Das große A (Quartbuch)
Die 13jährige Giada verbringt die Kriegsjahre bei ihrer Tante, einer überzeugten Faschistin, bei der es zwar viele Schläge, aber wenig zu essen gibt und wo sie das Bett mit der Großmutter teilen muss, die nicht einmal ihre richtige Großmutter ist. Sie träumt vom großen A, wo ihre extravagante Mutter Adele eine Bar betreibt.
Nach Kriegsende ist es endlich soweit. Giada reist nach Eritrea, dem ehemaligen Italienisch-Ostafrika; in eine Stadt am Meer, mit viel Sand, wo sogar der Espresso nach Salzwasser schmeckt. Sie muss ihrer Mutter helfen, hat als einzige Freunde nur eine Gazelle und den gleichaltrigen Hamed, der eines Tages in die Bar kommt. Auch den unzuverlässigen Charmeur Giacomo verschlägt es eines Tages in die Bar und nach einem kurzen Geplänkel mit Giada setzt Adele ihn vor die Wahl: entweder Heirat oder Finger weg!
Giacomo arbeitet auf einer amerikanischen Baustelle in Addis Abeba/Äthiopien, das einst auch zur Kolonie Italienisch-Ostafrika gehörte. Giada folgt ihm mit dem Sohn, der inzwischen zur Welt gekommen ist. Doch Giacomo verlässt sie für eine Russin. Für Giada bricht eine Welt zusammen. Wieder ist es ihre Mutter Adele, die zupackt und ihre Tochter im Hause Bedot unterbringt, während sie ihren Enkel mitnimmt. Immer gilt es den guten Ruf zu wahren, Frauen können sich noch nicht scheiden lassen und eine Frau ohne Mann ist eigentlich ein Nichts.
Als die Russin genug von Giacomo hat, kehrt er mit den Worten "Solang du meinen Namen trägst" hochmütig zu Giada zurück, doch diese beginnt nun endlich, sich zu emanzipieren und dreht den Spieß um...
Die Sprache des Romans ist zunächst gewöhnungsbedürftig, da die Autorin stark experimentiert, um etwa Stimmungen wiederzugeben. Daneben beschreibt sie nicht nur den Weg Giadas von einem naiven Mädchen zu einer selbstbewussten Frau, sie gibt auch immer wieder Einblick in das Leben der Italiener in Ostafrika und die Veränderungen und Umwälzungen, die diese miterleben
"Es war ein transplantiertes italien, ein pulsierendes Herz in einem Körper, der es an einem gewissen Punkt nicht mehr haben wollte. Ganz allmählich stieß er es ab. Stück für Stück: Der Körper war seiner überdrüssig geworden."
Und so zieht es viele Italiener wie auch Giada und ihre Mutter zurück nach Italien, wo sie allerdings nicht mit offenen Armen empfangen werden. Sie müssen wieder ganz von vorne anfangen.
"Das große A" ist eine Geschichte, die sich ihren Leser(inne)n erst nach und nach erschließt, in einem ungewöhnlichen Erzählton geschrieben, nicht immer gleich einzuordnen, aber durchaus lesenswert und mit einem zusätzlichen Blick auf die italienische Kolonialgeschichte.
Bisher sind zwei Bücher der 1988 in Rom geborenen Autorin Guilia Caminito auf Deutsch erschienen : „ Ein Tag wird kommen“ und der preisgekrönte Roman „ Das Wasser des Sees ist niemals süß“. Dass nun auch ihr Debut „ Das große A“ dem deutschen Leser zugänglich gemacht wird, ist sicherlich dem diesjährigen Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse geschuldet. Aber nicht nur, denn der Roman verdient neue Leser.
Wir sind in der Lombardei mitten im Zweiten Weltkrieg. Die 13jährige Giada, Protagonistin des Romans, lebt bei ihrer Tante, einer harten und lieblosen Frau, eine glühende Anhängerin Mussolinis. Hierher kam sie, nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat und die Mutter Adele, genannt Adi, nach Afrika ging , genauer gesagt in die ehemalige italienische Kolonie Eritrea. Die drei Kinder wurden bei verschiedenen Familien untergebracht. Obwohl die Mutter regelmäßig Kostgeld schickt, führt Giada ein jämmerliches Leben. Hunger, ständiges Sirenengeheul und die Bedrohung von feindlichen Bombern bestimmen den Alltag. Das Mädchen träumt sich weg von all dem Elend. Dem „ großen A“ gilt ihre Sehnsucht, dorthin, wo ihre Mutter ein abenteuerliches Leben führt.
Dann ist zwar der Krieg vorbei, „ die Armut aber noch nicht.“ Giada, obwohl klug und begabt, hört früh mit der Schule auf und findet Arbeit in der Fabrik. Doch endlich ist es soweit. Ihre Mutter lässt sie zu sich kommen. Von Venedig aus reist die beinahe siebzehnjährige Giada mit dem Schiff nach Assab, den Kopf voller Hoffnungen und Träume. „ Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert.“ Die unerbittliche Hitze, die salzige Luft und die Trockenheit, der Dreck überall und die Verwahrlosung, das unverständliche Sprachengewirr - das alles entspricht so garnicht ihren Vorstellungen. Doch bald hat sich die junge Frau mit den Begebenheiten arrangiert. Sie arbeitet in der Bar ihrer Mutter, leidet aber unter deren strengem Regiment.
