Das Mädchen auf der Himmelsbrücke
Leenas Traumpfad auf den Schwingen der Musik
"Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" ist ein Werk der finnischen Autorin Eeva-Liisa Manner. Das Werk schwankt zwischen der Realität und der Traumwelt, wobei die Grenzen oft verschwimmen, so dass nicht immer klar zuzuordnen ist, ob wir uns in der Realität befinden.
Die neunjährige Leena wächst bei der Großmutter auf, die nicht allzu viel auf das Kind eingeht. So versinkt Leena immer mal wieder in ihre Traumwelt. Auch in der Schule hat sie Probleme, weil sie verträumt ist. Ohne Freunde ist es nicht verwunderlich, dass sie immer öfter Zuflucht in ihren Träumerein sucht. Das Wasser hat es ihr magisch angetan, aber als sie dann in den Genuss eines Werkes von Bach kommt, ist sie über die Maße fasziniert von diesem Spiel.
Leena bringt von Anfang an eine starke Melancholie in die Geschichte. Es ist herzzerreißend mitzuerleben, wie ein kleines Kind, das eigentlich fröhlich herumspringen sollte, an Dinge wie den Tod denkt.
Aufgelockert wird die Handlung durch Gespräche mit einer Nonne und und einem kauzigen Geistlichen, wobei mir auch hier nicht immer klar war, wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Erlebnisse sind.
Zum nachdenken hat mich die Tatsache angeregt, dass die Autorin Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle aus ihrer eigenen Kindheit verarbeitet haben soll. Dabei frage ich mich, warum sie dann ausgerechnet dieses Ende gewählt hat? Das Ende war für mich ein Schock und entzog dem märchenhaften Anfang seinen Reiz.
Insgesamt habe ich mich etwas schwer getan mit dem Mix aus Phantasie und Realität, dennoch ist es ein Buch, dass bewegt. Ich möchte dieses nur knapp 140 Seiten umfassende Buch daher nur eingeschränkt empfehlen, da ich denke, dass es sicher nicht jedermanns Geschmack treffen wird. Man muss sich von der Vorstellung lösen es hier mit einem lebensbejahenden Märchen zutun zu haben. Im Gegenteil, der Leser muss mit dem unausweichlichen rechnen und umgehen können.
Wer den Guggolz Verlag kennt, weiß, dass dort besondere Bücher aufgelegt werden. Der Verlag hat sich auf nord- und osteuropäische Literatur spezialisiert und schon so manchen vergessenen Schatz geborgen, indem er renommierte Klassiker auch erstmalig ins Deutsche übersetzen ließ. Sehr gern erinnere ich mich an die beiden Romane „Das Eis-Schloss“ und „Die Vögel“ des Norwegers Tarjei Vesaas. Auch sie durchzieht eine latente Melancholie, auch ihnen fehlt ein glücklicher, unbeschwerter Ausgang. Insofern möchte ich dieses Werk von Eeva-Liisa Manner als „Vesaas für Fortgeschrittene“ bezeichnen – im positiven Sinn. Die Autorin (1921 – 1995) wird in ihrer Heimat besonders als Dichterin hochverehrt, insgesamt erhielt sie siebenmal den finnischen Staatspreis. Ihre Nähe zur Lyrik und Poesie kann man in jeder Zeile ihres Romans bestaunen, der sprachlich ein absolutes Highlight darstellt, das Maximilian Murmann unglaublich ausgewogen und meisterlich ins Deutsche übertragen hat. Hier stimmt jedes Wort, jeder Satz und jede Szene.
„Es war einmal, nicht weit von hier und vor nicht allzu langer Zeit, ein Stück Geometrie, das zu Holz und Stein geworden war, eine Stadt, die es nicht mehr gibt.“ Mit diesem märchenhaften Satz beginnt der kleine intensive Roman, der starke autobiografische Züge aufweist. Mit der vergangenen Stadt ist die Stadt Viipuri an der karelischen Ostseeküste gemeint, in der Manner bei ihrer Großmutter aufwuchs und die 1939 von der Sowjetunion eingenommen wurde.
Protagonistin Leena fühlt sich mit ihren 9 Jahren zutiefst unverstanden. Ihre Mutter starb unmittelbar nach ihrer Geburt, der Vater verschwand. Das sensible Kind wächst bei der Großmutter auf, „die ihre Zärtlichkeit längst aufgebraucht hat“ (vgl. S. 29) – zu viele eigene Schicksalsschläge säumen deren Lebensweg. Leena ist verträumt, scheint der bedrückenden Realität ständig entfliehen zu wollen. Niemand zeigt Verständnis für sie. Sie hat keine Freundinnen, die Lehrerin bedenkt sie ausschließlich mit Strenge und Unnachgiebigkeit. Einzig einen fernen Onkel Anselmi gibt es, dessen Schriftverkehr einen Lichtstrahl in das ansonsten einsame Leben Leenas bringt.
Als Folge zieht sich das Mädchen immer mehr zurück in die Einsamkeit der Natur. Leena ist ein extrem fantasiebegabtes Kind, das sein Umfeld sehr sinnesbetont wahrnimmt. Sie verfolgt das Spiel von Licht und Schatten, die Faszination des Wassers, die Unendlichkeit des Himmels, den Flug der Vögel - und überträgt ihre Gefühle in Bilder, die ihr die Kraft geben, sich in eine andere Welt zu träumen. Früh verspürt man Leenas latente Todessehnsucht, die aber eher als Wunsch nach etwas Befreiendem und nach einem anderen hoffnungsfrohen Dasein verstanden werden kann.
Man begleitet Leena bei ihren Streifzügen. Die personale Erzählperspektive lässt den Leser sehr tief in ihr Bewusstsein, ihre Empfindungen und Gedanken eintauchen. Die Autorin findet wunderbare Metaphern für Leenas Befindlichkeiten. Sehr deutlich wird der Druck, unter dem das Kind in der Schule steht. Schon kleinste Aufgaben geraten zur großen Prüfung. Die Versagensangst wird zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die Tadel und Strafe nach sich zieht. Die Lehrerin wirkt für heutige Verhältnisse dabei aus der Zeit gefallen, für die damaligen jedoch höchst authentisch. Kinder haben zu funktionieren, was Leena nicht kann. Stattdessen flüchtet sie sich in ihre Todesfantasien. Sie sucht Antworten auf existenzielle Fragen und streift auf der Suche nach Gott durch die Stadt. „…und die Straße fiel geradewegs in den Himmel. In dieser Straße endete die Welt, diese Straße war eine Himmelsbrücke, und Leena war sich sicher, dass man hier an dunklen Herbstabenden Sterne vom Ufer pflücken konnte.“ (S. 53) In dieser Straße findet das Mädchen die römisch-katholische Kirche, die völlig anders ist als das protestantische Gotteshaus, das sie mit ihrer Großmutter besucht. Völlig verzückt lauscht Leena dort den auf der Orgel ertönenden Bach-Fugen: „So war es. Wasser war das richtige Wort. Es sagte nichts und sagte alles. So war diese Musik. Wasser und Himmel – ohne Boden.“ (S. 54) Der Besuch dieser Kirche, wo sie die verständnisvolle Nonne Elisabet und den blinden Orgel spielenden Hausmeister Filemon kennenlernt, ist die Schlüsselszene des Romans. Das Mädchen verliebt sich in den Zauber der Musik, findet endlich Menschen, die ihm zuhören und mit denen sie über die Fragen philosophieren kann, die sie fortwährend beschäftigen. Die Repliken des Hausmeisters sollte man nicht allzu ernst nehmen, sondern aus der Perspektive Leenas begreifen, die ihn als komisch-lustigen Kauz wahrnimmt und sich aus dem Gespräch die Dinge zieht, die für sie von Bedeutung sind.
