Das Muschelessen: Erzählungen

Rezensionen zu "Das Muschelessen: Erzählungen"

  1. 5
    11. Nov 2019 

    Lesetipp

    Meine Gedanken zu „Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke.

    Diese Erzählung war für mich ein außergewöhnliches Leseerlebnis und lässt mich seltsam zwiegespalten zurück.
    Einerseits hat sie mich gepackt und finde ich sie, bis auf wenige Kritikpunkte, wunderbar und ganz besonders geschrieben, andererseits hatte ich während der Lektüre, vor allem auf den letzten Seiten, oft den Wunsch, dass sie endlich endet und am Schluss war ich gleichzeitig froh darüber, dass ich das Buch zuschlagen konnte, sowie begeistert, was die Autorin da geschaffen und präsentiert hat.

    Birgit Vanderbeke schaffte es, mich zu fesseln und gleichzeitig maximal zu fordern.

    Aber erst einmal ganz kurz zum Inhalt:
    Mutter, Tochter und Sohn sitzen am gedeckten Esstisch und warten vor einem Topf Muscheln auf den Vater, den sie von einer Geschäftsreise zurückerwarten. Sie wollen mit ihm seine Beförderung feiern, aber er verspätet sich. In den 3 3/4 Stunden bis das Telefon zu klingeln beginnt, breiten sich vor dem Leser allerlei erkenntnisreiche Gedanken und ein „weltbewegendes“ und „lebensveränderndes“ Gespräch aus.
    (Ich meine hier die Innenwelt bewegend.)

    Wozu kann eine kleine Abweichung von der Routine führen?
    Was, wenn einmal nicht alles in gewohnten Bahnen verläuft?
    Was, wenn man dadurch anfängt nachzudenken und beginnt, alles zu hinterfragen?

    Wie sehr kann jemand, der nicht präsent ist präsent sein?
    Das hängt von seiner Macht ab bzw. von der Macht, die ihm gegeben wird.

    Birgit Vanderbeke greift mit dieser bestürzenden Familiengeschichte aus den 60er Jahren ein zeitloses und brisantes Thema auf, das, wenn es zu viel Raum einnimmt, zu ernsthaften psychischen Problemen und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten führen kann.

    Die Erzählung, in der es um die ernste und tiefgründige Thematik der Anpassung und Selbstaufgabe mit all ihren Konsequenzen für alle Beteiligten geht und die an einer, so meint man zunächst, typischen 60er Jahre Familie illustriert wird, kommt erst einmal ziemlich leichtfüßig, humorvoll, zynisch und auch ironisch daher, steigert sich im Verlauf in ihrer Intensität und führte bei mir zu Erschütterung und Empörung.

    Der Leser meint sehr bald zu ahnen, wohin die Geschichte führt. Aber weit gefehlt. Es gibt Spielräume und verschiedene Möglichkeiten, die man sich im Verlauf der Lektüre ausmalen kann. Am Schluss kann man sich aus wenigen Sätzen und Gesten zusammenreimen, wie diese Geschichte dann tatsächlich endet.

    Die Autorin lässt den Leser in die überbordende und eindrückliche Gedankenwelt der Tochter des Hauses eintauchen und erstaunt mich mit eindringlichen und präzisen Formulierungen und Überlegungen, z. B. jene über notwendig versus hinreichend oder Punkt- und Flächenwissen versus Breiten- und Tiefenwissen.

    Sie spielt mit Wörtern und Sätzen, benutzt detaillierte Beschreibungen und schöne Metaphern (Harmonie in der Musik - Harmonie in der Familie). Nichts klingt bemüht oder gekünstelt. Sie schafft es, zum Nachdenken, zum Mitfühlen aber auch zum Schmunzeln, z. B. über Wortneuschöpfungen wie z. B. „akustische Wohnzimmerpest“ oder „Luftschnapport“, anzuregen. Es scheint, sie schreibe einfach so drauflos und es fließe einfach so aus ihr heraus.

    Es ist aber auch anstrengend, am Ball zu bleiben, da jeder Gedanke interessant ist und die Sätze endlos lang sind und es kaum Abschnitte gibt.
    Ein Gedankenstrom...
    ein Gedanke führt zum nächsten...
    freie Assoziation... Wunderbar! Eine Wonne!

    Aber man muss am Ball bleiben und sich konzentrieren, um den ganzen Genuss der in dem schmalen Bändchen steckt auskosten zu können. Deshalb ist die Länge bzw. die Kürze des Buches (121 Seiten) m. E. ideal gewählt.
    Man kann dem Strom in einem Rutsch folgen und das Büchlein dann zur Seite legen und es nachwirken lassen.

    Im Verlauf entsteht aus vielen Puzzleteilen ein detailliertes Bild der Familie. Wir bekommen einen Einblick in die Biographien der Protagonisten, in die Geschichte der Familie und in deren aktuelle Situation und wir lernen die Charaktere ziemlich genau kennen:
    - den narzisstisch veranlagten, überheblichen, besserwisserischen, wichtigtuerischen, großspurigen Vater, einen Naturwissenschaftler,
    - die unterwürfige, angepasste, tüchtige Mutter, eine Lehrerin, die sich dem Patriarchen beugt, sich dabei selbst größtenteils aufgibt und ihren Kindern kein angemessenes Vorbild ist.
    - Wir lernen auch die beiden vom Vater gedemütigten und abgewerteten Geschwister kennen, die nicht nur unter der Dominanz und Lieblosigkeit des Vaters, sondern auch unter der Schwäche der Mutter leiden, die sie weder schützt noch ihnen den Rücken stärkt und die stattdessen nicht selten von ihren Kindern Schonung, Trost und Beruhigung braucht.

    Trotz meines überwiegend positiven Eindrucks kann ich nicht umhin, zu erwähnen und zu bemängeln, dass Birgit Vanderbeke ihr Thema recht klischeehaft präsentiert. Es gibt in ihren Schilderungen schwarz und weiß, aber die Bandbreite dazwischen fehlt.
    Uns werden Täter und Opfer vorgestellt.
    Es geht um Macht und Ohnmacht.
    Es gibt das Gute und das Böse.
    Aber ist das wahre Leben in der Regel nicht komplexer?

    ABER:
    Sie zeigt, dass es möglich ist, durch Selbstreflexion, Austausch, Introspektion und Mut, Rollen abzulegen, auszubrechen, und sich zu befreien. Dass es möglich ist, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und es zu gestalten. Dass man nicht auf die Opferrolle festgelegt ist.
    Und das ist doch eine wundervolle Botschaft vor allem auch für Schüler (die Erzählung wird ja manchmal als Schullektüre gewählt).

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