Da lernt sie den Hallodri Giacomo kennen, einen Mann, der gerne große Reden schwingt. Völlig naiv und unwissend stolpert Giada in die Ehe mit einem ihr im Grunde Unbekannten. Während die junge Frau versucht Giacomo eine gute Ehefrau und Söhnchen Massi eine gute Mutter zu sein, führt der Ehemann sein unstetes Leben weiter. Schwiegermutter und Schwägerin setzen ihr zusätzlich zu. Doch Giada beginnt langsam sich zu emanzipieren. Sie will ernst genommen werden, nicht weiterhin das dumme „ Püppchen“ sein.
Das erreicht sie und es kommt sogar eine Zeit, in der sie ihrem Mann sagt, wo es langgeht. Sie bleibt bei ihm, aber nur um ihres Sohnes Willen.
Aber dann ändert sich die Situation. „ Die Fünfzigerjahre waren vorbei, und mit ihnen ging eine Ära zu Ende….und es begann die Symphonie der Revolution.“
Die Zeit der Italiener und Engländer im Lande ist vorbei. Und mit den vielen Italienern, die Afrika verlassen, geht erst Adi und später folgt ihr Tochter Giada mit Sohn. Italien empfängt die Rückkehrer keineswegs mit offenen Armen; das Land hat sich verändert. Als auch Giacomo nachkommt, werden sie im großen „ R“, in Rom, einen Neuanfang versuchen.
Der Roman endet nicht mit einem Happy-End im üblichen Sinne, das wäre unrealistisch, aber nicht ohne Hoffnung.
Die junge Autorin erzählt uns hier die Geschichte einer Emanzipation, angelehnt an die eigene Familiengeschichte. Die Hauptfigur durchläuft eine glaubhafte Entwicklung, weg von dem naiv-träumerischen Mädchen hin zu einer Frau, die sich zwar Konventionen unterwerfen muss, aber dies zu ihren Bedingungen. Dabei lässt sich diese private Emanzipationsgeschichte als Parabel über die Befreiung eines Landes, lesen.
Der Einstieg in den Roman fällt nicht leicht, der gewöhnungsbedürftige Schreibstil lässt dies nicht zu. Hat man sich aber erstmal eingelesen, entwickelt es einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Die Autorin erzählt sprunghaft, wechselt Perspektiven und Zeiten. Souverän beherrscht sie ihren Stoff, mit Vorausdeutungen zoomt sie kurz in die Zukunft oder greift vorangegangene Motive wieder auf. Grandios sind ihre Beschreibungen von Land und Leuten. Hier werden alle Sinne des Lesers angesprochen, man riecht, schmeckt, hört und sieht die Schauplätze des Romans.
Auch die historischen und politischen Hintergründe fließen in die Geschichte ein. Der Dünkel der ehemaligen Besatzungsmacht spricht aus der Schwiegermutter, wenn sie meint: „ Afrika verdankt uns alles. Jedes Zeichen der Verbesserung haben wir ihnen gebracht, und jetzt sollen wir ihrer Ansicht nach mit Schuldgefühlen leben.“
Der Roman bedürfte einer Zweitlektüre, denn er greift viele Themen und Aspekte auf: die Rolle der Frau in jener Zeit, Faschismus und Kolonialismus, Auswanderung und Rückkehr. „ Das große A“ wäre auf jeden Fall ein Buch für Lesekreise, denn es ist fordernd und bietet viel Diskussionsstoff. Ein beachtliches Debut!
„Das große A“ ist hoffnungsvolle Verheißung und leuchtende Fata Morgana für die kleine Giada, die während des Zweiten Weltkriegs bei Verwandten in der Nähe von Mailand aufwächst – denn dort, in Afrika, genauer gesagt in der italienischen Kolonie Eritrea, lebt ihre Mutter. Als Giada nach dem Krieg dorthin auswandert, erkennt sie sehr bald, dass das große A so seine eigenen Tücken, Rückschläge und Besonderheiten für sie bereithält, die es zu meistern gilt.
Giulia Caminito ist mit ihrer Geschichte über ein sehr emanzipiertes und ungewöhnliches Frauenleben, das allen Widerständen zum Trotz zu beeindruckender Reife findet, ein sehr eindrücklicher Roman gelungen, der besonders in literarischer Hinsicht sehr zu überzeugen vermag – um dies mit Genuss wahrnehmen zu können, muss man allerdings die sehr schwergängigen und holprigen Anfangskapitel überstehen, in denen die Autorin sich noch warmzuschreiben scheint. Als Leser ist man zu Beginn sehr oft desorientiert, die Perspektive ist schwer nachzuvollziehen, weder inhaltlich noch zu den Figuren kann der Text so recht interessieren.
Dies ändert sich dann glücklicherweise allmählich und man wird als Leser zunehmend von sehr viel Atmosphäre, großartigen Bildern und sehr gut konzipierten Metaphern verwöhnt. Gerade in dieser Hinsicht muss man feststellen, dass Caminito wirklich Herrin der Lage bleibt, denn sie vergisst ihre Stilmittel nicht und setzt sie wohldosiert ein, was auch gerade zum Ende des Romans noch einmal fulminant deutlich wird. Dieser Roman wird in der Tat perfekt über die Ziellinie getragen – dranbleiben lohnt sich also in jeder Hinsicht. Sprachlich probiert sie die Autorin zeitweise etwas aus. So gibt es Passagen, die in ihrer Funktion sehr gelungen sind, aber nicht unbedingt Lesefreude bereiten, andererseits schaffen aber gerade dieses es ausgezeichnet über Sprache auch das Seelenleben der Figuren in Szene zu setzen.