Die Autorin kann sich meisterhaft in dieses kleine, tief verletzte und verunsicherte Mädchen hineinversetzen, das zwar von der Großmutter versorgt wird, dem aber Liebe, Zuwendung und Vertrauen versagt bleiben. Leena flüchtet sich in eine eigene Wirklichkeit, die einer surrealen Traumwelt gleicht. Im Zuge des Romans verschwimmen diese Grenzen immer stärker, Bilder und Stimmungen der Hoffnung wechseln sich mit denen der Verlorenheit ab. Man darf nicht den Anspruch haben, eine klare Trennung zwischen Realität und Fantasie vollziehen zu wollen. Manner gelingt es meisterhaft, den Seelenzustand dieses Mädchens abzubilden. Die Perspektive ist dabei keine rein kindliche, was die Nähe zur Protagonistin beim Leser aber verstärkt.
Man darf sich fallen lassen in dieses kleine Buch mit seiner Geschichte. Man sollte die fast lyrische Dichte, die poetische, wunderschöne Sprache zu schätzen wissen und sich nicht scheuen, wiederholt zu lesen, um Bezüge herstellen zu können. Die vermeintlich kleinen Bücher haben es oft in sich. Für dieses gilt das im Besonderen. Die Anlehnung an klassische nordische Märchen ist erkennbar, ein Happyend demnach fast ausgeschlossen. Das Ende dieses Romans kann in mehrere Richtungen interpretiert werden. Man braucht zugegebenermaßen etwas Zeit für das Verständnis. Ich selbst habe eine zweite Lektüre als sehr gewinnbringend empfunden, weil sich mit ihr Zusammenhänge offenbarten, die ich zunächst nicht sah. Allerdings habe ich auch wenig Erfahrung mit reiner Poesie, was den Zugang zu diesem Roman vielleicht etwas erschwert. Hilfreich in diesem Zusammenhang ist auf jeden Fall das kompetente Nachwort von Antje Ravík Strubel, die im vergangenen Jahr den Deutschen Buchpreis mit ihrem Buch „Blaue Frau“ gewann.
In Summe halte ich dieses wunderschöne, fadengeheftete Büchlein für eine Perle am Literaturhimmel, die für mich nach und nach ihr Strahlen offenbart hat. Es passt mit seiner tiefen Melancholie und Traurigkeit in die kühle Jahreszeit und gliedert sich ideal in das Verlagsprogramm des Guggolz Verlages ein. Wer intensive, poetische Romane schätzt, der sollte hier unbedingt zugreifen.
Große Leseempfehlung!
Das Heben unbekannter Schätze der nord- und osteuropäischen Literatur ist das Markenzeichen von Sebastian Guggolz und seinem Verlag. Nicht nur wegen der räumlichen Nähe und der ebenso außergewöhnlich schönen Einbandgestaltung erinnert "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" der finnischen Lyrikerin, Prosaautorin und Übersetzerin Eeva-Liisa Manner (1921 – 1996) an die wundervollen Romane des Norwegers Tarjei Vesaas (1897 – 1979), auch inhaltlich, bezüglich der lyrischen Sprache und der magischen Bilder gibt es Parallelen zu "Das Eis-Schloss" und "Die Vögel". Umso erstaunlicher, dass von Eeva-Liisa Manner, die als Pionierin der literarischen Moderne Finnlands gilt, bisher nur einige Gedichte ins Deutsche übersetzt wurden. Nun liegt ihr Romandebüt von 1951 auf Deutsch vor und wie immer würdigt der Guggolz Verlag den Übersetzer Maximilian Murmann auf dem Einband.
Kein Märchen – trotz märchenhafter Anklänge
Die neunjährige Leena wächst bei ihrer Großmutter auf, einer von Schicksalsschlägen gebeutelten, streng protestantischen, schattenartigen Frau, die „ihre Zärtlichkeit längst aufgebraucht“ (S. 29) hat. Elternlos fühlt Leena eine Einsamkeit in sich, für die sie keine Worte findet. Sie sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, doch wenn das Schicksal ihr einen Zipfel vom Glück zuspielt, entgleitet er ihr. Der Nachbarsjunge mit den abenteuerlichen Spielen und Geschichten ist genauso aus ihrem Leben verschwunden wie der Drehorgelmann, der heißgeliebte Onkel Eevertti Anselmi kommt selten und steht unter Beobachtung seiner eifersüchtigen Frau. Nur die strenge, steinharte, ungerechte Lehrerin, die sie fürchtet, „so, wie sie alle Menschen fürchtete, die kein Lächeln besaßen“ (S. 11), bleibt neben der Großmutter eine Konstante in Leenas Leben.
Ihr Zufluchtsort ist eine Brücke über eine Meeresbucht am Stadtrand. Zwischen dem ebenso geliebten wie gefürcheten Wasser und dem Himmel kann sie ihren Sehnsüchten, Gedankenspielen und Träumen freien Lauf lassen:
"Unter Wasser ziehen… Aber im Wasser konnte sie nicht leben. Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben?" (S. 22)
Eine Wende scheint greifbar, als Leena bei einem Spaziergang in eine römisch-katholische Kirche kommt und dort nicht nur einer freundlichen Nonne, sondern auch der Orgelmusik von Johann Sebastian Bach begegnet. So wie der Protagonist Mattis in Tarjei Vesaas‘ "Die Vögel" im Balzflug der Waldschnepfe einen Wendepunkt in seinem Leben zu erkennen glaubt, so eröffnet sich auch für die von der Musik völlig überwältigte Leena eine neue Welt.
