Das Fräulein: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Fräulein: Roman' von Ivo Andric
4.5
4.5 von 5 (12 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Fräulein: Roman"

Rajkas Vater zählt zu den angesehensten und reihum respektierten Geschäftsmännern Sarajevos, ehe er bankrottgeht und darüber verzweifelt. Noch auf dem Sterbebett schärft er seiner fünfzehnjährigen Tochter ein: „Spare, spare immer, überall, an allem, und kümmere dich um nichts und niemanden.“ Streng hält sie sich an seinen Rat, übernimmt den Haushalt, unterdrückt die sanfte Mutter, schaut hartherzig einzig und allein auf ihren Vorteil und wird darüber zu einem Monstrum an Gier und Habsucht. Als jedoch der junge Ratko in ihr Leben tritt, ändert sich alles, und das „Fräulein“ wirft alle Prinzipien über Bord. Mit diesem 1944 entstandenen Roman schuf Ivo Andrić eine großartige und zeitlos aktuelle Charakterstudie.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
EAN:9783552073418

Rezensionen zu "Das Fräulein: Roman"

  1. Ein wenig zu sparsam

    Klassiker kritisiere ich nicht gern, ich halte es fast für eine Form der Anmassung, aber bei "Das Fräulein" von Ivo Andric muss es nun sein. Angesprochen von dem wunderschönen Cover der Zsolnay-Ausgabe und unter dem Eindruck, es hier vermutlich mit einer weiblichen Variation von Charles Dickens' Ebenezer Scrooge zu tun zu haben, machte ich mich erwartungsfroh an die Lektüre. Auch wenn die Beziehung zwischen mir und dem "Fräulein" zunächst etwas zurückhaltend war, faszinierten mich doch die atmosphärisch sehr überzeugend ausformulierte Eröffnungssequenz, der mysteriös anmutende Auftakt und vor allem auch der recht detaillierte Rückblick in die Jugend des Fräuleins. Sprachlich ist der Roman gelungen und gerade wenn es darum geht, Stimmungen und Settings zu beschreiben, überzeugt der Text durchaus, auch wenn er ab und an etwas sperrig und vor allem vom Erzähltempo her sehr gemächlich daherkommt.

    Nicht begeistern konnte mich hingegen der Umgang des Romans mit seiner Protagonistin. "Das Fräulein" sollte doch erwartbarer Weise im Fokus des Textes stehen, ihre Charakterisierung und Entwicklung ein wichtiges Anliegen des Romans sein. Im Mittelpunkt der Figurenzeichnung steht jedoch ausschließlich der Geiz des Fräuleins, welcher immer wieder auf nicht allzu variable Weise betont, beschrieben und formuliert wird und dem Leser schon nach drei Kapiteln hinlänglich dargelegt wurde. Eine grundlegende charakterliche Weiterentwicklung ist kaum wahrnehmbar, alles dreht sich immer wieder um den Geiz und die durch ihn angespornte Geschäftstüchtigkeit. Das ist mir auf der Ebene der Figurenkonzeption in der Tat viel zu sparsam. Außergewöhnlich ist in diesem Zusammenhang lediglich, dass es sich hier um eine weibliche Figur handelt, denn mit Frauenfiguren wird Geiz als kennzeichnende Eigenschaft vergleichsweise selten in Verbindung gebracht.

    Der Mangel an Entwicklung und facettenreicher Tiefencharakterisierung gepaart mit der sehr reduzierten Handlung führte dazu, dass ich den Roman mitunter als sehr langatmig empfand. Die eher distanzierte Erzählweise verhindert, dass man als Leser eine Bindung zu dem Fräulein aufbaut. Insgesamt wirkt es, als verliere der Roman im Verlauf der Geschichte das Interesse an seiner Figur, als sei das Fräulein dem Erzähler eher im Weg, denn mehr und mehr und vor allem immer wieder wird das Augenmerk weg von dem Fräulein und auf die gesellschaftlichen Verwerfungen in Serbien und das Zusammenleben im Vielvölkerstaat gerichtet. Es fehlt mir an einer starken psychologischen Auseinandersetzung mit der Titelfigur, die Zuspitzung auf Sparsamkeit und Geiz erscheint mir schlussendlich recht oberflächlich - der Text wirkt so eher wie ein Lehrstück zu übermäßigem Geiz und seinen Folgen, der auch nicht allzu viel Interpretationsspielraum beim Lesen lässt, da so manches Bild voll ausformuliert wird.