Besonders Giada sticht dabei heraus und auch wenn es nie gelingt, der Protagonistin wirklich nahe zu kommen und man immer auf Distanz zu dieser einzigartigen Figur bleibt, kann man doch nicht umhin, ein großes Maß an Anerkennung und Bewunderung für sie zu empfinden. Sympathie ist bei der gewählten Art der Figurenzeichnung sicherlich auch nicht das erklärte Ziel.
Der eigentliche Star des Romans ist aber das große A, das mit Hitze, Salz, Tier- und Pflanzenwelt, Expatleben und Tanzveranstaltungen überaus schillernd und auch glamourös in Szene gesetzt wird – alles ist größer, freier, unvergleichlicher und dies färbt nachhaltig und überzeugend auf die Entwicklung Giadas ab, deren Lebensweg untrennbar mit dem Schicksal der Kolonie Eritrea verbunden ist und zwar so eng, dass sich Giadas Weg zur Emanzipation in Eritreas Unabhängigkeitsbestreben spiegelt.
Caminito verzaubert mit einer ganz eigenen Sprache und Sichtweise ihre Leserschaft, wirft einen Blick aufs große Ganze im sehr Kleinen und Privaten und überzeugt besonders in literarischer Hinsicht. Wären nicht die ersten stockenden Gehversuche zu Beginn, was könnte man sich von einer Lektüre mehr wünschen?
„Seit vielen Jahren ist Wagenbach der deutschsprachige Verlag mit den meisten Büchern aus und über Italien“, heißt es in der Broschüre, die dem erst 2024 übersetzten Debütroman "Das große A" von Giulia Caminito aus dem Jahr 2016 beiliegt. Zuvor erschienen von ihr auf Deutsch bereits "Ein Tag wird kommen" (2020) und "Das Wasser des Sees ist niemals süß" (2022), alle drei in Italien preisgekrönt. Die 1988 geborene Autorin gehört zur Delegation des Ehrengastlands Italien auf der Frankfurter Buchmesse 2024, das seine Literatur unter dem Motto "Verwurzelt in der Zukunft" präsentiert.
Der Traum von Afrika
Kein Wunder, dass sich die fantasiebegabte, sehr schmächtige Giadina, genannt Giada, während und nach dem Zweiten Weltkrieg weg aus dem Bombenhagel und vom Hunger im lombardischen Provinzstädtchen Legnano nahe Mailand wünscht. Ihre Sehnsucht gilt dem „Großen A“, Afrika, wo ihre Mutter Adele, männlicher Spitzname Adi, lebt, seit sie die Familie verlassen hat. In Assab in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, die seit 1941 Großbritannien untersteht, führt sie die Bar „Da Adi“. Ihre drei Kinder sind bei verschiedenen Familien untergebracht, Giada bei Adis liebloser faschistischer Schwester, die das Kostgeld unterschlägt.
Zum Jahreswechsel 1949/50 geht Giadas Wunsch endlich in Erfüllung: von Venedig aus fährt die inzwischen Siebzehnjährige ans Horn von Afrika:
"Giada würde viele Dinge des großen A lieben." (S. 65)
"Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert." (S. 67)
Vom Mädchen zur Frau
Statt in einem gemütlichen Zimmerchen mit rosa Spitzengardinen für sich allein findet sich Giada in den Hinterzimmern der Bar wieder, in der sie abwechselnd mit der Mutter bedient. Unerträgliche Hitze, jahrelange Trockenheit, salzige Luft, das Nichts der Wüste, Staub, Dreck, Verwahrlosung, stechende Gerüche und kaum geselliges Leben - nichts davon hat sie erwartet. Aber es gibt auch den jungen Hamed, dem sie Lesen und Schreiben beibringt und mit dem sie lacht, ihre geliebte Gazelle Checco, die das Dasein als Haustier nicht lang überlebt, und schließlich den ebenso gutaussehenden wie unzuverlässigen und rastlosen Giacomo Colgada aus wohlhabender Familie in Asmara, der ihr Ehemann wird. An ihm, der nach Belieben auftaucht und verschwindet, und an seinen Eskapaden wächst Giadas Persönlichkeit in den folgenden Jahren, mit ihm geht sie nach Addis Abeba, Äthiopien, wo die Italiener ausgelassen ihr privilegiertes Leben genießen. Nichts hasst sie mehr, als Püppchen und Spielball zu sein, und für ihren Sohn Massi wird sie zur Löwenmutter. 1960, als das goldene Zeitalter für Italiener in Afrika endet, ihrer Mutter, ihrem zweiten "Großen A" ins fremd gewordene Italien nach Ravenna, ohne Gewissheit, ob Giacomo ihnen folgt.
Lesen mit allen Sinnen
Giulia Caminito hat sich bei ihrem Debüt für die Figur der Adele am Leben ihrer Urgroßmutter orientiert. Sie verbindet Themen wie Kolonialwesen, Faschismus, Rassismus, Auswanderung, Heimkehr und Fremdsein mit außergewöhnlich intensiven Naturschilderungen und den Lebenswegen zweier starker Frauen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten männlichen Machtansprüchen Grenzen setzen. All dies ist sehr gelungen, wenn auch nicht so außergewöhnlich wie die Erzählweise: sprunghaft, oft aufzählend, vieles nur andeutend, schroff, springend, alle Sinne ansprechend – kurz: großartig, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.
Das große A steht für Afrika, dem Sehnsuchtsort von Giada, die den zweiten Weltkrieg in einer Kleinstadt der Lombardei bei ihrer lieblosen Tante erlebt hat. Nun ist der Krieg vorüber und die 17jährige Giada darf endlich zu ihrer Mutter nach Eritrea reisen. Die für die damalige Zeit enorm emanzipierte Adele führt eine Bar in einem Ort an der Küste des Roten Meeres.