Eigene Kindheitstraumata
"Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" gilt als stark autobiografischer Roman und spielt in Viipuri (Wyborg), Manners karelischer Kindheitsstadt, die Finnland im Winterkrieg 1939/40 an die Sowjetunion verlor. Im Anfangssatz nimmt sie den Verlust vorweg:
"Es war einmal, nicht weit von hier und vor nicht allzu langer Zeit, ein Stück Geometrie, das zu Holz und Stein geworden war, eine Stadt, die es nicht mehr gibt." (S. 7)
Auch wenn das nur 134 Seiten umfassende, für eine Leserschaft abseits des Mainstreams bestens geeignete Büchlein mich bei Leenas Gespräch mit dem blinden Organisten kurzzeitig verlor, fand ich glücklicherweise schnell zurück in diese in luftiger Prosa konsequent aus Leenas Sicht erzählte, auf der Grenze zwischen Realität und Traum balancierende Geschichte eines empfindsamen, sehnsüchtigen Kindes.
Antje Rávic Strubel würdigt in ihrem ebenso hilfreich-informativen wie persönlichen Nachwort Autorin und Werk gleichermaßen.
Eeva-Liisa Manner ist in Deutschland bisher eine Unbekannte. Der Guggolz Verlag, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, zu Unrecht vergessene Autoren, v.a. aus Nord- und Osteuropa, neu herauszugeben, legt mit „ Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ den 1951 erschienen Debutroman der finnischen Autorin vor.
Eeva-Liisa Manner wurde 1921 in Helsinki geboren, wuchs aber, da ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt gestorben ist, bei den Großeltern in Viipuri auf. Von dort musste sie fliehen, als die Rote Armee heranrückte. Ihre Heimatstadt fiel als Teil von Karelien an die Sowjetunion. Eeva Liisa Manner gilt in ihrer Heimat als literarische Pionierin und wurde für ihr Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie ist vor allem als Lyrikerin bekannt, schrieb aber auch Dramen und Prosatexte. Besonders ihr Frühwerk, wozu der hier vorliegende Roman zählt, ist stark autobiographisch geprägt.
„ Es war einmal, nicht weit von hier und vor nicht allzu langer Zeit, ein Stück Geometrie, das zu Holz und Stein geworden war, eine Stadt, die es nicht mehr gibt….sie lebt einzig in der Vergangenheit, ist selbst Vergangenheit geworden.“
So märchenhaft poetisch beginnt der schmale Band und auf der Schwebe zwischen Realität und Traum bewegt sich der gesamte Text.
Da gibt es zum einen das wirkliche Leben der neunjährigen Leena. Sie lebt bei ihrer Großmutter, die Mutter ist kurz nach ihrer Geburt gestorben, der Vater ist ins Ausland verschwunden. Das Mädchen fühlt sich einsam und erlebt ihre Umwelt als bedrohlich. Die Großmutter ist durch viele Schicksalsschläge zu einer frömmelnden, verbitterten Frau geworden. Zu verhaftet in ihrem eigenen Kummer ist sie nicht in der Lage, dem Mädchen die Liebe zu schenken, die es gebraucht hätte. „Aber Omas Liebe war in Schwarz gehüllt, sie war genauso trostlos und bedrückend wie Omas Kirchenlieder.“
Auch in der Schule hat Leena keine Freunde. Die Lehrerin ist streng und ohne Einfühlung in die kindliche Seele. So verwundert es nicht, dass Leena sie hasst.
Die wenigen Bezugspersonen, ein Onkel, ein früherer Nachbarjunge, sind weit weg.
Bei einem ihrer traumwandlerischen Streifzüge durch die Stadt kommt Leena eines Tages zu einer kleinen katholischen Kirche. Bisher kannte sie nur die kalte evangelische Kirche, in die Großmutter geht. Orgelklänge, eine Fuge von Bach, verzaubern das Kind völlig. „ Die Musik war weder fröhlich noch traurig, sie war unerklärlich und dennoch selbstverständlich. Unerklärlich und selbstverständlich wie Wasser - ein Wasser, das so klar war wie der Himmel und unter dem es keinen Boden gab.“
Dieses Erlebnis erschüttert Leena zutiefst. Dass sie dabei noch eine freundliche Nonne und einen schrulligen Organisten kennen lernen darf, von beiden ernst genommen wird, verschafft dem Mädchen ein kurzes Glücksgefühl.
Aber der Zauber wirkt nicht an. Leena wird erneut von einer tiefen Traurigkeit gepackt, eine Trauer, die in eine Todessehnsucht führt. „ Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben?“ Für Leena hat das nichts Erschreckendes. Wasser ist für sie so klar und ewig wie die Musik, und darin zu verschwinden oder aufzugehen ist für sie eine schöne Vorstellung.
Dieses Buch ist keine einfache Lektüre. Erwartet man eine realistische Kindheitsgeschichte, hinterlässt der Text einige Fragen. Auch wenn viele Details mit der Biographie der Autorin übereinstimmen, ging es ihr nicht um das exakte Aufarbeiten ihrer Kindheit, sondern wohl eher um die poetische Umsetzung eines Gefühls, das des Verlassen- Seins, des Außerhalb-der-Welt-Stehens. „ Es war eine Trauer, die alles umfasste, was sie kannte oder wahrnahm: …Der Regen weinte auf das Fenster, und auch in ihr weinte etwas.“ Oder : „ Alles erschien seltsam gleichgültig und fremd. Sie stand unwiederbringlich außerhalb der Dinge, sie war herausgefallen, hatte aufgehört zu sein.“
Der Grundton hier ist ein zutiefst melancholischer.
Leena ist ein Kind mit vielen Fragen. Was ist Wirklichkeit und was ist Traum? Gibt es für jeden seine Bestimmung oder entscheidet der eigene Wille? Oder ist alles nur ein Spiel? Auch das Wort „ Gott“ fällt öfter, ohne dass der Roman religiöse Themen aufgreift. Für Leena ist Gott in der Musik, die sie hört. Der Psalmenspruch vom Herrn als Hirte, gibt ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen.
Aber nicht nur Trauer und Todessehnsucht bestimmen Leenas Welt. Musik erklingt überall, im Regen, im Schaukelstuhl, in einer Pfeife aus Wiesenkerbel ( so erklärt sich auch das Unschlagbild).
Leena bewegt sich ständig auf der Grenze zwischen Realität und Phantasie, balanciert auf einer „ Himmelsbrücke“. Für all die Stimmungen, Gedanken und Gefühle des Mädchens findet die Autorin viele sehr poetische Bilder, die zeigen, dass sie eine Lyrikerin ist. Man sollte sie als Metaphern lesen und sich einfach dem Zauber der Sprache überlassen, dann findet man leichter einen Zugang zum Buch. Auch wenn man, wie ich, nicht alle Bilder verstanden hat, nicht jede Wendung nachvollziehen konnte. Trotzdem hat mich diese Geschichte berührt und lange beschäftigt.
Mir haben für das tiefere Verständnis die Anmerkungen des Verlegers und die Diskussion in unserer Gruppe sehr geholfen. ( So wäre der Roman auch für einen literarisch interessierten Lesekreis geeignet, da er, auch im Hinblick auf sein Ende, viel Interpretationsmöglichkeiten bietet.)
Einen kurzen Einblick in Leben und Werk der finnischen Autorin gibt in ihrem Nachwort die Schriftstellerin Antje Ravik Strubel.