    Ich habe "Das Fräulein" zwar ganz gern gelesen, vielfach aber auch Langeweile empfunden. Der Handlungsverlauf konnte mich nicht überraschen und in der Figurenzeichnung nicht wirklich überzeugen.

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  1. Wenn Sparsamkeit ausartet

    Kaufmannstochter Rajka Radaković aus Sarajevo verliert mit 15 Jahren ihren Vater. Am Sterbebett schärft er ihr ein, stets sparsam zu sein. Ein Ratschlag, den sie sich sehr zu Herzen nimmt…

    „Das Fräulein“ ist ein Roman von Ivo Andrić, der im Original bereits im Jahr 1945 erschienen ist.

    Meine Meinung:
    Der Roman beginnt mit einer Art Vorrede oder Prolog, der den Tod der Protagonistin vorwegnimmt und im Februar 1935 spielt. Daran schließen sich acht Kapitel an. Erzählt wird aus auktorialer Perspektive in Rückblenden.

    Der Schreibstil ist atmosphärisch und anschaulich, in Teilen jedoch auf ermüdende Weise redundant und detailliert. Die Sprache ist angemessen und zeittypisch, aber auch recht nüchtern. Wort- und Sacherklärungen sind weiter hinten im Buch beigefügt.

    Rajka steht zweifelsohne im Fokus der Geschichte. Die Protagonistin wird sehr stark überzeichnet. Sie wird ausführlich und mit psychologischer Tiefe dargestellt. Dennoch kommt man der Figur nicht nahe und kann ihr Verhalten nicht immer nachvollziehen. Dadurch habe ich schnell das Interesse an diesem Charakter verloren.

    Inhaltlich dreht sich der Roman vor allem um das Thema Geiz, und das in einer extremen Form. Nur vordergründig geht es um das Porträt einer Frau, denn Rajka wird immer wieder auf ihre Raffgier reduziert. Das macht die Geschichte für mich zu plakativ.

    Auf den rund 250 Seiten schreitet die Handlung nur sehr langsam voran. Ein richtiger Lesesog wollte sich bei mir nicht einstellen. Erst im letzten Drittel kommt etwas Schwung in die Geschichte. Zum Ende hin konnte sie mich sogar noch überraschen. Positiv anzumerken ist zudem, dass historische Ereignisse und Entwicklungen eingebettet werden, sodass die Lektüre lehrreiche Elemente enthält.

    Das Nachwort der Zsolnay-Ausgabe („Geiz und Ehrgeiz“), verfasst von Michael Martens, ist informativ.

    Leider bin ich mit dem Marketing der deutschen Ausgabe nicht so glücklich. Der Klappentext verrät bereits viel. Das Cover ist sehr hübsch, passt jedoch nur bedingt.

    Mein Fazit:
    Mit „Das Fräulein“ hat mich Nobelpreisträger Ivo Andrić insgesamt nicht überzeugt. Ein Klassiker, der nicht zwingend im Bücherregal stehen sollte.

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  1. Sparsamkeit schützt vor dem Tode nicht

    Mindestens vom Namen her dürfte der bosnische Schriftsteller und Nobelpreisträger Invo Andric vielen Literaturbegeisterten ein Begriff sein. Er schrieb u.a. eine Trilogie, zu der neben dem "Fräulein" auch die Romane "Wesire und Konsuln" sowie "Die Brücke über die Drina" zählen. Für mich war "Das Fräulein" ein Reread, der jedoch sicher mein Verständnis für das Werk geschärft hat.

