Das grüne Zelt: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das grüne Zelt: Roman' von Ljudmila Ulitzkaja
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4 von 5 (2 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das grüne Zelt: Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:592
EAN:9783423143387

Rezensionen zu "Das grüne Zelt: Roman"

  1. Sechs mal Leben. Sechs mal Staatsmacht. Sechs mal Zerstörung.

    Kurzmeinung: Romane über Russland sind wahrscheinlich immer deprimierend.

    Sechs Menschen mit jeweils deren Angehörigen und Freunden begleitet Ljudmila Ulitzkaja durch ihr Leben. Und wir mit ihr. Es sind jeweils drei Frauen und jeweils drei Männer, die miteinander befreundet sind. Alle leben in Moskau und/oder Umgebung und jeder macht seine speziellen Erfahrungen mit Russland, der staatlichen Willkür und mit sich. Von den Männern ist einer Musiker, einer Sprachlehrer, einer ist gleich von Anfang an dazu bestimmt, Revolutionär zu sein. Von den Frauen ist eine Hochleistungssportlerin, sie scheitert an ihrem Körper heiratet einen KGB-Angehörigen und wird zur Gefahr für die anderen, eine ist Wissenschaftlerin und konvertiert zum Christentum und eine andere, die Hauptperson, Olga, Tochter einer staatstreuen Journalistin und einem Exoffizier, sie kommt aus priviligiertem Haus, Literatin und Philosophin, darf ihr Studium nicht abschließen, weil sie denunziert worden ist. Sie heiratet den Revolutionär, bis er ihr abhandenkommt und sie an Krebs erkrankt.
    Ljudmila Ulitzkaja sagt über die russische Seele, sie sei „zärtlich und mutig, irrational und leidenschaftlich, mit einem Schuss erhabenen Wahnsinns und opferbereiter Grausamkeit“. Sie schildert das Schicksal der Intelligenzja in Russland. Sie schreibt damit über diejenige russischen Menschen, die (noch) voller Ideale stecken und voller Optimismus die Welt retten möchten, sich selbst und natürlich Russland und die allesamt an der Realität einer Diktatur scheitern müssen. Allen ist eigen, dass sie ihr Heimatland lieben.
    Zeitlich setzt der Roman bereits mit dem Ersten Weltkrieg ein, in dem der damals blutjunge Viktor und später der Lehrer, unter tragischen Umständen einen Arm verliert und ein Trauma erleidet, weil er als Anführer eines kleinen Trupps, den Tod einer seiner Leute zu verantworten hat. Der Lehrer ist eine prägende Figur für die drei Bubenfreunde. Mit Stalins Tod, 1953 gibt es eine Zäsur im Leben in Russland. Und der ganzen Welt.

    Der Kommentar:
    Da Ulitzkaja auch auf die Vorgeschichte der Familien unserer sechs Hauptdarsteller eingeht, bewegt sie sich chronologisch gesehen organisch vor und zurück in der Zeit, vor und zurück. Man verirrt sich nicht, und es fügt sich ein Detail ans andere, es ergeben sich zahlreiche Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Figuren, die sich schließlich allesamt kennenlernen. Nein, man verirrt sich nicht, dazu ist die Autorin zu geschickt, zu sehr bewandert in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, aber es wird voluminös.

    Vielleicht ist es das, was mich letztlich nicht zu einer wahrhaften Begeisterung für den Roman vordringen ließ. Er hat eigentlich alles, was ein großer Roman braucht, viel Schicksal, viel verzweifelte Liebe zu Russland, viel Ohnmacht, viel Desillusion, viel Erzählkunst und viel Wodka, viel Politik, viel Obrigkeit. Willkür. Leben. Verzweiflung. Komplexität. Es sind nicht immer die großen Dinge, an denen die Menschen scheitern. Menschen treffen auch falsche Entscheidungen, Micha zum Beispiel, der nicht emigriert als der KGB es ihm anbietet. Micha, der seine Wissbegierde und seine Illusionen erst zum Schluss verliert: „Seit vielen Jahren hatte Micha den Marxismus studiert, hatte herauszufinden versucht, warum die wunderbare Idee der sozialen Gerechtigkeit so verfälscht umgesetzt wurde, doch nun sah er es klar und nüchtern: Das Ganze war eine gewaltige Lüge, voller Zynismus, eine schamlose Manipulation von Menschen, denen die Angst, die das ganze Land in eine dunkle Wolke hüllte, ihr menschliches Antlitz und ihre Würde raubte. Diese Wolke konnte man als Stalinismus bezeichnen, aber Micha ahnte bereits, dass der Stalinismus nur ein Sonderfall eines gewaltigen, weltweiten, zeitlosen Übels war – des Despotismus“. Gingen diese Zeilen wirklich durch die Zensur?

    Autobiografisches spiegelt sich durchaus wider in diesem Roman. Wikipedia schreibt: „Ljudmila Ulizkaja wuchs ab Ende 1943 in Moskau in einer jüdischen Familie auf. (Einige der Figuren sind Juden). Sie absolvierte ein Biologiestudium arbeitete ab 1967 als Genetikerin in Moskau, wurde aber wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdat-Literatur entlassen“ und „2023 wurden russische Buchhandlungen und Bibliotheken angewiesen, die Werke Ulizkajas aus dem Angebot zu nehmen“. Die Autorin hat sich dezidiert gegen „Putins Krieg“ ausgesprochen und ist inzwischen nach Berlin emigriert. Ulitzkaja ist durchaus eine Anwärterin auf den Literaturnobelpreis - für ihr Lebenswerk gehört sie endlich geehrt.

