Das Monster und andere Geschichten

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Monster und andere Geschichten' von Stephen Crane
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5 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Monster und andere Geschichten"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
Verlag: Pendragon
EAN:9783865328076

Rezensionen zu "Das Monster und andere Geschichten"

  1. Crane in Höchstform

    Stephen Crane wurde nur 28 Jahre alt. Er schrieb mit „Die rote Tapferkeitsmedaille“ seinen wohl bekanntesten Roman, der ihm zum Durchbruch verhalf und noch heute in amerikanischen Schulen gelesen wird. Seine Erzählungen stehen dem Roman aber in nichts nach, wie auch der vorliegende Erzählband beweist, der elf Geschichten (zehn davon als dt. Erstveröffentlichung!) sowie den Kurzroman „Das Monster“ umfasst. Erneut bewundere ich Cranes Themenreichtum, seine feine Beobachtungsgabe und seine Liebe zum Detail. Crane beschreibt seine Schauplätze sehr bildlich, bevor er die Figuren ins Rampenlicht treten lässt. Jede Erzählung ist eine Welt für sich, egal, ob alltägliche Familien- und Kinderszenen, Männlichkeitsrituale oder Kriegsschauplätze beschrieben werden. Ebenso vielseitig sind die erzeugten Stimmungen. Mit ein paar einleitenden Zeilen befindet man sich als Leser bereits in einer völlig neuen Örtlichkeit mit einer komplett veränderten Atmosphäre wieder. Crane wendet sich dabei gern den einfachen Menschen zu, hat ein Auge für die Benachteiligten und Schwachen. Seine Themen darf man als modern und völlig zeitlos betrachten, auch wenn das eigentliche Setting im vorletzten Jahrhundert angesiedelt ist.

    Ich war sehr überrascht, dass im vorliegenden Band auch kindliche Perspektiven eingenommen werden, ich kannte sie aus Cranes bisherigem Werk noch nicht. Bereits in der ersten Geschichte kann man die Zerrissenheit des kleinen Horace spüren, der angehalten wurde, auf seine neuen Handschuhe aufzupassen, aber viel lieber mit den anderen Kindern im Schnee tobt. Am Ende schämt er sich und plant seine Flucht.

    Wiederkehrend ist die Figur des kleinen Jimmie Trescott, der mit seiner Familie im fiktiven Städtchen Whilomville lebt. Während er in „Redner in Nöten“ mit einer Schulaufgabe kämpft und in zwei anderen Geschichten seine liebe Not mit den Mädchen hat, wird ihm in „Das Monster“ (1898) auf dramatische Weise das Leben gerettet. Diese Erzählung mit einem Umfang von fast 100 Seiten darf man als Zentrum des Buches betrachten, ich würde sie als Meisterwerk bezeichnen wollen. Thematisch hat sie Parallelen zum Roman „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee, entstanden ist sie jedoch viele Jahre davor. Sie beginnt zart, über mehrere Szenen, in denen man die Protagonisten kennenlernt. Dann braut sich eine Katastrophe zusammen: Das Haus von Doktor Trescott beginnt zu brennen. Der Schwarze Henry Johnson stürzt sich beherzt in die Flammen, um seinen kleinen Freund Jimmie zu retten, was ihm auch gelingt. Johnson indessen überlebt das Unglück nur schwer entstellt. Der Doktor verhält sich loyal, ist seinem Angestellten zutiefst dankbar, pflegt ihn gesund und übernimmt seine Fürsorge. Doch die Menschen in der ländlichen Provinz zeigen wenig Sympathie mit dem Retter. Sie haben tiefe Vorbehalte gegenüber den Schwarzen und kultivieren ihre Ängste vor dem Gezeichneten… Eine sehr bewegende, nachdenklich machende Erzählung. Crane greift hier die typische Lage der Schwarzen Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert auf: De jure zwar von der Sklaverei befreit, de facto aber immer noch am äußersten Rand der Gesellschaft stehend, muss sie um Anerkennung und Rechte kämpfen.

    Auch Kriegsgeschehen hat wieder Eingang in diese Erzählungen gefunden, allerdings eher als bedrohliches Hintergrundrauschen für die Zwistigkeiten zweier Brüder. Amüsieren kann man sich auch über eine bewunderte Kuckucksuhr im Wilden Westen, die zu kuriosen Entwicklungen führt. Wirklich jede Erzählung hat mich überzeugt, jede hat mich abgeholt und begeistert. Das ist eine Seltenheit. Stephen Crane hat wirklich ein beeindruckendes Talent!

    Grandios übersetzt wurden die Erzählungen von Lucien Deprijck, der sich um größtmögliche Nähe zu den Originaltexten bemüht hat. In voran- und nachgestellten Anmerkungen erläutert er die Besonderheiten und warum er nach heutigen Maßstäben rassistische Begriffe originalgetreu übersetzt hat. Ich bin ihm und dem Pendragon Verlag sehr dankbar für diese Authentizität, weil ich als Leserin Rassismen selbst einordnen kann und klassische Texte „unzensiert“ genießen möchte. Im Nachwort schildert Deprijck wesentliche Lebensstationen Cranes und ordnet sein Werk biografisch ein, so dass der Erzählband wunderbar abgerundet wird.

    Wie schade, dass Stephen Crane nicht ein höheres Lebensalter erreicht hat. Wie viele großartige Erzählungen und Romane hätte er noch schreiben können? Ich empfehle dieses Buch allen Freunden zeitloser, ansprechender Literatur.

    Große Leseempfehlung!

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