    Der Roman besteht aus drei Teilen und wird eingeklammert durch den Bericht vom einsamen Tod der Rajka Radakovic infolge eines Herzversagens. Dazwischen erfahren wir die Geschichte dieses Fräuleins. Sie ist erst 15, als ihr Vater, ein angesehener Geschäftsmann, erst bankrott geht und dann an Herzversagen stirbt. Auf dem Sterbebett noch nimmt er seiner Tochter das Versprechen ab, gut für sich und ihre Mutter zu sorgen und trichtert ihr ein, unerbittlich zu sein. Rajka nimmt ihren Vater nicht nur beim Wort, sondern treibt es mit der vom Vater anerzogenen Sparsamkeit auf die Spitze: Alle nicht zwingend notwendigen Ausgaben werden drastisch reduziert; Rajka schreckt nicht einmal davor zurück, einen lanjährigen Mitarbeiter zu entlassen. Ihre Mutter ist angesichts des Geizes ihrer Tochter fassungslos.

    Mit dem Attentat an Franz Ferdinand ändern sich die Zeiten, der Erste Weltkrieg bricht aus und mit diesem ändert sich die gesamte Weltordnung. Doch alles geht am Fräulein vorbei. Sie wird quasi von den Entwicklungen und der neuen Wertlosigkeit des Geldes überfahren. Rajka ist völlig ahnungslos, wie das Leben nun funktioniert und sorgt sich nur um ihr Geld. Später findet sie in Sarajewo zunächst bei Verwandten Zuflucht.

    Als sie sich, geblendet von der Liebe, von Ratko täuschen lässt und ihm Geld leiht, fällt sie mit dieser Großherzigkeit auf die Nase. Konsequenz daraus ist, dass sie noch verbitterter wird. Doch wohin ihr übertriebener Geiz führt, wurde zu Beginn bereits berichtet: sie stirbt einsam in Belgrad und wird von einem Briefträger tot aufgefunden.

    "Das Fraulein" liest sich als Psychgramm einer Frau, die die Sparsamkeit auf die Spitze treibt und letztlich an den Konsequenzen stirbt. denn durch kein Geld der Welt kann man dem Tod entkommen. Jedoch könnte man durch ein weicheres Herz mehr Sorge für sich tragen. Mich hat die Geschichte des Fräuleins sehr in ihren Bann gezogen. Der Schreibstil und die Figurenzeichnung des Autoren sind meisterhaft und konnten mich begeistern. Ich musste oft an Molières Geizigen denken. Mit Rajka schuf Andric ein weibliches Pendant. Natürlich gibt es eine Moral von der Geschichte: Mit Geiz schadet man sich letztlich nur selbst. Das hat mich aber nicht gestört, im Gegenteil.

    Das Nachwort von Michael Martens fand ich zur Einordnung des Werkes hilfreich, auch wenn ich es schade fand, dass so stark auf die Frage des autobiographischen Gehaltes fokussiert wurde. Es schien Martens wohl wichtig, mit der fehlerhaften Einschätzung, Andric sei selbst ein Geizhals gewesen, aufzuräumen.

    So oder so: Ich bin froh, das Werk nochmals gelesen zu haben und empfehle es gerne weiter.

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  1. Im Rausch des Geizes

    Ivo Andrić war ein bosnischer Schriftsteller und Diplomat, geboren am 9. Oktober 1892 in Dolac bei Travnik - Bosnien und gestorben am 13. März 1975 in Belgrad. Er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts auf dem Balkan und wurde 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Sein bekanntestes Werk ist der Roman "Die Brücke über die Drina", der sich mit der Geschichte und dem Leben in der bosnischen Stadt Višegrad auseinandersetzt. Andrić schrieb jedoch auch viele andere Romane, Erzählungen und Essays, die sich mit der Geschichte, Kultur und Gesellschaft der Balkanregion befassen.

    Der Tod des Fräuleins ist Ausgangs- und Endpunkt des auktorialen Erzählers. Schon auf der ersten Seite des Romans wird ihre Leiche vom Briefträger entdeckt, die sensationslüsterne Belgrader Bevölkerung hofft - so heißt es schelmisch - auf einen Kriminalfall. Bereits der nächste Absatz lässt die Hoffnung auf einen Kriminalfall, den Andrić geschickt mit gattungsspezifischen Normen einbaut, wie eine Seifenblase platzen. Die Untersuchungen ergeben einen natürlichen Tod ohne Fremdeinwirkung. Das Fräulein starb an Herzversagen. Doch im Hintergrund bleibt der leise schwingende Ton, ob das Fräulein vielleicht doch nicht eines natürlichen Todes verstorben ist. Mit dieser Situation setzt der Roman ein, denn von Beginn an, weiß der /die Leser:in wie es endet. Was passiert dazwischen?

