Das perfekte Leben des William Sidis

Buchseite und Rezensionen zu 'Das perfekte Leben des William Sidis' von Morten Brask
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das perfekte Leben des William Sidis"

Gebundenes Buch
Die Presse feierte ihn als "intelligentesten Menschen aller Zeiten", er galt als Beweis für das unerschöpfliche Potential des menschlichen Gehirns: William Sidis, 1898 bis 1944, war ein Wunderkind und ein Star. Im Alter von 18 Monaten liest er die "New York Times", mit 6 Jahren beherrscht er 10 Sprachen, mit 10 präsentiert er seine Theorie der vierten Dimension. Das sei ganz normal, behauptet sein Vater, für den Intelligenz eine Frage der strikten Erziehung ist. Mit meisterhafter Gestaltungskraft erzählt Morten Brask von einer Zeit, die an den grenzenlosen Fortschritt glaubt, und vom tragischen Schicksal eines unverständlich intelligenten Menschen. Eine unglaubliche wahre Geschichte.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:368
EAN:9783312010134

Rezensionen zu "Das perfekte Leben des William Sidis"

  1. 5
    01. Mai 2020 

    Tragische Lebensgeschichte

    Er gilt als einer der intelligentesten Menschen aller Zeiten. Man schätzte seinen Intelligenzquotienten auf 250 bis 300.

    William Sidis ist 1898 in New York geboren. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer, die vor den Pogromen in der Ukraine in die USA geflohen sind.
    Mit 6 Monaten kann der kleine Billy sprechen, mit 18 Monaten bereits eine Zeitung lesen. Mit 4 Jahren liest er Cäsar und Homer im Original. Mit 6 Jahren beherrscht er 10 Sprachen, sowie Vendergood, eine von ihm erfundene Kunstsprache. Für die 7jährige Grundschule braucht er 7 Monate, die Highschool absolviert er in 3 Monaten. Bis zu seinem 8. Lebensjahr hat er bereits 4 Bücher geschrieben.
    Mit 11 Jahren hält William einen Vortrag an der Universität von Harvard über die vierte Dimension. Danach beginnt er dort sein Studium.
    Das sei alles ganz normal. behauptet sein Vater, ein renommierter Professor. Jedes Kind könne mit der richtigen Erziehung sein geistiges Potential voll aussschöpfen und diesen Stand erreichen. An ihrem Kind überprüfen die Eltern, beide hochgebildete Mediziner, ihre Theorien zum frühkindlichen Lernen.
    Allerdings wird ihr Sohn nie das erreichen, was die Eltern erwartet hatten.
    Schon früh wehrt sich das Kind gegen die Aufmerksamkeit von außen. Er will in Ruhe gelassen werden. Später bricht er seine Stelle als Mathematikdozent ab. Er wendet sich der kommunistischen Bewegung an und wird als angeblicher Rädelsführer einer Demonstration verhaftet. Seine Eltern holen ihn aus dem Gefängnis, indem sie ihn für geisteskrank erklären.
    Danach schlägt er sich unter falschem Namen in schlecht bezahlten Bürojobs durchs Leben. 1944, im Alter von 46 Jahren, stirbt William Sidis an einer Gehirnblutung. Er hinterlässt zahlreiche Schriften , u.a. über die vierte Dimension, die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, und Eisenbahn- und Straßenbahnsystemen. Schon 1925 entwickelte Sidis die Theorie von den Schwarzen Löchern.
    Trotzdem kennt heute kaum jemand diesen Mann. Das wird sich hoffentlich nun ändern, denn der dänische Autor und Historiker Morten Brask erzählt in seinem Debutroman das Leben dieses außergewöhnlichen Genies.
    Sein gut recherchiertes Buch stützt sich auf Bücher, Artikel und Briefe von Sidis selbst, auf Zeitungsartikel von damals und eine Biographie von 2011. Brask erzählt abwechselnd, in kurzen Kapiteln, auf drei Zeitebenen. Da ist die frühe Kindheit als psychologische Basis für das spätere Leben. Dann die Begegnung mit der irischen Sozialistin Martha und der kommunistischen Bewegung und schließlich Sidis' letztes Lebensjahr. Durch die drei Handlungsstränge entsteht ein interessantes Spannungsverhältnis, gleichzeitig interpretieren sie sich gegenseitig.
    Das "perfekte Leben" entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Folge von schrecklichen Erlebnissen. Ob Williams als Dreijähriger von seiner Mutter als "Wunderkind" vorgeführt wird oder als Elfjähriger vor der versammelten Professorenschaft steht - stets bleibt ihm das Leben eines normalen Kindes verwehrt. Er stößt einerseits auf Verwunderung und Respekt, aber mindestens genau so oft auf Spott und Ablehnung. Sein Verhältnis zu den Mitmenschen bleibt Zeit seines Lebens gestört. Auch die Liebe zur angebeteten Martha findet keine Erfüllung. Zu seiner Familie bricht Williams den Kontakt ab, aus der Öffentlichkeit zieht er sich zurück.
    "Das perfekte Leben des William Sidis" ist ein großartiger Roman über eine tragische Figur. Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Morten Brask den Lebensweg des William Sidis und fühlt sich dabei stark in die Psyche seines Protagonisten hinein. Es entsteht das Bild eines einzigartigen Menschen .Man fühlt und leidet mit der Hauptfigur. Es ist ein Buch, das mich außergewöhnlich stark berührt hat.
    Eine spannende und nachdenklich machende Lektüre. Unbedingt lesenswert !

