Dein Fortsein ist Finsternis

Buchseite und Rezensionen zu 'Dein Fortsein ist Finsternis' von Jón Kalman Stefánsson
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Inhaltsangabe zu "Dein Fortsein ist Finsternis"

Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an nichts. Doch die Frau, der er auf dem Friedhof begegnet, erkennt ihn wieder. Rúna berichtet von ihrer verstorbenen Mutter, und sie schickt ihn zu ihrer Schwester Sóley, mit der ihn eine brüchige Nähe zu verbinden scheint. Mithilfe ihrer und anderer Erzählungen setzt er sein Leben neu zusammen – bis sich nicht nur sein, sondern das Schicksal aller Menschen dieses einsamen Fjords vor uns erhebt. Ein raunendes, gewaltiges Meisterwerk, das die Kraft der Literatur feiert!

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:544
Verlag: Piper
EAN:9783492071277

Rezensionen zu "Dein Fortsein ist Finsternis"

  1. Ungewöhnliche, tief beeindruckende Island-Saga

    REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson (59). Es ist eine bewegende Erzählung gegen das Vergehen und Vergessen, eine kompakte Island-Saga, die aus der Gegenwart weit über 120 Jahre bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht und am Beispiel einer bäuerlichen Familie und ihres Umfelds über sechs Generationen den Wandel dieser einst überwiegend von armen Schafzüchtern und Fischern fernab jeder Bildung und Kultur bewohnten kargen Insel „am nördlichen Ende der Welt“ zu einem heute extravaganten Ausflugsziel internationaler Touristen beschreibt.
    „Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis“ lautet die Inschrift eines verwitterten Grabsteins auf dem uralten Friedhof an einem entlegenen Fjord, der noch älter als die kleine Kirche ist, in der Stefánssons namenloser Erzähler mit totalem Gedächtnisverlust erwacht. Hinter ihm sitzt ein geheimnisvoller alter Mann, der sich dem Erzähler nicht zu erkennen gibt – ist es Gott, der Teufel, das personifizierte Schicksal? –, ihn aber auf seiner Spurensuche begleiten wird. Auf dem Friedhof trifft der Erzähler Rúna, die ihm die Geschichte ihrer Familie zu erzählen beginnt und ihn zu ihrer Schwester Sóley schickt, Betreiberin des kleinen Dorfhotels am Ufer des Fjords.
    Mit Hilfe dieser und anderer Geschichten über Familie, Nachbarn und Freunde in Gegenwart und Vergangenheit setzt der Erzähler eine faszinierende Island-Saga zusammen, geleitet vom geheimnisvollen Alten, dem bärtigen „Busfahrer mit der Lizenz, mich zwischen den Welten und Zeiten, den verschiedenen Bühnen des Lebens hin und her zu kutschieren.“ Wir lernen die Vorfahren des Musikers Eiríkur kennen, der als junger Mann Island verlassen hat und 40 Jahre später auf Drängen seines Vaters Hálldor nach Nes zurückkehrt. Seine Familiengeschichte reicht bis zur Ururgroßmutter Guðríður zurück: „… alles geschah, weil Pétur und Guðríður vor hundertzwanzig Jahren nach Stykkishólmur ritten.“
    Aus einzelnen Erzählungen („Manche Leben scheinen so ereignislos zu verlaufen, dass sie sich kaum beschreiben lassen.“) baut sich eine großartige Familiengeschichte auf, in der nicht nur Guðríður und Pétur einst der „Kompassnadel ihres Herzens“ gefolgt sind, sondern auch ihre Nachkommen auf jeweils eigene Art, waren sie sich doch trotz wandelnder Zeiten in Charakter und Mentalität ähnlich: »Die Vergangenheit lebt ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst.«
    Jón Kalman Stefánsson springt in seinen Roman von Figur zu Figur, von Geschichte zu Geschichte, durch Zeiten und Generationen scheinbar beliebig hin und her, so dass man die Übersicht verlieren und sich in den Generationen leicht verirren kann. „Manche nennen es den Spaß der Götter. Karten und Leben durcheinanderzuwirbeln, zu ihrem Vergnügen Knoten zu schürzen, irgendwo eine unerwartete Kurve einzubauen, eine Brücke einzureißen, unsere Herzen in Wallung zu versetzen und dem Dasein einen Stups zu geben, um alles, was fest und sicher scheint, auf den Kopf zu stellen.“ Dann empfiehlt es sich, den Rat des Erzählers anzunehmen: „Halldór und Páll Skúlason. Merk dir die Namen, aber halte dich vorerst nicht länger mit ihnen auf, denn kaum erwähnen wir sie, treten sie auch schon wieder zurück wieder zurück in den Schatten, …. und treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.“ Es sind die kleinen schicksalhaften, wahrhaftigen und berührenden Geschichten, die jede für sich allein schon einem Kurzroman gleicht. Aus dem Gesamtbild aller Einzelschicksale ergibt sich schließlich die literarisch ungewöhnliche Island-Saga, die nicht nur in ihren Menschen- und Landschaftsbeschreibungen atmosphärisch beeindruckt, sondern auch sprachlich – auch ein Verdienst des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig. Für Stefánsson Roman gilt, was dort über den Brief der Großmutter an Eiríkur zu lesen ist: „… zwischen den Zeilen schimmerten Wärme und Zuneigung durch, flossen wie eine mächtige Strömung unter den Sätzen.“ Es ist schon ein paar Jahre her, dass mich ein Schriftsteller mit seinem Buch derart begeistert hat, tief berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.