    Das Fräulein, „eine große, hagere alte Jungfer, ihr Gesicht ist gelb von Runzeln durchfurcht“ (vgl. S. 12 f.) sitzt in ihrem einzigen beheizten Zimmer und stopft Strümpfe. Mit wenigen Sätzen hat der Schriftsteller Ivo Andrić die Hauptperson umrissen und in den Fokus gestellt.
    Stück für Stück nähert er sich der Person an und beschreibt aus ihrer Sicht die Geschichte. Beim Stopfen erinnert sich das Fräulein an ihre Vergangenheit.

    „Das ist eine Lust. Das heißt wahrlich, einen ewigen und ermüdenden Kampf führen und einen mächtigen, unsichtbaren Feind überlisten“ (S. 15)

    Rajka Radaković ist die Tochter des erfolgreichen und anerkannter Geschäftsmannes Gazda Obren Radaković. Ihre Mutter, eine schwache Frau, stammt aus einer angesehenen Sarajevoer Familie. In der Familie ist Rajkas Vater der Mittelpunkt, besonders in ihrem Leben. Rajka ist fünfzehn Jahre alt, als das Unfassbare geschieht: Ihr geliebter und verehrter Vater ist bankrott und stirbt kurze Zeit später. Doch vorher nimmt er auf dem Sterbebett ein Versprechen seiner Tochter ab. Sie sei nun verantwortlich für sich und ihre Mutter. Eindringlich erklärt er ihr die Härte des Geschäftslebens. Sie müsse unerbittlich sein und keine Schwächen zeigen.

    „Du musst gegen dich und andere unbarmherzig sein.“ (S. 25)

    Nach dem Tod des Vaters verwirklicht sie schnell seine Ratschläge, um die Ehre ihres Vaters wieder herzustellen. Unerbittlich reduziert Rajka alle finanziellen und materiellen Ausgaben. Die Gäste ihrer Mutter werden nicht mehr eingeladen, weil sie zu viel Kaffee und Zucker verbrauchen. Bettler werden aus dem Haus gejagt und das Personal wird nicht mehr gebraucht. Rajka kontrolliert auch sich selbst und lässt keine Emotionen zu. Nachdem sie die Schulden ihres Vaters getilgt hat, erweitert sie ihre Geschäfte. Sie fängt mit Spekulationsgeschäfte an und beginnt im Verborgenen mit der zwielichtigen Wucherei ihr Vermögen zu mehren.

    Ihre Geldgier und das Sparen verändert sie körperlich und psychisch.

    Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo, das den Ersten Weltkrieg auslöst, am 28. Juni 1914, wird detailliert aus der Perspektive des Fräuleins beschrieben.

    Ihre Mutter sagt: „Die armen Serben werden wieder dafür büßen.“ (S. 94)

    Das Fräulein selbst durchlebt diese Zeit am Anfang mit mangelnder Solidarität mit den Serben.

    „Was habe ich mit den Studenten zu schaffen?“ (S. 96)

    Sie zieht um nach Belgrad und kommt bei Familienmitgliedern unter. Ihr gesamtes Lebenskonzept gerät ins Wanken. Als in dem Haus bei einer Gesellschaft ein Dichter ein Gedicht vorträgt, das von „einem schrecklichen und blutigen Angriff auf den Reichtum und die Reichen, auf ihr Geld und Lebensweise“ handelt, verlässt sie verbittert den Raum.

    Ivo Andrić gelingt hervorragend, das Fräulein mit historischen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Die historischen Gegebenheiten spiegeln ihre Reaktion wider. Sie muss reagieren, aber sie erkennt nicht die Auswirkungen. Ihr Denken ist gefangen im Rausch des Geldes. Sie sucht Antworten, ob es eine Verschwörung sein kann gegen Geld und Sparsamkeit. Sie versucht unsichtbar zu bleiben aus Angst.

