Das Land der Anderen: Roman

Rezensionen zu "Das Land der Anderen: Roman"

  1. Ein Leben in der Fremde

    Leïla Slimani ist eine französisch-marokkanische Schriftstellerin und Journalistin. Bereits mit ihrem ersten Roman „Dans le jardin de l'ogre“ errang sie 2014 in Marokko den Prix de la Mamounia. Der Thriller „Chanson douce“ (dt. Dann schlaf auch du), der zwei Jahre später erschien, wurde zum internationalen Bestseller und mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet.
    „Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer autobiografisch angehauchten Familientrilogie. Das Buch erzählt die Geschichte der jungen Elsässerin Mathilde und des Marokkaners Amine, der während des Zweiten Weltkriegs für die französische Armee kämpfte. Sie verlieben sich, heiraten und ziehen 1947 nach Marokko, wo Amine ein Stück Land geerbt hat. Marokko ist französisches Protektorat, die Unabhängigkeit wird erst 1956 nach heftigen Kämpfen und blutigen Auseinandersetzungen erreicht. Bis dahin sind die Marokkaner Untergebene in ihrem eigenen Land, dürfen sich nicht uneingeschränkt bewegen und sind täglichem Rassismus ausgesetzt. Mathilde und Amine sind durch ihre abgelegene Farm nicht direkt im Kreuzfeuer, aber das gemischt-ethnische Ehepaar ist beiden Seiten ein Dorn im Auge. Auch die kleine Tochter Aïcha , die in der nächstgelegenen Stadt auf eine katholische Mädchenschule geht, ist Opfer dieser Ausgrenzungen.
    Das Buch hat keine fortlaufende Handlung im klassischen Sinn. Es erzählt vielmehr chronologisch vom Leben der Familie, den harten Bedingungen, der Geldknappheit, aber auch den kulturellen Unterschieden der Ehepartner und den daraus folgenden Auseinandersetzungen, die durchaus mit Brutalität geführt werden. Gewalt gegenüber Frauen war eine Selbstverständlichkeit und selbst für westlich denkende und aufgeklärte moderne Marokkaner war es völlig normal, die eigene Ehefrau zu verprügeln und im Haus einzusperren.
    Das Buch hat mir gut gefallen, auch wenn es kein 5 Sterne-Highlight war, dazu war mir der Erzählfluss nicht stringent genug. Aber es war interessant, etwas über das Leben in Marokko zu der damaligen Zeit zu erfahren, besonders im Hinblick auf das Leben der Frauen und ihre Unterdrückung und den Aufständen der Nationalisten, die die Unabhängigkeit von Frankreich forderten, weswegen ich auch eine uneingeschränkte Leseempfehlung geben kann.

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  1. Die Früchte des Zitrangenbaums

    Beim Gastlandauftritt Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse 2017 war die französisch-marokkanische Autorin Leїla Slimani mit ihrem Buch "Nun schlaf auch du", für das sie 2016 den Prix Goncourt erhielt, eine bereichernde Entdeckung. Ihr dritter Roman, "Das Land der Anderen", ist der erste Band einer Trilogie nach Motiven ihrer eigenen Familiengeschichte.

    Leїla Slimani wurde 1981 in Marokko geboren, dem Land, in das ihre Großmutter, genau wie die Romanfigur Mathilde, einwanderte. Mathilde folgt ihrem Mann Amine Belhaj, einem marokkanischen Offizier der französischen Armee, den sie bei Kriegsende in ihrem elsässischen Heimatdorf kennenlernte und aus Liebe, Abenteuerlust und Sehnsucht nach Veränderung überstürzt heiratete. Bei der Landung in Rabat am 1. März 1946 dominiert Beklommenheit:

    "Trotz des hoffnungslos blauen Himmels, trotz der Freude, ihren Mann wiederzusehen, und des Stolzes, ihrem Schicksal entronnen zu sein, war ihr plötzlich mulmig geworden. […] Ihr Mann, dem die Blicke der anderen Passagiere nicht entgingen, küsste sie auf die Wangen. Er packte ihren rechten Arm in einer zugleich sinnlichen wie drohenden Geste. Es schien, als wolle er sie im Zaum halten." (S. 15/16)

    Geplatzte Träume
    Amine ist in Marokko ein anderer. Zwar liebt er Mathilde und billigt ihr eine andere Stellung als seiner Mutter Mouilala zu, einer streng-traditionellen Muslimin, doch duldet er keinerlei Kritik an heimischen Traditionen und Bräuchen:

    "„So ist das hier.“
    Diesen Satz würde sie noch oft hören. Und genau in dem Moment begriff sie, dass sie eine Fremde war, eine Frau, eine Ehefrau, ein Mensch, der der Gnade der anderen ausgeliefert war.“ (S. 19)

    Auch als sie 1949 ein ererbtes Stück Land beziehen und Amine wie ein Besessener – und zu Beginn mit wenig Erfolg – auf seiner Farm arbeitet, bleibt das Verhältnis zwischen den beiden kulturell grundverschiedenen Partnern angespannt. Die 1947 geborene Tochter Aїcha und der jüngere Sohn Selim wachsen im Dauerstreit der Eltern auf und erleben Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter und seiner jüngeren Schwester Selma.

    Niemand fühlt sich zuhause
    Nicht nur die französischen Siedler, jeder scheint in diesem Roman im fremden Land zu leben: Mathilde gehört weder zu Marokko, noch zu den Kolonialisten. Bei einem Heimatbesuch 1954 ist sie auch dort eine Fremde. Amine wird für seine Kriegsteilnahme von den eigenen Nationalisten verachtet. Besonders aber leidet Aїcha mit dem blonden Wuschelkopf unter Spott und Quälereien im französisch-katholischen Pensionat:

    "Denn Aїcha war weder wirklich eine Einheimische noch eine dieser Europäerinnen […]. Sie wusste nicht, was sie war, also blieb sie allein […]." (S. 84)

    Symbolhaft ist der Orangenbaum, in den Amine einst einen Zitronenzweig setzte:

    "„Wir“, sagte er, „sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite. […] Während er leise auf den Flur trat und die Tür schloss, dachte er, dass die Früchte des Zitrangenbaums ungenießbar waren." (S. 370/71)

    Eine Welt im Untergang
    Aus vielerlei Grünen habe ich den Roman überaus gern gelesen und freue mich auf die Fortsetzung. Zum einen sind es die nüchterne, wertfreie Erzählweise, das Einfühlungsvermögen Leїla Slimanis in unterschiedlichste Figuren und die immer wieder wechselnde Perspektive, mit der sie allen gerecht wird. Die Themen Fremdheit und Einsamkeit, männliche Unterdrückung, Gewalt, Emanzipation, Liebe,unerfüllte Träume, Trennendes und Verbindendes, Scham, Hilflosigkeit, Rassismus und koloniale Überheblichkeit lösten abwechselnd Mitgefühl und Wut in mir aus. Die Verbindung aus Einzelschicksalen und dem marokkanischen Unabhängigkeitskampf, der 1956 zur Loslösung von Frankreich führte, ist ausgezeichnet gelungen.

    Der Roman endet 1955, als Aїcha ungerührt dem Untergang einer Welt zusieht.

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