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  1. Vom Leben, vom Tod und von der Musik.

    Kurzmeinung: Nicht der übliche Generationenroman!

    Der Autor hat mit diesem zauberhaften Roman das isländische Leben vergangener Tage mit dem Island von heute verbunden. Wie hat er das gemacht? Indem er sein Gedächtnis verlor!

    Die Menschen von denen Stefánsson berichtet, leben in einem relativ abgeschiedenen Fjörd, in Island ist es immer kalt. Die Natur bestimmt das Leben. Doch obwohl die Menschen nicht reich sind und oft kaum ihr Auskommen finden, sind sie nicht hinterwäldlerisch. Sie haben eine Antenne zur restlichen Welt und manche von ihnen bereisen sie auch, kehren jedoch immer wieder zurück, weil Island ihre Heimat ist. Und Heimat ist Heimat.

    Der Autor himself ist im Buch und deshalb nah dran! Er lebt in einer Symbiose oder einer Art Doppelexistenz mit einem Heimkehrer, der sein Gedächnis verloren hat und nun, als er die Seinen wiedertrifft, nicht weiß, wie er sie einordnen soll, deshalb schreibt er über sie. Das ist sehr charmant. Diese Menschen sind wie sie überall sind. Verlorene Seelen, meint er, die eine Weile glücklich sind. Wir leben und dann sterben wir. Punkt.

    Der Kommentar:
    In Stefánssons Schreibweise muss man sich ein wenig einleben. Seine Figuren sind sehr musikverliebt und oft traurig bis depressiv. Weil sie einen so nahen Bezug zur Musik haben, spielt Musik und spielen Musiktitel eine große Rolle im Buch, ständig werden Songzeilen zitiert.
    Auf dem Fest, wo sich Lebende und Tote vereinen, wird die Playlist der Toten gespielt. Diese Playlist mit sämtlichen Titeln darauf, findet sich am Ende des Buches gelistet. Eine nette kleine Zugabe, es sind sicherlich vom Autor sehr geschätzte Songs.

    Der Erzähler ist auf dem Weg zu diesem Fest und auf dem Wege erzählt er von allen, die eigentlich zur Fjördgemeinschaft dazugehören, von denen einige aber bereits das Zeitliche gesegnet haben. Der Roman ist jedoch keineswegs esoterisch angelegt und Geister haben keinen Zutritt. Natürlich sind die erzählten Schicksale besonders, die Vater-Sohn-Beziehungen sind problematisch; die Familie wird immer getragen von den Frauen. Die Männer haben den Alkohol. Und, wie gesagt die Musik. Sie tröstet doch immer. Und natürlich geht es auch um den Tod. Eine Weile sind wir da und dann sind wir fort. Allein diese Tatsache macht die Melodie des Lebens melancholisch.

    In diesem Roman habe ich nichts vermisst. Aber auch gar nichts. Es ist ein langsames Buch in getragenem Ton und einer sehr sanften untergelegten Heiterkeit, für die man jedoch ein Ohr braucht, sonst bleibt sie unbemerkt. Die vielen Wiederholungen, die der Autor als Stilmittel einsetzt, haben ihre berechtigte Wirkung als Verzögerungen, Vertiefungen und Akzentuierungen. Man muss sie mögen, sie sind wie Gedichtzeilen. Das ganze Buch ist adagio. Ganz und gar nichts für Spannungsleser, obwohl die Geschichten, die erzählt werden, nicht ohne sind.

    Fazit: Wunderbar! Islandverliebt.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman
    Verlag: Piper, 2023

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