Nicht unerwähnt bleiben sollte die großartige Übersetzung von Maximilian Murmann, der dafür mit dem Bayrischen Übersetzerstipendium ausgezeichnet wurde.
Wer Freude an poetischer Sprache hat, sich gerne von Büchern fordern lässt, wird seine Freude haben an diesem lyrischen Prosatext.
In dem kleinen Roman “Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ vermittelt uns die Autorin Eeva-Liisa Manner einen Einblick in die innere und äußere Welt der kleinen Leena, einem besonders gefühlsbetonten Mädchen, das als Halbwaise bei ihrer Großmutter aufwächst. Leena nimmt ihre Umgebung im Wesentlichen als unfreundlich, feindlich und freudlos wahr. Die Schule steht dafür ganz im Vordergrund. Hier erfährt sie nur Ablehnung, Demütigung und Leid. Die Großmutter kümmert sich zwar durchaus vorbildlich um das kleine Mädchen, aber auch von dieser Seite kommt bei Leena wenig Aufmunterung, Freude oder Vergnügen an. Es ist eine graue, depressive Welt, in der sie lebt oder in die sie sich hineindenkt. Ihre Hypersensibilität macht ihr dabei das Leben nicht einfacher, sondern vertieft und steigert die freudlosen Eindrücke aus ihrem Umfeld.
Da gerät sie eines Tages an einen Ort ihrer Stadt, der bisher für sie nicht existent war und an dem sie neue, ermunternde Impulse erhält. In einer kleinen katholischen Kirche trifft sie die Ordensschwester Elisabet und den kauzigen Filemon, der sie mit seiner Orgelmusik fesseln kann. Bach tönt durch die Kirche und trifft Leena bis ins Mark. Hier ist auf einmal die Freude und das Herzergreifende, das sie bisher so komplett in ihrem Leben vermisst hat, in Töne gegossen um sie herum und trifft sie genau ins Herz. Doch die Musik setzt aus, Filemon steigt von der Orgelbühne herunter und führt mit Leena ein eher verwirrtes oder verwirrendes Gespräch. Und so bleibt der aufwühlende Eindruck bei Leena zwar erhalten, aber es ist sehr fraglich, ob er sie über weitere depressive Stimmungen und Momente wird hinwegretten können. Es ist ein nur sehr fragiles Aufglimmen von Freudvollem, was Leena aus dem Besuch bei den Katholiken mitnimmt:
„Doch um Leena zu verschrecken, brauchte es nicht mehr. Die Pfeife glitt ihr aus der Hand, die Musik glitt ihr aus der Hand, fiel ins Wasser und ging unter.“
Und doch bleiben da im vielschichtigen Denken Leenas Spuren der positiven Sehnsucht nach dem Freudigen:
„Die Welt ist wieder groß und schön, diese ihre violette Welt. Wie eine gigantische, aus einem Traum hervorgesprossene Blume schimmert sie über ihr, schwankt in dem Asphaltspiegel unter ihr, sie klingt und singt und schimmert.“
Nicht immer ist die vom Erzähler sehr direkt und ungefiltert vermittelte Gedankenwelt Leenas ganz nachvollziehbar und verständlich. Da gibt es viele Ungereimtheiten und Übersensibles, das nur zu oft in Fantasiewelten abdriftet. Der Leser hat während des gesamten Romans jedenfalls damit zu kämpfen, den Worten des Erzählers richtig folgen zu können und sie für das Schicksal der Romanheldin Leena richtig einzuordnen. Das macht die Lektüre des Romans nicht leicht. Er lässt die Grenze zwischen Traum/Fantasie und Wirklichkeit immer wieder nebelhaft verschwimmen. Spiegelt das die zugegeben nicht immer rationale Gedankenwelt eines Kindes wider, oder ist es doch die hyperintellektuelle Sichtweise der Autorin, die hier den Ton angibt?? Und dennoch bleibt da ein aus der Sprache geborener Zauber beim Leser zurück, wenn dieser sich auf den poetischen Charakter des Erzählten einlassen kann.
Ich gebe also eine Leseempfehlung ab für all diejenigen, die sich gern in die tiefgründigen Verse von Poesie versenken. Der Prosa-verliebte Leser, der das Maß vor allem anlegt an der Klarheit von Handlungen, Charakteren und Handlungssträngen, sollte die Finger vielleicht besser von diesem Buch lassen. Ich zähle mich eher zu der zweiten Kategorie und musste mir deshalb den Zugang zu dem Buch etwas mühsam erarbeiten, habe aber in diesem kurzen Roman doch einen Einblick in eine Version kindlichen, von Fantasie getriebenen Denkens erhalten, den ich sehr zu schätzen wusste. Mit Vorsicht gebe ich 4 Sterne.
Diese Aussage steht auf einer Gedenktafel am Haus, in dem Manner gewohnt hat und unter dieser Prämisse sollte man diesen Roman auch lesen.
In der Leserunde waren wir teilweise etwas ratlos ob der Interpretation und es stellten sich Fragen: Wer erzählt, ob ein reales Geschehen geschildert wird, ob die Figur der neunjährigen Leena, die von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist, authentisch sein kann.
Mir hat das Statement des Verlegers, das er uns freundlicherweise hat zukommen lassen, geholfen, den Roman besser zu verstehen.
Im Mittelpunkt steht meines Erachtens die poetische Darstellung der inneren Welt Leenas, die Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen, die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt. Ist ihre Trauer eine Kategorie, die wir als Erwachsene anlegen, fragt Antje Rávik Strubel im Nachwort oder nimmt Leena die Welt nur anders wahr?
"Es war eine sonderbar kraftlose und trotzdem grenzenlose Trauer, sie war überall in ihr und Leena spürte, dass nichts, wirklich nichts sie davon befreien konnte. Es war eine endlos lange, ewige Trauer, eine Trauer, die nicht zu erklären und dennoch selbstverständlich war." (17)
Oberflächlich könnte man sagen, ihre Trauer erwachse daraus, dass ihre Mutter im Kindbett gestorben, der Vater, ein Trinker, nicht anwesend ist. Sie wächst bei ihrer Großmutter auf, die selbst von Trauer erfüllt ist, da ihr Sohn im Meer ertrunken ist und ihr Mann, der diesen aus dem Haus gejagt hat, sich erhangen hat. Zudem fühlt sich Leena in der Schule unwohl, denn ihre Lehrerin zeigt ihr gegenüber keinerlei Empathie.
Doch ihre Trauer berührt existentielle Fragen. Während sie am Fenster sitzt, dem Regen zusieht, der an der kalten Scheibe herunterläuft, fragt Leena sich, warum sie so traurig sei.