    „Sie hatte Angst vor diesen Spuren des Krieges, aber ebenso fürchtete sie sich vor dem neuen, tosenden Leben, das rücksichtslos neben den Ruinen und den vom Unglück betroffenen Menschen brodelte und dahinjagte.“ (S. 180)

    Die Angst lebt auch in ihren Träumen.

    Andrićs Roman umfasst die Zeitspanne von 1903 bis 1935. Er beginnt in Belgrad, spielt im Rückblick über weite Strecken in Sarajevo und endet dann in Belgrad, wo der Faden vom Anfang des Textes aufgenommen wird.
    Gezielt setzt er die pittoresken Lebensformen der damaligen Balkangesellschaft ein, deren Elemente den Hintergrund bilden und wie auf einer Bühne eine Komödie stattfinden lassen.

    Am Ende des Romans nimmt der Tod des Fräuleins genaue Konturen an. Ihre skrupelhafte Haltung erreicht einen Höhepunkt durch die groteske Liebeserfahrung mit einem Hochstapler.
    Der Kreis schließt sich mit dem Gedanken des Fräuleins, dass ein äußerer Feind sie bedroht, aber es war nur der Geiz. Eine nicht erfolgte Operation am Herzen aus Geldgier und Habsucht brachte sie zum Fall. Ihr Untergang endet seelisch versteinert, notwendig, abgeschlossen, endgültig.

    Ivo Andrić wählt die Protagonistin mit Bedacht. Er stellt eine Frau als Geizhals in den Mittelpunkt, die im gleichen Atemzug ihre weiblichen Attribute verliert. Sie wird hart und bekommt männliche Züge. Die Protagonistin wird auf die Stufe der männlichen Geizhälse in der Literatur gestellt.

    Während in seinen anderen Romanen „bunte Menschenreigen sich gegenseitig beleuchten und bespiegeln“, gibt es in dem Roman „Das Fräulein“ nur sie als Protagonistin, die durch alle anderen Charaktere ins Rampenlicht gestellt wird. Der auktoriale Erzähler ist während der gesamten Erzählung immer dicht bei dem Fräulein.

    Das Titelbild des Romans zeigt ein Porträt einer jungen, sehr gepflegten, anmutigen jungen Frau. Auf den ersten Blick passt diese Abbildung überhaupt nicht zum Inhalt des Textes. Doch genau hier wird der Kontrast deutlich zum Inhalt der Geschichte gestellt. Man hätte gerne das Fräulein sympathischer und offener gehabt, doch Andrić verhindert es und stellt uns aus seinem Blick sein Fräulein vor, „eine Sklavin der eigenen Raffgier“. (S. 267)

    Fazit
    Das Nachwort ist eine informative Ergänzung, die sich eng an das Thema Geiz und seine möglichen Folgen hält. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls der Autor durchleuchtet, inwiefern dieser ein Geizhals gewesen sein könnte. In anderen Romanen von Andrić tauchen ebenso Geizhälse auf wie bei anderen Schriftstellern. Das Besondere in seinem Roman ist die weibliche Figur des Geizhalses. Eine Frau am Rande der Gesellschaft, die sich mit männlichen Attributen behauptet, Geldgeschäfte macht und nur auf sich selbst bezogen lebt. Ivo Andrić ist eine interessante, exzessive Charakterstudie gelungen.

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  1. Die Tragik des Geizes

    Ivo Andric gewann, als einziger Jugoslawe, 1961 den Literaturnobelpreis. Er wurde noch unter österreichisch-ungarischer Verwaltung in Dolac bei Travnik, Bosnien 1892 geboren, erlebte die Umstürze und Brüche seines Landes hautnah mit und setzte sich später als Diplomat und Politiker zunächst für das Königreich, dann für den Staat Jugoslawien ein.
    "Das Fräulein" bildet mit den anderen beiden großen Werken Andrics (Wesire und Konsuln, Die Brücke über die Drina) die bosnische Trilogie und kann in der zeitlichen Abfolge als Geschichtsliteratur der Balkanländer angesehen werden.