    Teilen
  1. 5
    27. Aug 2017 

    Eine große Begabung kann auch ein Fluch sein...

    Albert Einstein hatte einen geschätzten IQ-Wert von 160-180 und war unbestritten eines der größten Genies des vergangenen Jahrhunderts. William Sidis, der fast zeitgleich zu Einstein lebte, hatte einen geschätzten IQ-Wert von 250-300. Und niemand kennt heute noch seinen Namen. Aber weshalb? Morten Brask widmet sich dieser Frage in seiner einfühlsamen, sorgfältig komponierten und hochliterarischen Biografie dieses längst vergessenen Hochbegabten.

    Nach jahrelanger Recherche und basierend auf Artikeln, Büchern, Tagebüchern, Briefen und Gerichtsprotokollen, erzählt Morten Brask sehr bildlich und szenisch die wahre Geschichte von William Sidis, einem Sohn jüdischer Einwanderer aus der Ukraine. 1898 in New York geboren, wird William gleich nach seiner Geburt zum Studienobjekt seines Vaters. Um seinen Sohn zu befähigen, statt der üblichen 10% des Gehirns auch die übrigen 90% zu nutzen, bemüht sich der Psychologe Boris Sedis, William von klein auf eine fördernde Umgebung zu bieten. Denken und Argumentieren statt Spiel und Sport.

    "Die Einschulung kommt viel zu spät, um anzufangen. Wenn die Kinder sechs sind, ist der kritische Punkt längst vorbei, die mentalen Funktionen des Kindes sind dann schlichtweg atrophiert und degeneriert. Und diesen Fehler dürfen wir nicht begehen. Ich finde, wir sollten Billy schon jetzt wie einen Erwachsenen behandeln, so als könnte er alles, was wir auch können."

    Und die Erziehung greift: Mit 18 Monaten kann der kleine Billy Zeitung lesen. Mit vier liest er Caesar und Homer im Original. Nicht viel später spricht er fließend Russisch, Französisch, Deutsch, Hebräisch, Türkisch, Armenisch - sowie Vendergood, eine von ihm selbst erfundene Kunstsprache, komplett mit eigener Grammatik und Wörterbuch. Die Grundschule verlässt William nach gerade einmal sieben Monaten, die High School hat er nach drei Monaten hinter sich. Mit acht Jahren hat er Zugangsberechtigungen zum Massachusetts Institute of Technology sowie zum Medizinischen Institut in Harvard in der Tasche. Doch selbst die Eliteuniversitäten wissen nicht, wie sie mit dem Extrembegabten umgehen sollen. Erst nachdem Sidis mit 11 Jahren in Harvard einen Vortrag über seine Gedankengänge zur vierten Dimension hält, darf er dort mit dem Studium beginnen.

    "Minuten vergehen, ehe der Beifall nachlässt, aber dann kommt die Kakophonie der Stimmen jäh wieder, die Professoren diskutieren über den Vortrag und über William. Einer nach dem anderen kommt und schüttelt Williams Hand und redet und redet, sie seien überwältigt, sagen sie, sie hätten nie etwas Derartiges erlebt; 'ein Licht', 'ein Genie' sind die Worte, die sie in Sätze flechten."

    Doch mit 11 Jahren studieren? Was macht das mit einem Kind? Intellektuell war William sicher bereit dazu - er, der nicht nur mathematische und sprachliche Begabungen hatte (er sprach letztlich über 40 Sprachen fließend), sondern über ebenso gründliche Kenntnisse der Anatomie, Wirtschaft, Philologie, Jura, Geschichte, Politik und Astronomie verfügte. Aber emotional? Als Kind unter erwachsenen Studenten, ohne seine Eltern oder einen anderen Menschen, der ihn unter seine Fittiche nahm? Und dafür immer im Fokus der Presse, die William als Wunderkind präsentierte und auf immer neue Höchstleistungen wartete?