Man könnte Caminitos Roman als historischen Bildungsroman beschreiben – er zeichnet ein spannendes Bild von Italien als Kolonialmacht und gleichzeitig den Emanzipationsprozess einer jungen Frau, für die ihre Mutter ein Vorbild ist. Nur ist Adele sich der Opfer, die für ihre Eigenständigkeit nötig waren, sehr bewusst. Diese Art des Außenseitertums möchte sie ihrer Tochter ersparen und arrangiert eine Ehe, die für Giada zum Prüfstein wird. Caminito präsentiert uns eine bodenständige Heldin, die sich weder unterkriegen noch unterwerfen lässt und sowohl ihrem Ehemann als auch der italienischen Haute volée zeigt, wo der Hammer hängt. Giadas Entwicklung ist der rote Faden des Romans, dem man gerne folgt.
Den Einstieg in den Roman macht Caminito uns nicht leicht. Es lohnt sich jedoch, das erste Kapitel auszuhalten, denn schon das zweite liest sich viel flüssiger und Setting, Figuren und Handlung gewinnen Kontur. Ich mochte Caminitos Art, unvermittelt in die Zukunft zu zoomen – Giadas künftigen Ehemann vorzustellen, eine Liste der Dinge zu liefern, die Giada an Afrika lieben wird - und dann wieder in die erzählerische Gegenwart zurückzukehren. Vieles bleibt vage; manchmal hätte ein Satz genügt, um mehr Klarheit zu schaffen, aber absichtsvoll lässt Caminito das Bild an den Rändern verschwimmen.
So wird die politische Lage in Eritrea nur angedeutet. Ohne eigene historische Kenntnisse können die erwähnten Ereignisse nicht eingeordnet werden. Ähnlich geht es mit den geografischen Verhältnissen – ohne Google sind die Schauplätze mit ihren jeweiligen Charakteristika nicht zu verorten. Aber darum geht es Caminito auch nicht – ihr Anliegen ist die Kolonisierung an sich, vor allem der Dünkel der Kolonisten, die die einheimische Kultur abwerten und die italienische überhöhen. „Wir haben ihnen alles gebracht.“ Zum Beispiel Eiswürfel als das ultimative Zeichen für Zivilisation – ironische Schlaglichter wie dieses ziehen sich durch den ganzen Roman. Was in Europa geschehen ist, kommt den Expats vor wie ein Film in der Wochenschau und hat nichts mit ihnen zu tun – bis die Geschichte auch sie einholt. Und Caminitos Heldinnen Adele und Giada sind mittendrin.
Der Stil der Autorin zwingt zu Aufmerksamkeit. Er ist erratisch, sprunghaft, die Wortwahl assoziativ. Manche Formulierungen müssen erst durch den Bauch gehen, bevor der Kopf etwas damit anfangen kann, und manchmal müssen sie dort auch bleiben. Das hat mich jedoch nicht gestört, sondern trug im Gegenteil zum eigenwilligen Charme des Romans bei. Mit jedem neuen Kapitelanfang macht sich, so scheint es, die Autorin einen Spaß daraus, die Leserin spielerisch zu verwirren. Dann braucht es ein oder zwei Seiten, bis man wieder orientiert ist – ein origineller Kunstgriff, auf den ich mich gerne eingelassen habe. Für einen Erstling finde ich den Roman erstaunlich selbstbewusst in der Wahl seiner Stilmittel – aber genau das hebt den Text heraus.
Was mich aber vollständig für „Das große A“ eingenommen hat, ist die atmosphärische Schilderung Eritreas und seiner afrikanischen und italienischen Bewohner - man meint, dort zu sein. Gerne bin ich mehr und mehr eingetaucht und habe Afrika ungern verlassen. So wie Adele und Giada, deren Zeit in Eritrea zusammen mit Italiens Machtanspruch zu Ende geht. Der Roman liest sich wie ein intensiver Wachtraum und erinnerte mich in seiner Gestimmtheit ein wenig an Karen Blixen.
Eine anspruchsvolle, aber lohnende Lektüre, die lange nachklingt.
Eigentlich wollte ich in diesen Roman nur mal kurz reinlesen, aber dann hat er mich mit seiner Erzählweise gleich eingefangen und ich habe ihn von vorne bis hinten gerne und mit Spannung verschlungen. Das ist das Besondere am Lesen, an Büchern: sie entführen nicht nur in Gegenden, wo man nie hinkommt (hier Ostafrika), sondern auch noch in fremde Seelen. Man kann einiges über Menschen lernen, so auch hier.
Zuerst lernen wir das erbärmliche Leben der kleinen Giada im im faschistischen Italien kennen, ihr Aufwachsen bei einer lieblosen Tante, getrennt von Bruder und Schwester, verlassen von der Mutter, die sich nach Eritrea abgesetzt hat, einer italienischen Kolonie. Der in Mailand lebende Vater kümmert sich nicht um seine Kinder, die Mutter schickt Geld, aber dennoch muss Giada hungern. Dieses Leben erträgt sie ziemlich klaglos, auch als sie anstatt weiter zur Schule gehen zu dürfen, in einer Fabrik arbeiten muss.
Doch eines Tages, nachdem die Mutter zu Besuch war, holt sie die inzwischen 17-jährige Giadina zu sich. Auf der lange Reise nach Afrika erträumt Giada sich ein großartiges Leben, wo sie vielleicht Schriftstellerin oder Pianistin ist. Doch Afrika ist ganz anders als in ihren Vorstellungen. Die Bar der Mutter liegt in einer abgelegenen Gegend zwischen Wüste und Meer und auch hier muss Giada kräftig zupacken. Sie arrangiert sich schnell und nimmt das Leben dort, wie es kommt.
