Tagebuch: Zwar gibt es auch hier plastische Beschreibungen, aber die oft kürzeren Sätze, die wie Notizen "hingeworfen" sind, lassen den Text authentisch werden. Insgesamt lässt sich das Buch flüssig und atmosphärisch dicht lesen.
    Alles in allem präsentiert Lia Tilon mit „Der Archivar der Welt“ ein gut lesbares und beeindruckendes zeitgeschichtliches Dokument von ungebrochener Aktualität, aus dem ich viel lernen konnte und das ich gerne zur Lektüre weiterempfehle.

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