"Worüber sie weinte, das wusste sie nicht, und genau deshalb erschien ihr alles so traurig. Haus, Himmel, Baum, Wolken ...alles war wie für diese Trauer bestimmt. Natürlich auch sie. Dass es bestimmt war - dass alles fertig und durch nichts zu ändern war - , daher kam wohl diese alles umfassende Trauer." (18)
Die Frage, ob sie etwas an ihrem Schicksal ändern kann oder ob alles vorherbestimmt ist, wird im Schlüsselgespräch (das man mindestens zweimal lesen muss) zwischen ihr und dem blinden Organisten Filemon thematisiert sowie in dem Gespräch zwischen ihr und der Nonne Elisabeth, eine der wenigen positiven Figuren im Roman, die ihr einen Moment des Haltes geben können.
In der Kirche, in der sie sich begegnen, erfährt Leena auch den wohltuenden Zauber der Musik, das ein Motiv neben dem des Wassers und ihrer (vermeintlichen) Todessehnsucht ist.
"Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben? Und plötzlich wusste sie es. Und sie wusste es, als wäre sie irgendwann im Wasser gestorben." (22)
Will sie wirklich sterben oder spiegelt sich in Leenas Gedanken die Einsamkeit der Autorin wider, die ebenfalls ohne Eltern aufgewachsen ist, in einer Stadt, die von 1939 von der Sowjetunion eingenommen wurde und die sie verlassen musste.
Im Roman "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" führt sie uns in ihrer Protagonistin Leena ein Sehen vor,
"das nicht unterscheidet zwischen den Sphären des Wirklichen und der Fantasie, den Sphären des Erlebten und des Erinnerten, des Erfahrenen und Erträumten, der Sphäre des Diesseitigen und Jenseitigen." (Nachwort, 142)
Diesem "Sehen" zu folgen, erschwert das Verständnis des lyrischen Romans, der jedoch, wenn man sich darauf einlässt und fokussiert, durch seine poetische Sprache zu verzaubern vermag.
"Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" ist ein neunjähriges Mädchen namens Leena, das an der finnischen Ostseeküste bei ihrer Großmutter aufwächst. Die Mutter starb kurz nach der Geburt, der Vater hat sich davongemacht, die Oma ist nach einer Anzahl Schicksalsschlägen zu einer frömmelnden, in Trauer versunkenen alten Frau geworden. Leena hat keine gleichaltrigen Freundinnen und gilt wegen ihrer verträumten und leicht verschusselten Art bei der Lehrerin als "faul und starrsinnig".
Der kleine Roman gibt auf 134 Seiten einen kurzen Zeitraum (wohl nur ein paar Wochen) im Leben Leenas wieder, konsequent subjektiv aus ihrer Sicht erzählt: einen Schultag, durchsetzt von strengen Verweisen der Lehrerin; Herumstromern in der Stadt, Beobachten des Flusses und des Regens; ein transzendenter Augenblick, als das Kind zum erstenmal Orgelmusik von Bach hört, und ein Gespräch mit einer Nonne und dem Hausmeister des Klosters. Leena bekommt einen Brief von ihrem geliebten Onkel, und er sendet ihr ein magisches Geschenk. Viel mehr passiert nicht - jedenfalls nicht an äußerer Handlung.
Leena ist ein besonderes kleines Mädchen. Sie ist allein in ihrer Welt, und sie ist immer traurig. "... eine endlos lange, ewige Trauer, eine Trauer, die nicht zu erklären und dennoch selbstverständlich war ... eine Trauer, die alles umfasste, was sie kannte oder wahrnahm: Baum und Vogel, Haus, Himmel, Wolke, Regen, Wind, Menschen. (...) Alles war für diese Trauer bestimmt. Dass es bestimmt war - dass alles fertig und durch nichts zu ändern war -, daher kam wohl diese alles umfassende Trauer." (S.17 f.) Leenas ganze Erlebniswelt ist von dieser Grundstimmung geprägt. Doch paradoxerweise ist Leena kein "unglückliches" Kind in dem Sinn, dass in ihrer Welt die Dinge anders sind, als sie nach ihrem Gefühl sein sollten. Das unterscheidet sie von vielen unverstandenen Kindern der klassischen Literatur wie in Hermann Hesses "Unterm Rad" oder Ebner-Eschenbachs "Vorzugsschüler". Die klassischen Leiden der Kindheit, das Unverständnis der Erwachsenen, die nörgelige Lehrerin, Scham und Ohnmacht, selbst die kaputten Schuhe sind bloße Stolpersteine auf Leenas magischen Wegen. Für sie hat die Realität so wenig Bedeutung, dass es beinahe schon egal ist, was geschieht - es ist ohnehin alles ein Traum. Besonders in der zweiten Hälfte der Erzählung löst sich ihr Erleben in märchenhaft-lyrischen Sprachbildern auf. Leena ist glücklich, weil ein Stein aus ihrer Hand unter Zwitschern davongeflogen ist. "Ihre Hand hatte den Stein zum Leben erweckt" (S. 139)
Wer bei der "Himmelsbrücke" des Titels an die Regenbogenbrücke des Volksmund denkt, liegt gar nicht so verkehrt: Leenas "Reich ist nicht von dieser Welt" - durchaus auch im biblischen Sinn. Dass sie kein klassisches verzweifeltes Kind ist wie Hans Giebenrath oder Hanno Buddenbrook, macht die Erzählung vielleicht etwas weniger bedrückend. Andererseits ist die Auflösung der Realität in eine Traumwelt bis hin zu existenzphilosophischen Fragen natürlich unbefriedigend für solche Leser, die in erster Linie nach dem Wohlergehen des Kindes fragen.
"Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" ist ein Roman, der inhaltlich und formal der Lyrik näher steht als der Prosa. Es ist kein Buch für den Mainstream und nichts für jemanden, der in erster Linie unterhaltsame und entspannende Lektüre sucht. Dass der ambitionierte Guggolz-Verlag dieses Buch trotzdem in einer bezaubernd aufgemachten Ausgabe herausgebracht hat - in Form eines Büchleins, das mehr wie ein Lyrikband in der Hand liegt denn wie ein Roman -, in einer ausgezeichneten Übersetzung und durch eine Kurzbiographie der Autorin ergänzt, verdient jedenfalls höchste Anerkennung. Deshalb von meiner Seite Höchstwertung, auch wenn klargestellt werden muss, dass dies kein Buch für alle ist und man ein Stückweit auf die Himmelsbrücke mit muss, um es mit Freude lesen zu können.
Im Rahmen von Leserunden kommt man mit Romanen und Autor:innen in Berührung, die man alleine womöglich nicht entdeckt hätte. So auch hier. Obschon Eeva-Liisa Manner vielfach ausgezeichnet wurde, allein sieben Mal mit dem finnischen Staatspreis, hatte ich zuvor noch nie von ihr gehört, geschweige denn etwas von ihr gelesen. Der Guggolz Verlag hat nun ihren Debütroman aus dem Jahr 1951 in einer wunderschönen Ausgabe herausgebracht.