Es ist umwerfend, wie die Autorin in diesem Debütroman (!) die Atmosphäre schildert: die Farben und Gerüche, auch der Gestank Afrikas werden so bildreich und wortgewaltig beschrieben, dass sich der Leser mittendrin wähnt.
Dann taucht der schöne Hallodri Giacomo auf, der zwar aus gutem Hause stammt, aber sein Leben nicht im Griff hat. Schnell und völlig unüberlegt heiraten er und Giada, die völlig unerfahren in diese Ehe taumelt, und ein Sohn wird geboren. Während der Giadas Ein und Alles ist, führt Giacomo sein unstetes Leben weiter und verlässt sie und das Kind für eine schöne Russin.
Ihr bisheriges Leben lang musste Giada funktionieren und gehorchen. Wird das so bleiben? Die Mutter hilft ihr, wieder Fuß zu fassen und eine Arbeit zu finden. Als Leser meint man, leichte Anzeichen zu erkennen, dass bei ihre eine Änderung stattfindet, hin zu Emanzipation und Selbstbestimmung. Als ihr Ehemann wieder auftaucht, bleibt ihr anscheinend nichts anderes übrig, als ihn wieder 'zurückzunehmen', wahrscheinlich des Rufes und des Kindes wegen. Doch jetzt ist einiges anders – Giada dreht den Spieß herum, übernimmt das Regiment in der Ehe und Giacomos Schwäche wird deutlich.
Am Rande erfahren wir einiges über das Leben der Italiener in der Hauptstadt Asmara, das wie ein ein 'transplantiertes Italien' erscheint und wo sich die reichen italienischen Kolonisten in einer abgeschotteten Welt eingerichtet haben. Auf die einheimische Bevölkerung sehen viele mit Überheblichkeit herab.
Doch nichts ist für immer und so endet auch diese Kolonialzeit, es gibt Aufstände und viele Italiener verlassen das Land, so auch Giada mit Mutter und Sohn. Sie lassen sich in einem heruntergekommenen Bauernhaus nieder und wieder einmal sind Giadas Lebensmut und Pragmatismus gefragt um zu überleben. Giacomo will nachkommen, lässt sich aber viel Zeit damit. Am Ende gibt es eine hoffnungsvolle Wendung, die ebenso realistisch erscheint wie das ganze Leben von Giada.
Das alles erzählt die Autorin in ihrem Debütroman in ungewöhnlichem eigenwilligem Stil, der manchem gewöhnungsbedürftig erscheinen mag, der mir aber gleich gefallen hat: kreativ, innovativ, manchmal expressionistisch anmutend, die jeweilige Atmosphäre so gut eingefangen, dass der Leser alles sehen und riechen kann.
Fazit
Es ist ein den Leser forderndes Buch, vielleicht manchmal ein bisschen viel an Themen und diskussionswürdigen Gedanken, mit einer interessanten Hauptperson, die realistisch gezeichnet ist und dennoch eine poitive Entwicklung nimmt. Ich halte es für ein Buch, das man entweder zweimal lesen sollte oder für das man sich viel Zeit nehmen muss. Ganz große Leseempfehlung!.
Die 13-jährige Giadina geht noch zur Schule, als wir sie kennenlernen. Ihre Mutter Adele hat sich vom Vater ihrer drei Kinder vor Jahren getrennt, um in der Kolonie Eritrea ihr Glück zu suchen. Giadina wurde bei ihrer lieblosen Tante untergebracht, wo sie zurückgesetzt seit Jahren ein Aschenputtel-Dasein führt und vom Leben „im großen A“ bei ihrer Mutter träumt. Es ist bestechend, wie uns Caminito in Windeseile in die Atmosphäre einer Bombennacht aus der Perspektive eines Kindes führt: „Den Mond sah man nie, der Rauch der Tosi-, Cantoni- und Bernocchi-Werke verdeckte ihn, und die Nacht erhob sich mit grauen Tüchern. Ein Schmuckkasten voller Asche über dem Leuchten der Einschläge.“ (S. 22) Es sind stets solche kleinen, unscheinbaren Szenen und Beobachtungen, die das Leben der Protagonistin einfühlsam beschreiben.
Der Krieg vergeht, auch die Tage des Duce Mussolini sind gezählt. Die fantasiebegabte Giadina hat die Fähigkeit, stets das Beste aus einer Situation zu machen und nach vorne zu schauen. Obwohl sie klüger ist als die meisten anderen, muss sie die Schule verlassen, um in der Nähfabrik zu arbeiten. „In deinem Alter arbeitet man, da liegt man nicht auf der faulen Haut, auf Kosten der anderen.“ (S. 44) Doch auch dort erkennt man ihre Talente, so dass Giadina einiges lernen kann und großes Ansehen genießt. Endlich, mit 16 Jahren, ist der Tag gekommen, an dem die Mutter ihre Tochter nach Assab in Eritrea nachholt. Dort betreibt Adele eine Bar. Sie ist eine selbständige, für ihre Zeit höchst unangepasste Frau, die mit zahlreichen Vorurteilen zu kämpfen hat. Nach anfänglichem Fremdeln („Aber als sie das erste Mal ankam, waren alle Träume verflogen, wer weiß wohin, mit Sack und Pack emigriert.“ (S. 67)), lebt sich Giadina schnell in dieser fremden Umgebung mit ihrem Staub, ihrer Trockenheit und den stechenden Gerüchen ein. Sie genießt das Meer, die unbekannte Tierwelt und später auch die Wüste. Caminito zeichnet ein buntes Panorama, sie lässt dazu ein vielfältiges Potpourri glaubwürdiger Charaktere auferstehen, die die Protagonisten auf ihrem Weg begleiten.