    Das Fräulein wird uns gleich zum Anfang tot in ihrem Haus in Belgrad vorgestellt. Es ist dem Briefträger zu verdanken, dass sie Tage später gefunden wird. Die Zeitungen wissen nur zu berichten, dass Rajka Radakovic aus Sarajewo stammte, seit 15 Jahren das zurückgezogene Leben einer einsamen Jungfrau führte, als Geizkragen und Sonderling galt und wohl an Herzversagen verstarb.

    Neugierig, wie es dazu kommen konnte, setzt die Geschichte bei der 15jährigen Rajka ein, die ihrem Vater am Sterbebett in Sarajewo versprechen musste, das verbliebene Geld in der Familie zusammenzuhalten, niemals unnütze Ausgaben zu machen, keinem zu vertrauen und alles dafür zu tun, dass sich das Geld wieder vermehre. Das nimmt das Mädchen allzu wörtlich und verschließt sich fortan jeglichem Luxus, Lebensfreude und sogar Barmherzigkeit. Vorsichtig holt sie sich Finanztipps von ihrem geliebten Onkel und Vormund und anderen Geschäftsmännern, bleibt aber zögerlich in ihren Ausgaben. Hinter jedem Fest und jeder Prasserei vermutet sie den Teufel höchstpersönlich, über ihre Entscheidungen legt sie alle Sonntage Rechenschaft am Grab ihres Vaters ab.

    Die Zeiten sind unruhig, 1914 fällte der österreich-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand just in dieser Stadt einem Attentat zum Opfer, der 1.Weltkrieg bricht aus. Krieg aber bedeutet auch, dass Geld gebraucht wird und das Fräulein verleiht ihr Geld. Zu Wucherzinsen. Die erste Million scheint in greifbare Nähe zu rücken, doch als der Krieg zuende ist, werden Schuldige gesucht. Als Kriegsgewinnlerin hat Rajka jetzt Angst bekommen und flieht mit ihrer Mutter nach Belgrad.

    Zunächst finden sie bei der Verwandtschaft Unterschlupf, doch deren gesellschaftliches Leben ruft nur Verachtung bei Rajka hervor. Nur eine Frau kann sich ihr Vertrauen erschleichen und diese stellt ihr auch den jungen Mann vor, der auf dem Weg zu einer verdienstvollen Stellung in der Wirtschaft ist, dem nur eine kleine Starthilfe fehlt und dessen Lächeln Rajka sosehr an ihren Onkel in Sarajewo erinnert. Der einzige Ausrutscher und finanzielle Fehltritt nimmt ihren Lauf und lässt Rajkas Herz in verhärteten Bruchstücken zurück.

    Interessanterweise überlässt Andric in seinem Roman die Rolle des großen Geizhalses, anders als andere große Schriftsteller, einer Frau und bettet ihre Geschichte zeitlich und örtlich in seine eigenen Lebensdaten ein. Dabei erfasst er die Aufbruchstimmung seines Landes genau, ergreift aber (vermutlich berufsbedingt) keine Partei. Die Vergangenheit wird so natürlich lebendig und der Fokus eines deutschen Lesepublikums in eine (fast) vergessene Ecke Europas gelenkt. Das ist verdienstvoll und interessant.

    Leider bleibt das Fräulein selbst, mit ihrem altbackenen, damals wohl üblichen Titel, seltsam starr und entwicklungsresistent. Vielleicht dürfen wir das der männlichen Sicht auf eine Frau verdanken, die sich ihre Charakterzüge allein aus Berichten und Erzählungen von Männern untereinander aneigenen muss. Man (frau) muss beim Lesen daran denken, dass es andere Zeiten waren, oder sich in Erinnerung rufen, dass aus solch nobelpreisgekürter Lektüre eben auch Wahrnehmungen für Jahrzehnte entstanden.

    Das Buch erschien erstmals auf Deutsch 1958 und wurde jetzt, von Edmund Schneeweis übersetzt und von Katharina Wolf-Grießhaber überarbeitet, im Zsolnay Verlag veröffentlicht. Leider zeigt uns das Titelbild eine, so ganz und gar nicht zur Protagonistin passen wollende, lächelnde junge Frau mit lackierten Nägeln... lasst euch nicht davon täuschen.