Mit gerade einmal 154 Seiten sollte das Büchlein doch mühelos zu lesen sein - doch nein. Bereits auf den ersten Seiten wird der/die Leser:in überflutet von tieftraurigen Gedanken, Bildern, Empfindungen, gepaart mit einer immensen Einsamkeit und einer deutlichen Todessehnsucht des neunjährigen Mädchens Leena.
"Worüber sie weinte, das wusste sie nicht, und genau deshalb erschien ihr alles so traurig. Haus, Himmel, Baum, Wolken ... alles war für diese Trauer bestimmt. Natürlich auch sie. Dass es bestimmt war - dass alles fertig und durch nichts zu ändern war -, daher kam wohl diese alles umfassende Trauer." (S. 18)
"Es war einmal...", mit diesem märchenhaften Einstieg beginnt der Roman - und deutet bereits an, dass hier womöglich nicht alles wörtlich zu nehmen ist. Der Verleger selbst empfiehlt, den Roman viel stärker auf der Grenze zwischen Traum, innerer Welt und äußerer Welt zu lesen, da vieles davon Traumbilder seien, innere Bilder, die eher auf einer metaphorischen Ebene gelesen werden sollten. Dementsprechend unklar und vieldeutig sind viele der Szenen und liefern einiges an Interpretationsspielraum. Dies zeigte sich auch in der lebendigen Diskussion im Rahmen der Leserunde.
Die im Klappentext angedeutete Musik von Bach beeindruckt Leena in der Tat und verändert ihre Einsamkeit - aber sie bleibt einsam. Zu den wiederkehrenden Themen wie Wasser und Himmel, Vögel und Flügel, Ewigkeit und Tod gesellt sich nun noch Musik und Natur. Der Regen spielt Melodien auf dem lilafarbenen Schirm, die Welt ist voller Töne. Ich war jedoch enttäuscht, weil ich mir viel mehr von dem erschütternden Erlebnis der von einer Kirchenorgel gespielten Fuge erwartet hatte. Insgesamt hoffte ich wohl auf rettende Elemente, doch wurde die Welt der Leena dadurch nur um eine Nuance reicher.
Leider fand ich zu der Erzählung insgesamt keinen wirklichen Zugang. Immer war da das Gefühl, dass mir Leena entglitt, dass sie von mir gar nicht verstanden werden wollte, sondern in ihren Traumwandeleien die karelische Ostseestadt durchstreifte, reale Begegnungen mit Menschen am liebsten umging oder mit neuen Verwundungen haderte. Ein wenig als sähe ich dem Mädchen beim Träumen zu - akzeptierend, dass diese Träume für die Träumende eine Bedeutung haben, jedoch nicht zwangsläufig auch für mich.
Angesichts der Biographie der Autorin selbst wird deutlich, dass diese in dem frühen Werk eigene Kindheitserinnerungen hat einfließen lassen. So kann vieles in dem Text auch auf einer noch höheren Ebene interpretiert werden. Das verlorene Kind steht womöglich für eine verlorene Kindheit, die tote Stadt für das ehemals finnische Viipuri, das 1939 von der Sowjetunion eingenommen wurde und damit fortan unerreichbar war usw.
Doch auch wenn die Diskussionen im Rahmen der Leserunde, die Anmerkung des Verlegers sowie das ausführliche Nachwort der letztjährigen Buchpreis-Gewinnerin Antje Rávik Strubel einige Bedeutungsebenen mehr erschlossen, gab es mir persönlich hier zu viel an Metaphorik, zu viel Interpretationsspielraum, zu viel unklare Verwebung der Handlungsebenen (innen und außen, Traum und Wirklichkeit). Die poetische Sprache und einige bildgewaltige Szenen sprachen mich jedoch an.
Tatsächlich bin ich auch neugierig auf weitere Werke der finnischen Autorin, da ich las, dass ihre spätere Prosa konkreter und politischer sein soll als dieser "traumwandlerische Erzählkosmos". Ich bleibe neugierig!
© Parden
Nein, die 9-jährige Leena läuft keinem weißen Kaninchen mit Taschenuhr hinterher und landet auch nicht im Wunderland. Trotzdem dürfte „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ der finnischen Lyrikerin und Autorin Eeva-Liisa Manner (1921-1995), herausgegeben 2022 vom Berliner Guggolz-Verlag und lyrisch-feinfühlig übersetzt von Maximilian Murmann einen Stammplatz in meiner Bibliothek bekommen.
Dabei war es noch nicht mal „Liebe auf den ersten Blick“, die mich schlussendlich dazu führt, am Ende dieser Rezension 5 märchenhaft-lyrische Sterne zu zücken und eine absolute Leseempfehlung auszusprechen. Nein, es war ein hartes Stück Arbeit, die aber durch eine fast schon überirdisch stark besetzte Leserunde, diskussionsfreudige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie weiteren erleichtert wurde.
Das Buch beginnt wie ein Märchen: „Es war einmal…“. Und tatsächlich gibt es im Laufe der gut 130-seitigen Erzählung immer wieder märchenhafte Passagen, in denen man sich als Leser regelrecht verliert – sofern man die Augen offenhält und eben jene Sätze, Abschnitte entdeckt. Ja, sie verstecken sich nämlich zwischen der Realität, in welcher Leena von ihrer Lehrerin von oben herab zurechtgestutzt wird, traumhaft-lyrischen Gedanken, in denen sich Leena (aber auch die geneigte Leserschaft) verliert und fast schon kafkaesken, surrealistischen Passagen, wo nichts mehr ist wie es scheint.
Da ich mir nach dem ersten Komplett-Durchgang nicht sicher war, wie ich das Buch bewerten soll, habe ich mir nach der Lektüre des Nachwortes von Antje Rávik Strubel und dem daraus resultierendem neuen Hintergrundwissen, dass Eeva-Liisa Manner neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Übersetzerin war (so hat sie u. a. Kafka, Lewis Carroll und Hermann Hesse ins finnische übersetzt) einige Passagen noch einmal gelesen und bin dadurch immer tiefer in den Sog dieser Erzählung hineingezogen worden. Letztlich bringt es nichts, den Text ob seiner Realität oder Nicht-Realität hin „abzuklopfen“, denn dann scheitert man grandios und kann dem Ganzen wenig bis nichts abgewinnen. Das hat die Erzählung jedoch nicht verdient. Das soll jedoch nicht heißen, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe und keine andere Meinung zulasse. Jeder liest anders, setzt andere Prioritäten, hat andere Vorlieben etc. Ich sag´s ja nur :-).
Ich war nach der Erstlektüre etwas enttäuscht, dass der Schlüsselmoment (Leena hört eine Fuge von Johann Sebastian Bach und ihr „Weltbild“ wird dadurch in ihren Grundfesten erschüttert) so wenig Raum einnimmt. Doch das stimmt nicht ganz (habe ich dann festgestellt): das ganze Buch erklingt, steckt voller Musik (nicht nur von Bach) und lässt mich als musikbegeisterter Leser nicht mehr los. Im Gegenteil: ich glaube ich werde diese wunderbar lyrische-musikalische Erzählung öfter in die Hand nehmen und mich dem Klang der Regentropfen, der zwitschernden Tapetenvögel etc. hingeben und würde zu gerne wissen, wie dieses Märchen als Hörbuch klingt.
