Das Leben vor uns: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Leben vor uns: Roman' von Kristina Gorcheva-Newberry
5
5 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Leben vor uns: Roman"

Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden - in einem Staat kurz vor dem Zerfall? Dieser Roman verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und erzählt dabei von einer unerschütterlichen Freundschaft zweier Mädchen zwischen Unsicherheit und Aufbruch. Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. «We Are the Champions» ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Aber Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:384
Verlag: C.H.Beck
EAN:9783406791314

Rezensionen zu "Das Leben vor uns: Roman"

  1. 5
    17. Sep 2022 

    Coming-of-Age in der zerfallenden Sowjetunion...

    Was bedeutet es, in den letzten Jahren der Sowjetunion erwachsen zu werden - in einem Staat kurz vor dem Zerfall? Dieser Roman verwebt auf beeindruckende Weise die turbulente Geschichte eines Landes mit dem Schicksal einer verlorenen Jugend und erzählt dabei von einer unerschütterlichen Freundschaft zweier Mädchen zwischen Unsicherheit und Aufbruch.

    Anja und ihre beste Freundin Milka wachsen in den Achtzigerjahren am Stadtrand von Moskau auf. Während ihre Eltern gezeichnet sind von den Entbehrungen der Vergangenheit, blicken die beiden Mädchen einer Zeit der Umbrüche und Reformen entgegen. Frech und lebenshungrig versuchen sie, jeden Schnipsel westlicher Popkultur in die Finger zu kriegen. «We Are the Champions» ist für sie mehr als nur ein Lied, es ist eine Parole. Aber Anjas Jugend nimmt durch eine unerwartete Tragödie ein jähes Ende – und gleichzeitig der Staat, der ihr Zuhause bedeutet hat. Noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beschließt sie, zum Studieren in die USA zu gehen und dort zu bleiben. Doch beim Versuch, sich im Sehnsuchtsland ihrer Jugend eine neue Heimat aufzubauen, merkt sie, dass sich die eigene Herkunft nicht einfach abschütteln lässt und ein Neuanfang nur möglich ist, wenn die Geister der Vergangenheit begraben sind. (Klappentext)

    "Wie die meisten Russen hatten wir die Sowjetunion nie verlassen, und alle fremden Städte waren für uns so weit weg und so unerreichbar wie der Mond. Wir konnten nicht ahnen, dass der Eiserne Vorhang bald fallen würde oder dass der Rest der Welt anders war und nicht von denselben brutalen Reglementierungen beschränkt wurde oder von der jahrelangen eisernen Faust eines Diktators.“ (S. 15)

    Anja Ranewa und Milka Putowa sind von Kindesbeinen an beste Freundinnen und wachsen in der Sowjetunion der 80er Jahre auf. Sie verbringen viel Zeit zusammen, meist in Milkas Wohnung, weil sie dort oft ungestört sind, oder aber in den Schulferien in der Datscha von Anjas Familie. Als aus kindlichen Spielen andere Interessen erwachsen, bleiben die beiden Mädchen Freundinnen, was sich auch durch das Hinzukommen der beiden Klassenkameraden Lopatin und Trifonow nicht ändert.

    Anja ist das besonnenere der beiden Mädchen, ihre Eltern sind beide berufstätig und machen sich häufig Sorgen um die politisch-gesellschaftliche Entwicklung. Vor allem der Vater scheint zuweilen seinen Mut zu verlieren. Die Eltern diskuieren häufig kontrovers, äußern ihre Meinung aber meist nur innerhalb der eigenen vier Wände. Außerdem gibt es da die Großmutter, die durch ihr Wissen und ihre Geschichten Anjas Kindheit prägt. Anja ist sehr gut in der Schule, bewundert aber gleichzeitig ihre Freundin.

    Milka kommt aus einfachen Verhältnissen und ist die impulsivere der beiden Freundinnen, nimmt kein Blatt vor den Mund, ist oftmals ziemlich vulgär und dabei viel belesen. Mit ihren Eltern hat sie weniger Glück, doch sie redet kaum über das, was in ihrem Zuhause vorfällt. Doch dass Milka dort nicht glücklich ist, merkt Anja immer wieder. Nur in den langen Sommerferien in der Datscha von Anjas Eltern blüht Milka wirklich auf.

    "Mir fiel ein, dass Milka einmal gesagt hatte, einen alten Menschen zu berühren, mit seinen verdrehten, knotigen Gliedern und einer Haut wie trockene, schuppige Rinde, sei, als berühre man einen alten Baum. Sie hatte aber auch noch gesagt, meine Großmutter zu umarmen sei, als umarme man einen alten, geliebten Roman, dessen Geheimnisse und Weisheit man auf jeder Seite einatmet." (S. 100 f.)

    Manche mögen sagen, dass die politischen Themen in dem Roman deutlicher hätten erörtert werden können. Oftmals werden hier die Wechsel der Staatsoberhäupter der Sowjetunion nur kurz angerissen, ebenso wie die Veränderung der Weltpolitik. Sämtliche Anmerkungen zur Situation in der Sowjetunion sind in die Erzählung eingestreut und eingewoben, häppchenweise und eng mit dem Leben der Personen verknüpft. Sehr präsent dagegen sind die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und dessen Auswirkungen für Anjas Familie, und konsequent hält sich das Bild von den bösen Deutschen. Ein generationenübergreifendes Trauma.