    Das tragische Ende, das ein durchaus slapstickhaften Abgang bietet, eine angenehme, flüssige Sprache und detaillierte Ortsbeschreibungen machen dieses Werk trotzdem lesenswert.

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  1. 5
    18. Apr 2023 

    Der Heimat ein literarisches Denkmal

    Zu Beginn des Romans „Das Fräulein“ erfahren wir vom einsamen Tod einer alten Dame in Belgrad in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Im Laufe des Romans dann führt Andric den Leser durch das Leben dieses „Fräuleins“, die als Tochter aus gutem Kaufmannshaus in Sarajewo aufgewachsen ist und von ihrem Vater ihr prägendes Lebensmotto der Sparsamkeit eingetrichtert bekommen hat. Geld spielt so dann in ihrem weiteren Leben die für sie herausragende Rolle, hinter der auch Beziehungen zu anderen Menschen weitestgehend zurücktreten müssen. Die Möglichkeit, Geld zu erwirtschaften und dieses zusammenzuhalten, aber liegt nicht ganz in den Händen des Fräuleins, denn mit wechselnden politischen Situationen und Gegebenheiten sind Geschäften und Anlagestrategien immer wieder neue und veränderte Grenzen gesetzt. Und so richtet sich der Blick des Autors auch intensiv auf die wechselvolle Geschichte des Landes, in dem die Titelheldin aufwächst. In Sarajewo erlebt sie recht hautnah die Situation mit, die zum Ausbruch des 1. Weltkriegs geführt hat und wird in ihrem Leben dann permanent begleitet von den rivalisierenden Strömungen im zusammenbrechenden/-gebrochenen Habsburgerreich und der Schaffung von neuen Staaten auf dem Westbalkan.
    Die Lebensphilosophie des Fräuleins jedenfalls lässt sie ein zurückgezogenes Leben in diesem bunten Völkergemisch einnehmen und lässt sie schließlich, wie schon zu Beginn des Romans aufgelöst, in hohem Alter in Einsamkeit sterben.
    Wie Andric seinen tiefschürfenden historischen Roman auf den recht unscheinbaren Charakter seiner Heldin aufbaut, habe ich als Leser als großes Stück Literatur empfunden und konnte auch ohne eine große Sympathie für die Heldin zu entwickeln, mit ihr mitfiebern, wie sich ihr Schicksal im Angesicht der historisch-politischen Turbulenzen entwickelt. Andric hat hier mit einem großen Anteil an eigenem Herzblut seiner Heimat und Heimatstadt ein großartiges literarisches Denkmal gesetzt. Wir schauen aus der Jetztzeit zurück auf die weiteren Geschehnisse in diesem Teil der Welt und haben das Wissen darum, wie viel Leid, Tod und Gewalt diese Region noch zu durchleben hatte. Das macht die Lektüre des Romans noch einmal spannender und dessen Neuauflage im Zsolnay-Verlag noch stimmiger. 5 Sterne!

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  1. Wo fängt der Geiz an, und wo hört das Leben auf

    Wo fängt der Geiz an und wo hört das Leben auf

    Ivo Andrić verfasste diesen Roman, der Teil einer Trilogie ist, vor fast 90 Jahren. Lesenswert ist er definitiv auch heute noch, die Tatsache das es sich um eine Trilogie handelt, sollte potentielle Leser nicht abschrecken, da das Buch auch unabhängig gelesen werden kann.