    Fazit: Deprimierend, aber erhellend. Voluminös, aber hervorragend komponiert. Vielleicht ist der Roman stilistisch etwas schwergängig. Die russischen Namen mit ihren vielen Vor- und Zunamen erschweren den Lesefluss. Aber wenn ich jetzt auch nicht geflasht bin von dem Roman, lohnt sich die Bekanntschaft mit mindestens einem von Ulitzkajas Werken auf jeden Fall!

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur.
    Verlag: dtv, 3. Aufl. 2017,
    Erstveröffentlichung 2014, dtv. 2010 Moskau

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    15. Nov 2020 

    BBücher liebende Dissidenten und ihr Sowjet-Schicksal

    Der Roman “Das grüne Zelt” von Ljudmila Ulitzkaja begleitet eine Reihe von Personen durch ihr Leben in der Sowjetunion vom Zeitpunkt des Todes Stalins bis in die Gorbatschev-Zeit hinein. Die 3 Jungen, die im Zentrum stehen – Sanja, Micha und Ilja – sind seit der Schulzeit befreundet und haben in dieser Schulzeit die sie prägende Bekanntschaft mit dem Lehrer Viktor Schengeli gemacht. Dieser hat ihnen nicht nur die Liebe zur Literatur eingeimpft, sondern auch das eigenständige Denken zum Verständnis und zum Lieben dieser Literatur. Eine Prägung, die das Leben in der gleichgeschalteten und mit diktatorischer Härte agierenden Sowjetunion für die Drei nicht unbedingt einfacher macht. So bleibt über die Jahrzehnte hinweg ihr Leben ein Leben am Rande der Gesellschaft, immer in dem Bewusstsein des nahen Abgrundes von Inhaftierung/Folter/Deportation und dabei immer auf der Jagd nach neuen literarischen Entdeckungen, die in dieser Gesellschaft allerdings nicht in Buchläden zu finden sind, sondern nur in internen Kreisen als „Samizdat-Ausgaben“ – mühevoll im Verborgenen auf geheim gehaltenen Schreibmaschinen abgetippt – oder als „Tamizdat-Ausgaben“ – im Ausland verlegt und auf gefahrvollem Weg ins Land gebracht – von Hand zu Hand gegeben werden.
    Ulitzkaja vermittelt in dem Roman ein buntes Bild dieser Dissidenten-Gesellschaft mit ihren begrenzten Lebensperspektiven, Ängsten und Hoffnungen. Der Kreis der Dissidenten – einer Gesellschaft von Außenseitern – erscheint hier fast als die Normalgesellschaft in dieser Sowjetunion, die dieser Art von Außenseiterdasein mit allen Mitteln das Wasser abzugraben versucht. Ihr aber doch nicht Herr zu werden vermag, denn Bücher, die das aufrührerische Denken in sich tragen und weiterverbreiten, sind überall. Die kleinen Wohnungen – oft Gemeinschaftswohnungen – sind vollgestopft mit Bücherregalen und -stapeln. Und so Hort dieser Dissidenten-Parallelgesellschaft.
    Die Lebenswege der Protagonisten bewegen sich so immer überschattet von KGB-Beobachtungen, zwische irgendeinem subalternen Alibijob und einer Perspektive außerhalb der Sowjetunion. Diese Alternative bietet sich erstmals und dann immer stärker in den 80er Jahren in einer Ausreise nach Israel (oder weiterziehend in die weite Welt hinaus), denn fast jeder findet in seinem Stammbaum irgendwo jüdische Wurzeln, die eine solche Ausreise damals ermöglichen konnte.
    Mein Fazit:
    Mich hat das Buch phasenweise sehr bewegt und zwar (nicht nur, aber auch) aus sehr persönlichen Gründen. Denn ich war genau in diesen 80er Jahren als westliche Studentin in Moskau unterwegs und konnte natürlich Freundschaften genau in solchen Kreisen knüpfen. Ich habe die Brüche und Lücken miterleben müssen, die quasi erzwungene Ausreisen in ein vollkommen unbekanntes Land aufgrund einer vollkommen unbekannten Religion, gerissen haben. Der systemtreue Teil der Bevölkerung stand für Bekanntschaften mit Ausländern damals gar nicht zur Verfügung. Also blieb für das Eintauchen in die russische Gesellschaft nur diese Bücher-hordende Dissidenten-Clique, die offen war für Kontakte zu unliebsamen Ausländern. Vieles kam mir in dem Roman also wirklich sehr bekannt vor. Ulitzkaja hat – aus meiner Perspektive – wirklich ein sehr detailgetreues und authentisches Gesellschaftsbild erstellen können.
    Und dann gab es aber auch Phasen in dem Buch, in denen ich komplett unberührt und unbeeindruckt blieb. Das liegt, denke ich, daran, dass Ulitzkaja dann doch zu viel wollte. Sie springt zu zu vielen Schicksalen, wo die Konzentration auf eine abgegrenzte Gruppe aus meiner Sicht wirkungsvoller gewesen wäre. So bleibt vieles einfach im luftleeren Raum stehen. So wie etwa der Titel „Das grüne Zelt“, das zwar im Roman bei einem erzählten Lebensstrang einmal eine kleine Rolle spielt, deren Bedeutung für den Gesamtroman sich mir aber nicht erschließen kann. Genauso erscheint vieles nicht zu Ende erzählt, ich als Leser erwartete oft noch die weitere Entwicklung der Geschichte. Aber schon begann ein neues Kapitel und mit ihm machte ich einen Sprung in eine andere Zeit, an einen anderen Handlungsort und zu anderem Personal.
    Und so bleibe ich bei 4 Sternen für das Gesamtwerk, wo ich mir dafür so oft zwischendurch 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung gewünscht hätte.

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