Als großer Kenner Afrikas tritt der Lebenskünstler Giacomo in Giadinas Leben. „Giacomo wusste sich Gehör zu verschaffen, er vermochte die Aufmerksamkeit aller zu fesseln und sie zwischen den Worten spazieren zu führen, während er voller Fantasie mit ihnen hantierte und sie knetete; er ließ sie aufgehen wie Hefeteig und reicherte sie mit nie gesehenen kostbaren Bildern an.“ (S.96) Die beiden heiraten viel zu früh. Giadinas naive Erwartungen bleiben weitgehend unerfüllt, das Zusammenleben der Eheleute gestaltet sich schwierig, zumal Schwägerin und Schwiegermutter die junge Ehefrau mit ungerechten Vorwürfen torpedieren. Sohn Massi wird geboren. Giadina wird nun alles tun, um ihm einen Zugang zu Bildung und zu einem glücklichen Leben zu ermöglichen, auch wenn das mit erheblichen Einschränkungen für sie persönlich einhergeht.
Dieser Roman erschien im Original bereits 2016 und man kann kaum begreifen, dass es sich um ein Debüt handelt. Die Autorin vermag es, in wenigen Federstrichen ein höchst eindrucksvolles Bild zu zeichnen, das an Atmosphäre kaum zu überbieten ist. In einprägsamen, teils lakonischen Sätzen („Der Krieg war vorbei, die Armut aber noch nicht.“ (S.45)) gelingt es Caminito, ein umfassendes, facettenreiches Bild heraufzubeschwören. Dabei fließen die kolonialen Spannungsfelder und deren politische Lage im Hintergrund dieser faszinierenden Familiengeschichte stets mit ein. „Es war ein transplantiertes Italien, ein pulsierendes Herz in einem Körper, der es an einem gewissen Punkt nicht mehr haben wollte. Ganz allmählich stieß er es ab.“ (S. 114) Als Leser wird man in eine weitgehend unbekannte Welt geführt, in der die gesellschaftlichen Grenzen für Frauen omnipräsent sind. Auch im scheinbar „wilden“ Kolonialstaat muss eine Frau akribisch auf ihren guten Ruf achten, während Mann seiner Wege gehen darf, ohne dass Anstoß daran genommen wird. „Giacomo war nicht der Typ für Paartänze, er liebte das Spiel und Trinkgelage mit Freunden.“ (S. 120) Giadina bewegt sich weitgehend innerhalb der vorgesehenen Regeln. Sie tut es aber mit Klugheit und Umsicht, so dass es ihr schließlich gelingt, sich ein Stückweit zu emanzipieren. Man muss sich stets vor Augen halten, dass das Romangeschehen überwiegend in den 1940/50er Jahren angesiedelt ist und nicht in der Gegenwart von 2024. Man darf keine Superfrau erwarten, denn die Entwicklung der Protagonistin bleibt bis zum Ende authentisch. Ich bin kolossal begeistert von diesem Roman, der immer wieder neue Wendungen nimmt und scheinbar vorgefertigte Erwartungshaltungen enttäuscht.
Giulia Caminito ist eine Meisterin der Sprache. Sie beherrscht verschiedene Tonarten, wechselt gekonnt die Perspektiven und besticht mit ihrer bildreichen, poetischen Stilistik. Selten haben mich Beschreibungen dermaßen in literarische Schauplätze eintauchen lassen. Jede Szene strahlt für sich. Dabei spürt man deutlich, dass Caminito stets das große Ganze im Auge hat. Verschiedene Motive werden verwoben, sie tauchen später erneut oder leicht modifiziert wieder auf. Die Symbolik ist gekonnt, eins greift fast spielerisch ins andere.
Man sollte diesen Roman aufmerksam lesen und sich nicht von seinem etwas ungewöhnlichen Beginn irritieren lassen. Die Geschichte Giadinas kommt schnell in Fahrt. Man wird mitgerissen und erst auf der letzten Seite wieder losgelassen. Dazwischen hat man einen ganzen Kontinent überquert, fremde Welten kennengelernt und eine höchst bereichernde Leseerfahrung gemacht. Deutlich ist zu spüren, dass sich die Autorin vom Leben ihrer eigenen Großmutter hat inspirieren lassen.
Die Übersetzerin Barbara Kleiner hat das Werk meisterlich ins Deutsche übertragen, großes Kompliment dafür.
Riesige Leseempfehlung!
Giada muss ihre Kinderjahre getrennt von ihren Eltern und Geschwistern bei ihrer Tante in ärmlichen Verhältnissen in Legnano, nördlich von Mailand, verbringen. Es sind die Kriegsjahre und der Duce regiert mit fester Hand. Ihre schöne, emanzipierte Mutter lebt weit entfernt, im fremden A, von wo sie für den Unterhalt ihrer Kinder regelmäßig Geld schickt. Doch die Tante unterschlägt die monatlichen Zuwendungen und lässt das zarte Kind die Härte des Lebens spüren. Eines Tages, der Krieg ist vorbei, steht unangekündigt die Mutter vor der Tür und verlangt von der Schwester Rechenschaft. Kurz darauf fällt die Entscheidung: Giada wird als einziges Kind ihr nach Afrika folgen.
