Das Phantom des Alexander Wolf

Rezensionen zu "Das Phantom des Alexander Wolf"

  1. 5
    13. Mär 2023 

    Vielschichtiger handlungsarmer Roman im Paris der 30er

    Ein Kriegsereignis und seine seelischen Folgen, Erinnerungen und seltsam zufällige Begegnungen, Liebe und Tod

    Danke, Herr Filipenko! Wenn Sie in Ihrem neuesten Buch der Hauptperson Nesterenko nicht die unsäglichen Worte über Gaito Gasdanow in den Mund gelegt hätten, dass er keine Wörter zu Sätzen fügen könne, hätte ich ihn so bald nicht gelesen, obwohl er schon länger auf meiner Liste steht. Also mal schnell ausgeliehen, damit ich mir selber ein Bild machen kann. Und das Buch 'Das Phantom des Alexander Wolf' hat mir gefallen, wobei mir allerdings klar ist: ich muss es irgendwann noch einmal lesen. Es ist so tiefgründig und vielschichtig, aber beim ersten Mal will man wissen, wie es weiter und zu Ende geht. Bei einem zweiten Lesen könnte ich dann den Gedanken über Liebe und Tod und über den Krieg und seine seelischen Folgen mehr Aufmerksamkeit schenken.

    Beim Lesen ist mir allerdings etwas Merkwürdiges passiert. Interessiert mich Boxen? Nicht im Geringsten; ich würde nie etwas darüber lesen wollen. Und doch habe ich in diesem Buch mit wachsender Faszination gestaunt, wie Gasdanow mich eingefangen hat: Der Ich-Erzähler muss für einen Kollegen einspringen und für seine Zeitung einen Bericht über einen Boxkampf schreiben. Er bereitet sich akribisch vor und beschreibt auch den eigentlichen Kampf packend und spannend.

    Worum geht es überhaupt in diesem 1947/1948 in New York erschienenen Roman, der 1936 in Paris spielt, wo es von Exilrussen nur so wimmelt? Ein blutjunger Mann erschießt irgendwo in Südrussland während des Krieges in Notwehr einen Mann, blickt ihm noch einmal in die Augen und kann dieses Ereignis nie mehr vergessen. Es verfolgt ihn sein Leben lang und wird hier zu einer Geschichte gesponnen, in der man das Konstruierte, die Zufälle kritisieren könnte. Aber dazu ist es einfach zu gut geschrieben. Denn als der junge Mann in Paris ein Buch liest, findet er darin seine Geschichte von damals mit Einzelheiten, die nur der vermeintlich Erschossene wissen kann. Er versucht, ihn zu finden... Ob es ihm gelingt, sei nicht verraten, denn trotz aller Tiefsinnigkeit ist das Buch auch spannend. Was der Ich-Erzähler auf jeden Fall findet, ist die Liebe.

    Der Schriftsteller

    Falls es jemanden interessiert: Wer ist Gaito Gasdanow, eigentlich Georgi Iwanowitsch Gasdanow? Er wurde 1903 als Sohn ossetischer Eltern (Kaukasus) in St. Petersburg geboren, wuchs teilweise in Sibirien und Charkow (Charkiw) auf und ging als Sechzehnjähriger zum Militär. Er erlebte die Schrecken des Bürgerkriegs und das Chaos der damaligen Zeit: mal Rote, mal Weiße, mal Deutsche, mit Wrangels Armee von der Krim evakuiert, in Gallipoli interniert, nach Konstantinopel geflohen, Bulgarien und endlich in Paris angekommen, einem Zentrum der russischen Emigranten in den späten Dreißigern.

    Was für ein Leben dort! Gelegenheitsarbeiten, obdachlos, bitterarm, später nachts Taxichauffeur, tagsüber Vorlesungen an der Sorbonne, Schreiben, Teilnahme an literarischen Kreisen, den Russki Montparnasse. Dort fand sein 1929 erschienener erster Roman 'Abend bei Claire' viel Anklang. - Später lebte er in München als Redakteur bei Radio Liberty. Er starb dort 1971 an Lungenkrebs, wurde aber in Paris begraben.

    Wie schade, dass er so lange Zeit relativ unbeachtet blieb! Dabei wurde ihm nachgesagt, er schreibe besser als Nabokow, er sei der russische Camus. Neun Romane hat er geschrieben und viele Erzählungen.

    Er schreibt handlungsarm, spürt der menschlichen Psyche nach, macht sich Gedanken über den Sinn des Lebens, vermischt das aber mit der Schilderung von Situationen und Ereignissen, so dass es nicht langweilig wird. Mir hat das oben erwähnte Buch so gut gefallen, dass ich bald mehr von ihm lesen möchte.

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