Ich habe hier ganz klar eines meiner diesjährigen Highlights gelesen. Mein Dank geht an dieser Stelle an den Guggolz-Verlag, der mit der Herausgabe von (fast) vergessener Literatur aus Nord- und Osteuropa der deutschen Literaturlandschaft eine besonders feine Note verleiht!
Wie oben gesagt: 5 märchenhaft-lyrische Sterne und eine absolute Leseempfehlung!
©kingofmusic
Kurzmeinung: Damit kann ich überhaupt nichts anfangen.
Das vorgestellte Büchlein muss man auf dem Hintergrund der Literaturgeschichte sehen. Eine finnische Schriftstellerin (1912 - 1995) versucht sich früh an der Moderne. Diese Moderne ist vielleicht am besten mit der Entwicklung in der Malerei zu vergleichen, die sich zuerst vom Gegenständlichen löste, im Impressionismus dahintüpfelte und sich dann der völligen Abstraktion öffnet. Freilich geht die Autorin in dem Büchlein sogar noch weiter, meiner werten oder unwerten Meinung nach geht sie zu einer „neuen Kunstrichtung über“, die ich mal Dissolutionismus nennen möchte, das sich Auflösende.
Man kann das Büchlein auch als eine Allegorie lesen. Die Kindheit vergeht, „Jahre sind vergangen, Kirschen haben geblüht, die Jugend ist vorbei“, so singt die neunjährige Leena, verkleidet als Die Kindheit, die gerne durch den Regen wandert und Regen und Musik gleichsetzt. Musik, insbesondere die von Johann Sebastian Bach, sei wie Wasser, meint sie. Die Kindheit ist eine Stadt, die nicht mehr existent und somit tot ist. Die Kindheit löst sich auf. Leena löst sich auf, vom ersten Moment an als wir ihr begegnen, von Todessehnsucht beseelt, das ist die Grundaussage des Buches. Diese Todesaffinität, das Gedankengut, das Tod und Leben quasi gleichbedeutend sei und an philosophischen Grundfragen des Lebens vorbeistreift, ohne sie zu durchdringen, wie auch, denn auf die große Sinnfrage gibt es nur individuelle Antworten, missfällt mir. Gründlichst.
Der biographische Hintergrund der Autorin, der Verlust der Heimat, - Besetzung der Heimatstadt durch die Sowjetunion, Exil in Helsinki und im Ausland, wirft noch einmal ein anderes Schlaglicht auf den Roman und erklärt seine melancholische , sehnsuchtsvolle Grundstimmung und hilft besser, den Roman einzuordnen. Verlust und Verlustängste. Doch sollte sich ein Roman eigentlich selbst erklären.
Fazit: Literaturhistorisch durchaus interesssant, weil Literatur aus Finnland nicht so bekannt ist, und ja auch (zum Glück) kurz, - funktioniert „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ als reine Erzählung überhaupt nicht; man muss sich schon tief nach möglichen Interpretationen bücken, Hintergründe recherchieren, um die Geschichte wenigstens als literarisches Experiment würdigen zu können. Ich konnte dieser Erzählung, die keine ist, dennoch kaum etwas abgewinnen.
Kategorie: Sagen. Mythen. Allegorie.
Verlag: Guggolz, 2022
Finnland, Anfang der 1930er-Jahre: Die kleine Leena ist traurig. Wieder einmal hat ihr die verhasste Lehrerin eine Strafarbeit aufgedrückt. Die Neunjährige soll abends alleine nachsitzen. Dabei versteht sie gar nicht, was sie schon wieder falsch gemacht haben soll. Das Mädchen, dessen Mutter tot und dessen Vater irgendwo im Ausland lebt, wächst bei ihrer Großmutter auf und hat sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Leena fühlt sich unverstanden und unendlich einsam. Als sie aus der kleinen katholischen Kirche plötzlich Orgelmusik von Bach hört, nimmt ihr junges Leben eine unerwartete Wendung und die Grenzen zwischen kindlicher Fantasie und erwachsener Realität verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit...
Der Guggolz Verlag hat sich in den letzten Jahren in Deutschland vor allem einen Namen gemacht, weil es ihm gelang, fast schon vergessene Autor:innen wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen dadurch zumindest im Nachhinein noch den verdienten Ruhm zukommen zu lassen. Insbesondere die Romane "Die Vögel" und "Das Eis-Schloss" des Norwegers Tarjei Vesaas dürften die Leser:innen nicht so schnell vergessen. Mit ihren liebevollen Covern, der schönen Gestaltung und den sorgfältigen Nachworten avancierten die Romane zu Lieblingsbüchern vieler Buchfreund:innen.
Auch Eeva-Liisa Manners "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke", das nun erstmals in der deutschen Übersetzung aus dem Finnischen von Maximilian Murmann bei Guggolz erschienen ist, sticht mit seinem Wiesen-Kerbel-Cover sofort ins Auge und passt ganz wunderbar in das Verlagsprogramm. Manner (1921 - 1995) veröffentlichte ihren Debütroman im Jahre 1951. Abgerundet wird die Edition durch ein Nachwort der letztjährigen Buchpreis-Gewinnerin Antje Rávik Strubel.
Ein Kind, welches durch die Musik von Johann Sebastian Bach gerettet wird. Nicht wenige Leser:innen dürften sich durch dieses existenzielle Ereignis an James Rhodes' schwer verdauliches, aber umso lesenswerteres Buch "Der Klang der Wut" von 2016 erinnert fühlen. Während der junge James den Missbrauch durch den Sportlehrer nur dank Bachs "Aria" aus den Goldberg-Variationen überlebte, ist es hier eine Fuge, die der kleinen Leena den Weg weist.
Doch bevor es dazu kommt, nimmt "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" die Leser:innen zunächst sehr von sich ein. Nicht von ungefähr beginnt der Roman mit den Worten "Es war einmal", und dieser märchenhaft-poetische Tonfall zieht sich durch die Lektüre wie der kleine Fluss durch den Handlungsspielort. Neben der Heldin Leena gibt es mit der Lehrerin wie im Märchen eine klassische Antagonistin. Tieftraurig und melancholisch leidet man als Leser:in mit dem Kind und freut sich, als sich in der Bach-Musik endlich ein Fenster der Hoffnung für sie öffnet.