Für Giada beginnt in der Fremde ein neues Leben. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der italienischen Kolonie Eritrea wird sie einige Jahre später in Äthiopien ihre schönsten Zeit verbringen. Der Putsch 1960 sorgt allerdings für ein jähes Ende und sie kehrt mit ihrer Mutter und ihrem Sohn nach Italien zurück, um wieder aufs Neue ihr Leben aufzubauen.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Giulia Caminitos Debütroman „Das große A“ beginnt etwas hektisch und konfus und das erste Kapitel mit seinen vielen kleinen, sehr kurze Szenen und in eiliger Artikulationsform geschrieben, beansprucht meine volle Aufmerksamkeit. Gott sei Dank legt sich diese Unruhe schnell und bereits mit dem 2. Buchkapitel beginnt die Lebensgeschichte von Giada, die ansprechend und spannend zu lesen anmutet.
Giada durchlebt Höhen und Tiefen, startet etwas unbedarft und unsicher in ihr ereignisreiches, abenteuerliches Leben im großen A. Das alles erzählt Giulia Caminito in einer attraktiven Sprache, weit entfernt von Kitsch oder Abenteuerschnulze. Ein gutes Setting und ein spannender Handlungsverlauf haben mich positiv überrascht, war ich doch von ihrem anderen Roman „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ wenig angetan.
Bewusst lässt Giulia Caminita die Protagonistin Giada von ihren Jahren während des Krieg bis in die 1960ger Jahre aus der Perspektive zuerst eines Mädchens und jungen Frau in Legnano und dann einer Frau und Mutter in Afrika erzählen. Eingebettet in die geschichtlichen Ereignisse bietet die italienische Kolonialzeit auf dem afrikanischen Kontinent einen sehr gelungenen Schauplatz und das historisch Interessante wird mir von Giada sozusagen aus erster Hand geliefert. Doch auch tausende Kilometer vom Heimatland entfernt, gelten die vom Kolonialstaat vorgegebenen starren Gesellschaftsregeln, die wenig Spielraum für eine sich emanzipierende Frau lassen.
Hätte sich die politischen Lage in Äthiopien nicht drastisch verändert, vielleicht wäre Giada niemals nach Italien zurückgekehrt. Auf jeden Fall betritt sie als selbstsichere, eigenständige Frau ihr Heimatland, auch wenn sie wieder von null ihr Leben einrichten muss.
Giulia Caminito hat mit ihrem Roman „Das große A“ mein Interesse an Giadas außergewöhnlichem Frauenschicksal geweckt und ich erliege durchaus dem afrikanischen Charme, den der Roman versprüht. Dennoch geben gewisse Momententscheidungen der Autorin dem Roman eine z. T. zu vorhersehbare Richtung und die eine oder andere Wendung trübt ein wenig meine Lesefreude.
Kurzmeinung: Sobald man sich an die eigenwillige Erzählweise gewöhnt hat, beginnt der Roman zu leuchten.
Wieder eine Autofiktion, zur Zeit groß in Mode, doch im Original schon 2016 in Italien erschienen. „In ihrem Debütroman verarbeitet die Autorin die eigene Familiengeschichte. Ihre Urgroßmutter war Schmugglerin und Barbesitzerin in Assab/Eritrea und ihr Vater kam in Asmara zur Welt“ (Klappentext). Die Heldin aber ist die Großmutter, bzw. die Mutter, bzw. die Tochter – ach, lassen wir das.
Giadina ist die älteste Tochter von Adi, die nach Eritrea auswanderte und später Giadina nachkommen lässt. Zunächst wächst Gia bei einer strengen und geizigen Tante auf, die das Geld, das die Mutter aus Eritrea für Giada schickt, veruntreut. Es sind schwere Zeiten, Faschismus in Italien, Bombardement durch die Alliierten. Giadina erlebt Hunger, Entbehrung aller Art und wenig Freude. Aber sie hat eine Freundin, deren Mutter sie manchmal ein bisschen füttert. Ihre Hoffnung jedoch ist die Mutter im fernen Afrika, im großen A. Als Giadina im großen A ankommt, ist alles anders. Aber sie lernt sich zurechtzufinden und schließlich heiratet sie den Herumtreiber Giacomo. Diese Ehe macht ihr Leben nicht leichter. Im Gegenteil.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Die Autorin bindet ihren Debütroman in die italienische Kolonialgeschichte ein. Das mag ich. Die Italiener haben Kleinitaly einfach importiert, tragen die Nase hoch und halten sich für was Besseres als die Einheimischen, die tatsächlich kuschen. Sie wollen Afrika gar nicht kennenlernen, aber Afrika ist Afrika und nicht Italien und letztlich ticken die Uhren dort für alle etwas anders. Als nach langen Jahren in Eritrea und Äthiopien, wohin es Giada mit Mann und Kind verschlägt, Haile Selassie in Schwierigkeiten gerät und es auch in Eritrea unter der schwarzen Bevölkerung brodelt, siedelt die Familie zurück nach Italien: Ravenna und Rom sind die letzten Stationen von Giadinas Leben. Die Autorin schließt erzählerisch den Kreis.
Im Roman wird wieder einmal deutlich, wie Krieg und Nachkriegswehen, viele Menschen in die Welt hinausweht, sie nicht sesshaft werden oder Wurzeln fassen können, umständebedingt mal hier, mal dort leben, immer wieder bereit loszulassen, was sie aufgebaut haben und sich an einem anderen Ort neu zu erfinden. All dies ist eine große Lebensleistung. Man nennt dies heute gerne flexibel bleiben, aber das ist Augenwischerei.