    Für mich passte es aber, dass die politischen Themen hier nicht mehr Gewicht erhielten, denn im Grunde handelt es sich bei dem Buch um einen Coming-of-Age-Roman, und die Agierenden schlagen sich mit den Sorgen und Sehnsüchten ganz normaler Jugendlicher herum. Jedenfalls bis eine Tragödie einschlägt wie eine Bombe. Die Auswirkungen der politischen Verhältnisse spiegeln sich jedoch in den Schilderungen des Alltags, in der ewigen Armut, der Zweiklassengesellschaft, dem Machtmissbrauch, der Ohnmacht, den Ängsten, den Zweifeln.

    "Man kann nicht in einer Gesellschaft leben und frei von ihr sein." (S. 200)

    Die Veränderungen durch und Auswirkungen der Perestroika werden nicht direkt beleuchtet, da kurz davor in der Erzählung ein Zeitsprung erfolgt. Anja lebt nun in der USA, kehrt jedoch nach 20 Jahren nach Russland zurück, um ihre Eltern zu besuchen und sich der Vergangenheit zu stellen. Unaufgeregt aber keineswegs konfliktfrei (und damit glaubwürdig) geht dieses Eintauchen Anjas in ihre alte, wenn auch veränderte Welt vonstatten. Melancholisch aber nicht hoffnungslos - und letztlich auf die Gegenwart und Zukunft ausgerichtet, nicht länger auf die Vergangenheit. Ein runder Abschluss ohne Kitsch und glorreiches Happy End.

    Kristina Gorcheva-Newberry hat für mein Empfinden mit "Das Leben vor uns" ein grandioses Debüt geschrieben. Aus der Ich-Perspektive von Anja schildert sie die Ereignisse eindringlich und oft bildhaft. Der Text liest sich leicht, der Schreibstil schwankt zwischen rotzig-trotzig und poetisch-melancholisch, was auf mich einen ganz eigenen Reiz ausübte. Immer wieder spielt die Autorin dabei auf die Erzählung "Der Kirschgarten" von Anton Tschechow an, eine tragische, gesellschaftskritische Komödie in vier Akten aus dem Jahr 1903, die, so verrät Kristina Gorcheva-Newberry in einem Interview, viele Parallelen zu ihrem eigenen Roman aufweist.

    "Seit meiner Kindheit liebte ich die frühen Morgenstunden, wenn der Tag neu war und Hunderte kleiner, zusammengefalteter Träume enthielt, wie Blütenblätter in einer Blume." (S. 159)

    Am Ende des Romans war ich gleichzeitig berührt und ein wenig wehmütig. Ein weiteres Jahreshighlignt ist gelesen, ein überzeugendes Debüt mit authentischen Figurenzeichnungen, einer gelungenen Verknüpfung von persönlichen Ereignissen und politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten, einer immanenten Spannung bis zur angedeuteten Tragödie - und darüber hinaus.

    Eine (verlorene) Jugend in den letzten Jahren der zerfallenden Sowjetunion - ein grandioses Debüt!

    © Parden

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  1. Das Drama der Jugend...

    Das düstere Cover und dass es um eine Freundschaft in einer sehr speziellen Zeit geht, hat mich neugierig werden lassen. Und was soll ich sagen? Definitiv ein Jahreshighlight für mich.

    In der Geschichte geht es um Anja und Milka, die als Teenager und beste Freundinnen so ihre ersten Erfahrungen machen mit den Jungs und wie das Leben so an sich funktioniert. Doch warum wird manch einer der Schule verwiesen? Warum soll man keine westliche Musik hören? Und warum ist gefühlt der Mond näher an ihnen dran als Paris?

    Der Autorin gelingt es mit einer bildgewaltigen und enorm fesselnden Sprache den Leser in den Bann zu ziehen. Ich habe mir so viele tolle Sätze markiert, es ist einfach nur unglaublich schön und intensiv.

    Das dargestellte Moskau der 80er mit allen politischen Wechseln, Einschränkungen und den kalten Wintern konnte man sich ohne große Mühe gut vorstellen.

    Bei den Figuren hat jeder sein Päckchen zu tragen und jeder weiß für sich zu fesseln. Auch wenn ich die fordernde Art von Milka und Lopatins Machogehabe teils anstrengend fand, so machte es sie doch zu guten Gegenspielern von Anja und Trifonow, den ich mir viel eher als Freund gewünscht hätte als den wilden Draufgänger, eben weil er so sanft und ein Bücherwurm ist. Ich glaube gerade das hat die Freundschaft der vier und der Mädchen im Speziellen ausgemacht, dass sie so gegensätzlich sind.

    Gelungen finde ich auch, dass Eltern und Großeltern zu Wort kommen und man ganz nebenbei die politischen Umwälzungen mitbekommt. Ich muss gestehen, dass ich zu dem meisten recherchieren musste, weil mir dies einfach nicht geläufig war, da ich zu der Zeit noch nicht auf der Welt war und dies in meinem Geschichtsunterricht nie erwähnt wurde. Die Kritik an der Politik und der Gesellschaft ist unterschwellig auf jeder Seite spürbar.

    Fazit: Ein intensives, starkes Buch, was lange in mir nachklingen wird und mich emotional aus der Bahn geworfen hat. Ein absolutes Lesehighlight, was ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen dürft. Klare Leseempfehlung!

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