Gut für Leena, aber schlecht für den Roman, mag man etwas despektierlich denken. Denn tatsächlich ist diese Schlüsselbegegnung auch für das Buch ein Wendepunkt. Leena trifft nämlich auf den blinden Orgelspieler Filemon, und der Mann versucht in der Folge, auf sage und schreibe 20 der gerade einmal 130 Seiten Leena in einem hochphilosophischen Dialog das Leben und die Welt zu erklären. Filemon ist dabei dermaßen überzeichnet und schrullig, dass er nicht nur der ebenfalls anwesenden Nonne fürchterlich auf die Nerven geht.
Das Buch verlässt an dieser Stelle die Ebene eines Romans mit klassischer Erzählstruktur, sondern löst Handlung und Sprache fast schon experimentell auf. Genau wie Leena verschwimmen auch bei der Leserschaft die Grenzen zwischen Fantasie und Realität. Mehr als einmal fragte ich mich, was nun auf der Handlungsebene "wahr" ist und was nicht. Und auch der Erzähler, der sich von Beginn an komplett auf die kindliche Sicht seiner Heldin einlässt, fängt plötzlich an, unstrukturiert oder in Kinderreimen zu erzählen. In der zweiten Hälfte spürt man dadurch sehr stark, dass Eeva-Liisa Manner eigentlich aus der Lyrik kommt. Dem Roman gelang es bis zum ethisch etwas fragwürdigen Ende leider nicht mehr, mich und meine Begeisterung aus dem ersten Drittel wieder zurückzugewinnen. Lediglich an den Stellen, an denen man die wirre Handlung Handlung sein lässt und sich einfach nur den jenseits der Lautmalerei schönen Worten hingibt, blitzt immer wieder die Magie durch, die der Text in seiner Gesamtheit hätte ausstrahlen können, wenn die Romanstruktur es ihm vorgegeben hätte.
So ist "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" ein Buch, das die Leserschaft wohl polarisieren wird. Wer sich für poetische Sprache begeistert und sich ohne Scheuklappen auch experimentelleren Romanen öffnen kann, wird wohl auch an Eeva-Liisa Manners Debüt Freude haben. Mit Sicherheit ist es aber ein weiterer wichtiger Beitrag dazu, die in Deutschland in Vergessenheit geratene skandinavische Literatur des 20. Jahrhunderts wieder in die Gegenwart zu holen.
Mein erstes Buch aus dem Guggolz-Verlag - ein Volltreffer!
Wohl jeder Literaturfan kennt Hesses beflügeltes Wort "Jedem Anfgang wohnt ein Zauber inne". Mit so einem Gefühl bin ich an die Lektüre des Buches heran gegangen, denn zum einen wurde vom Verlag und dessen verlegten Büchern bereits im Vorfeld einer gemeinsamen Leserunde in den höchsten Tönen geschwärmt. Zum anderen waren mir die Bücher des Verlages selbst schon wiederholt im Buchhandel aufgefallen. Es wurde folglich höchste Zeit, mein erstes Buch aus dem Verlag zu lesen, zumal es ja als Markenzeichen des Verlages gilt, unbekannte literarische Schätze aus der Versenkung hervorzuholen.
Inhaltlich und von der Aufmachung her hat mich "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" der finnischen Autorin direkt angesprochen, obwohl die Autorin mir bis dato völlig unbekannt war. Allerdings gilt sie als sehr erfolreiche Lyrikerin und sage und schreibe sieben Mal erhielt sie den Staatspreis, der als bedeutendster Literaturpreis des Landes gilt.
Das Buch beginnt märchenhaft und versetzt uns in eine Stadt, die es nicht mehr gibt. Von Anfang an liegt eine schwermütige Stimmung über der gerade mal 134 Seiten umfassenden Erzählung. In deren Mittelpunkt steht Leena - ein neunjähriges Mädchen, das von tiefer Traurigkeit umgeben ist. Man könnte meinen, es liege daran, dass sie alleine ist. Sie lebt nach dem frühen Tod ihrer Mutter kurz nach ihrer Geburt mit ihrer Großmutter zusammen, die inzwischen alt und verbittert ist, da sie im Leben so manchen Schicksalsschlag wegstecken musste. Sie erzählt, Leenas Vater sei ein Trinker und habe entweder wieder geheiratet oder sei inzwischen ebenfalls tot. Ein einziger Anker scheint für Leena der Onkel zu sein, dessen ungeteilte Liebe und Aufmerksamkeit sich Leena gewiss sein will.
Leenas Traurigkeit ist jedoch anderer Art. Sie lässt sich auch nicht allein durch den tristen Scnulalltag erklären, der von einer fürchterlichen, für die Zeit vielleicht typischen, aber dennoch empathielosen Lehrerin und auch Mobbing seitens der Klassenkamaden geprägt ist. Leenas Traurigkeit geht tiefer. Sie betrifft die grundlegende Verfasstheit der Welt mit ihren konstitutiven Strukturen an sich. Leenas Wirklichkeit ist eine andere: eine, in der alles permanent vergeht und neu entsteht, in der vieles Unmögliche möglich scheint und in der es vor allem keine klaren Unterscheidungen zwischen verschiedenen Wirklichkeitsebenen gibt. Traum und Wirklichkeit, Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Vergessen - alles greift in Leenas kindlicher Vorstellung hier irgendwie ineinander. Wie man dem kenntnisreichen und sehr hilfreichen Nachwort der Autorin Antje Rávik-Strubel entnehmen kann, spielen hier vermutlich autobiographische Züge in die Erzählung hinein.
Leena lässt sich treiben, ist fasziniert von Wasser, Musik und Regenschirmen, die Flügel bekommen können. In einer Schlüsselszene des Buches landet sie sehr zum Missfallen der Großmutter in einer katholischen Kirche, wo sie Antworten auf ihre Fragen nach der Wahrheit auf zentrale Lebensfragen sucht. Dort trifft sie auf die Ordensschwester Elisabet und auf Filemon, einen verschrobenen alten Blinden, der virtuos Bach spielt und sich mit ihr über diese Fragen austauscht. Und immer wieder gibt es Bezüge auf Jesus, Gott und auch eine gewisse Todessehnsucht...
Ich muss zugeben, dass mir eine zweite Lektüre im Anschluss an das Nachwort von Rávic-Strubel und mit etwas zeitlichem Abstand sehr weiter geholfen hat, das Werk besser zu erschließen. Es steckt so viel drin in diesem kleinen Büchlein - so viel Poesie und auch viele philosophische und sonstige Lebensweisheiten. Im zweiten Durchgang war die Lektüre nur noch eine pure Freude. Ich bin sehr dankbar, dass ich durch die Leserunde auf dieses Buch aufmerksam wurde. Dankbar auch, dass der Guggolz-Verlag seine Arbeit darauf konzentriert, literarische Schätze zu heben. Hier habe ich eine regelrechte Perle entdecken dürfen, und ich hoffe nun, dass der Verlag auch die weiteren Romane der Autorin verlegen wird.
Unbedingte Leseempfehlung!
Und warum 5 Sterne? Weil ich mehr nicht geben kann - ganz einfach.