Giulia Caminito buchstabiert das Exempel der Exilanten an der zunächst herzlich unerfahrenen und arglosen Giadina, die lange braucht, um sich von übergriffiger Verwandtschaft, und dem für die Zeit normalen Frauenbashing zu emanzipieren, im Fremden sich zurechtzufinden, und letztlich ein kleines Glück zu fassen bekommt und es festhält, ja, es mit Nägeln und Klauen verteidigt.
Der Roman liest sich ein wenig sperrig, was an dem Kunstgriff der Autorin liegt, die Leserschaft am Anfang eines neuen Kapitels im Unklaren zu lassen, von welcher Person weitererzählt wird und an welchem Ort/Erdteil man sich gerade befindet. Sie meistert jedoch die für ihre Geschichte notwendigen Zeitsprünge gerade zu meisterhaft. Man muss halt aufmerken!
Ihre Sätze sind zum Teil stakkatohaft und aufzählend, was sie aber vorzüglich beherrscht, ist, Atmosphäre zu schaffen. Mühelos friert man im italienischen Winter mit und fasst an seine Frostbeulen und schwitzt mit der falschen Kleidung ausgestattet in der Wüste und unter dem Blechdach der Bar. Sand und Sonne, der gedankenlose Umgang mit Tieren, die überhebliche Kolonialgesellschaft, man hat lebhafte Bilder vor Augen. Sobald man sich mit der etwas sperrigen Erzählweise vertaut gemacht hat, beginnt der Roman zu leben und zu leuchten.
Fazit: Ein Auszug aus der Kolonialgeschichte Italiens, sandfarbig ins Bild gesetzt.
Kategorie: anspruchsvolle Literatur
Verlag: Wagenbach, 2024
Ein Frauenleben in den italienischen Kolonien
Das große A
Dies ist der dritte Roman von Giulia Caminito, den ich gelesen habe, aber es war der erste, den sie geschrieben hat und erst nachdem die beiden anderen erfolgreich waren, hat man nun auch diesen übersetzt. Ich war von den beiden Romanen „Ein Tag wird kommen“ und „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ begeistert, ging jedoch etwas skeptisch an diesen ersten Roman heran, mit Zweifeln, ob man ihn nur aufgrund der Erfolge nun auch übersetzt hat. Aber dies war unbegründet, denn er ist fast so gut wie die beiden Nachfolger.
Die Geschichte beginnt in Italien im 2.Weltkrieg. Giadina wächst, wie auch ihre Geschwister, ohne Eltern auf und lebt bei einer lieblosen und faschistischen Tante, der die Mutter Geld für ihren Aufenthalt sendet. Der Traum der zierlichen 13jährigen ist das große A, das Land Eritrea in Afrika, wo ihre Mutter Adele lebt und eine Bar leitet.
Es dauert jedoch noch einige Jahre bis ihr Wunsch Wirklichkeit wird. Als die Mutter einen Besuch in der Heimat macht und sieht, wie schlecht die Tante Giadina behandelt, holt sie sie nach Afrika.
Mit großen Erwartungen nimmt diese die lange Reise alleine auf sich. Sie erhofft eine liebevolle Mutter, ein Zimmer für sich, und träumt von einem besseren Leben im fremden Land. Schnell wird dem Leser die Realität vor Augen geführt. Adele leitet eine Bar und braucht Giadina als Hilfskraft, schlafen muss sie auf einem Feldbett im Freien.
Caminito versteht es, den Leser in sehr bildreichen Beschreibungen in eine andere Welt zu versetzen. Außerdem gibt sie oft Hinweise auf Ereignisse, die erst sehr viel später geschehen. Als Giacomo das erste Mal im Buch auftaucht und beschrieben wird, heißt es: …. Und ihrem zukünftigen Ehemann…Aber das wusste Giada noch nicht. So macht sie uns neugierig auf das weitere Geschehen.
Viel zu früh heiratet Giada den unzuverlässigen Giacomo, die Mutter fördert die Entscheidung zu dieser Ehe, sie sorgt sich wohl um den Ruf ihrer Tochter, was dem Zeitgeist entsprach. Das unstete Verhalten ihres Ehemannes, der kommt und geht, wie er will, die frühe Mutterschaft, und die Beziehung zu Schwiegermutter und Schwägerin, die zur gehobenen Schicht gehören, machen Giada das Leben nicht leicht. Aber mit ihren Aufgaben, der Bewältigung vieler Schwierigkeiten und dem Leben als Mutter mit vielen Plänen für ihren Sohn, beobachten wir, dass Giada sich zu einer starken Frau entwickelt. Sie muss für sich selbst und ihren Sohn sorgen, da Giacomo weg ist. In der letzten Zeit in Afrika gelingt es ihr sogar in einem bescheidenen Wohlstand zu leben.
Schließlich kehren sie – nach Ende der italienischen Kolonialzeit – wieder nach Italien zurück, wo auch Giacomo wieder auftaucht.
Mir hat das Buch gut gefallen, es hat meinen Blick auf die Geschichte der italienischen Kolonialherrschaft erweitert. Die Protagonistin ist mir nahegekommen und auch die ausdrucksstarken Bilder haben mich beeindruckt.
Caminito spielt mit der Sprache, setzt alle Stilmittel ein, sie schreibt für den geübten Leser in ihrem eigenen Stil, in den man sich jedoch schnell einliest. Die sprachlichen Bilder machten mir die fremde Welt anschaulich, manchmal jedoch etwas grenzwertig, wenn sie z.B. die Augen mit hin- und her schnellenden Goldfischen vergleicht.
Da mir ihre anderen beiden Bücher etwas besser gefallen haben, gebe ich nur 4 Sterne, aber das Buch ist sehr empfehlenswert!