    Morten Brask schildert eindrücklich diese Diskrepanz zwischen dem hohen Intellekt einerseits und dem Mangel an emotionaler Zuwendung andererseits. Als Projekt seiner Eltern hatte William Sidis niemals die Möglichkeit, einfach nur Kind zu sein - Sport wurde als unnütze Zeitverschwendung angesehen, ein gemeinsames Spielen mit anderen Kindern gab es nicht. Durch den stetigen Wechsel der Zeitebenen in der Erzählung zwischen der Kindheit und Jugend, dem Leben als jungem Erwachsenen und schließlich seinem letzten Lebensjahr, erhält der Leser hier einen zunehmenden Einblick in das Werden und Leben des William Sidis. Und Morten Brask schafft es, einem diesen hochintelligenten Menschen nahe zu bringen.

    "Die Welt steht dir offen, William.Es kommt nur darauf an, dass du kluge Entscheidungen triffst."

    Sidis kognitive Leistung ist sicher ein wesentlicher Teil dieser Geschichte und unstrittig faszinierend. Man bekommt als Leser tatsächlich ein Gefühl dafür, wie es ist, derart schlau zu sein. Diese Art, alles sofort zu berechnen, alles auf Anhieb zu verstehen, Verbindungen zu erkennen, auf die sonst kaum jemand kommt. Bei der Schilderung eines möglichen Zusammenhangs von Sonnenflecken und Revolutionen beispielsweise habe ich zunächst nur kopfschüttelnd gegrinst, bevor ich immer aufmerksamer gelesen und gestaunt habe. Doch manches habe ich auch nicht wirklich verstanden, wie z.B. in William Sidis Unterhaltung mit seinem Freund Scharfman, bei der es um Astronomie und um die Möglichkeit ging, die Kräfte der Natur umzukehren sowie um die mögliche Präsenz schwarzer Löcher im Universum. Mein IQ scheint sich einfach nicht in diese schwindelerregenden Bereiche zu erheben...

    Ein ebenso wesentlicher Teil der Erzählung ist aber auch der übrige William Sidis, seine Gefühle, Interessen, Freunde, Liebe, Einsamkeit. Seine Hypersensibilität, die ihn sämtliche Gerüche, Geräusche, Wahrnehmungen um ein vielfaches stärker und intensiver empfinden lässt als andere. Das ständige Präsentiertwerden als Wunderkind schon in jungem Alter. Seine große und einzige Liebe, die so kurz währt, ihn jedoch ein Leben lang nicht loslässt. Seine erste Stelle als Mathematikdozent, die er aufgibt, weil er von seinen durchweg älteren Studenten ohne Unterlass gehänselt wird, obwohl er für sie eigens ein Lehrbuch verfasst hat (auf Altgriechisch). Auch eine andere Stelle kündigt er, weil er erst später erfährt, dass diese militärischen Zwecken dient - und Sidis ist glühender Pazifist. Seine Verhaftung und seine Anklage vor Gericht aufgrund der Teilnahme an einer ungenehmigten Demonstration der kommunistischen Bewegung. Die darauf folgenden Umerziehungsversuche seiner Eltern durch das Wegsperren in eine Psychiatrie, einschließlich des Verhinderns der Kontaktaufnahme zu Williams Freunden...

    "Ich möchte ein perfektes Leben führen. Das perfekte Leben lässt sich nur in Abgeschiedenheit führen. Menschenmengen habe ich immer gehasst."

    Auch wenn Morten Brask hier nicht angklagend schreibt, sondern in wohlgesetzten Formulierungen, eher nüchtern und emotionsarm, wird die wachsende Not Williams beim Lesen zunehmend spürbar. Und doch lässt der Autor die aufsteigende Traurigkeit des Lesers kaum einmal wirklich zu. Denn obschon William schlussendlich ein Leben in Einsamkeit verbringt - er kehrt seinen Eltern, sämtlichen ehrgeizigen Ambitionen und nicht zuletzt auch der hartnäckigen Presse rigoros den Rücken und lebt vollkommen anonym von häufig wechselnden Jobs als einfacher Büroangestellter, schreibt nur noch in seiner Freizeit Artikel und Bücher und widmet sich seiner Fahrkartensammlung - lebt er letztlich das Leben, zu dem er sich bewusst entschieden hat. In Sidis Augen: ein perfektes Leben.

    "Es gibt wohl kein Leben, das richtiger ist als ein anderes. Man soll danach streben, das Leben zu wählen, das man selber für richtig hält, und wenn man das getan hat, ist das sicher eine Art Lebensperfektion."

    Im Alter von 46 Jahren stirbt William Sidis an einer Hirnblutung - so einsam, wie er gelebt hat. Ich muss gestehen, dass ich das Buch mit einem Kloß im Hals schloss, nicht jedoch verbittert. Sondern mit dem Gedanken: Was wohl ist ein perfektes Leben? Ist es das Ausschöpfen aller Fähigkeiten, über die man verfügt? Nun, William Sidis hat sich für ein anderes perfektes Leben entschieden. Und dem zolle ich definitiv Respekt.

    Eine beeindruckende Biografie über ein längst vergessenes Genie, die noch lange nachhallt...

    © Parden

    Teilen