    Die Hauptperson in " Das Fräulein" ist Rajka, die mit 15 Jahren ihren Vater verliert, der ihr am Sterbebett ein Versprechen abverlangt. Sie soll sparen wo es nur geht, kein Mitleid zeigen wenn es um Geld geht. Er selbst war viele Jahre ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, doch am Ende war er bankrott und der Tod ließ auch nicht lange auf sich warten.
    Das Fräulein hingegen nimmt sich die Worte des werten Herrn Papa so zu herzen, dass man fast schon sagen kann, dass ihr Herz versteinert ist. Es wird zum Mantra, zum Wahn, sogar der Mutter verlangt sie diesbezüglich einiges ab, es wird gefroren, am Essen gespart, Besuche finden so gut wie gar nicht mehr statt, denn alles kostet unnötig in den Augen des Fräuleins.
    Die Verwandten zeigen lange Verständnis, doch auch sie ziehen sich immer mehr zurück. Als sie fast schon im geheimen beginnt Geld zu verleihen entwickelt sie ein außerordentliches Gespür dafür, wem sie Geld leihen kann, um es auch zurückzuerhalten.
    Als der erste Weltkrieg in Serbien wüted, bangt das Fräulein um ihr Geld, sie ist am Rande der Verzweiflung, doch alles geht gut. Ein Umzug bringt dann noch einmal,frischen Wind in die Handlung.

    Das Ende ist dem Leser schon bekannt, denn das Buch beginnt mit dem Tod des Fräuleins. Der Weg dorthin, die Erfahrungen, die Erlebnisse machen den Roman aus. Für mein Denken ist es kein gesundes Verhalten, dass das Fräulein an den Tag legt. Dennoch übt die Handlung beim lesen einen gewissen Sog aus, obwohl ich oft mehr als irritiert wegen des Verhaltens war. Teilweise wiederholte sich einiges, doch die eindrucksvollen Beschreibungen bezüglich des Krieges, und dessen Beginn durch das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand, machten diese Passagen wieder wett.

    Ein Roman, der überzeugt, der verwundert, der brüskiert, und der dennoch am Ende ein wenig Mitleid für diese arme Frau, die ihr Leben lang spart und am Ende nichts davon gehabt hat.

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  1. Über die große, herrliche, tödliche Wüste des Sparens

    Dieser bereits 1945 erschienene Roman von Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andric (1892 – 1975), der nun im Zsolnay Verlag in wunderschöner Ausgabe neu überarbeitet erschienen ist, beginnt und endet mit demselben Todesfall Ende Februar 1935 in Belgrad. „Das Fräulein“ Rajka Radakovic wurde tot in ihrem Haus aufgefunden. Sie war als einsame, alte Jungfer bekannt, die sehr zurückgezogen lebte. Ihr Tod ist Anlass für den auktorialen Erzähler, das Leben Rajkas zu schildern und wichtige Stationen Revue passieren zu lassen. „Die Kindheit, jene frühe Kindheit, von der die Philosophen und Dichter sagen, sie sei die glücklichste Zeit im Leben des Menschen, diese harmlose Zeit, wo der Mensch weder vom Geld weiß noch von der Anstrengung, es zu verdienen und zu verteidigen, hat es für sie gar nicht gegeben.“ (S. 19)

    Ihr Vater war ein angesehener serbischer Kaufmann in Sarajewo und wurde auch von Rajka hoch verehrt. Sein Bankrott reißt ihn auch gesundheitlich nieder, auf dem Sterbebett schärft er seiner Tochter ein, alles besser zu machen als er selbst: Er ermahnt sie zu größter Sparsamkeit; von Schwächen wie Edelmut, Großzügigkeit und Gefühlen soll sie sich fernhalten. Diesen Rat nimmt Rajka mit ihren 15 Jahren allzu wörtlich und entwickelt sich schnell zu einer geizigen, hart- und unbarmherzigen Frau. Fortan lebt sie mit ihrer Mutter unter spartanischen Bedingungen zusammen, nimmt an keinerlei sozialen Begegnungen mehr teil und spart eisern. Etwas Ausgelassenheit bringt anfangs ihr geliebter, aber verschwendungssüchtiger Onkel Vlado in ihr Leben, mit seinem Tod verhärtet sie jedoch vollends. Rajka wendet sich an die richtigen Personen, um ihr Geld zu mehren. Sie spekuliert und handelt meist im Verborgenen über Mittelsmänner. Später beginnt sie, Geld an handverlesene Menschen zu verleihen, die in Not geraten sind. Interessieren tut sie dabei nur der Profit, die Grenze zur skrupellosen Wucherei ist fließend… Rajka träumt von der ersten Million, Geld ist zeitlebens Sinn und Motivation ihres Handelns.

    Der größte Teil des Romans liest sich als Psychogramm dieser Frau, die sich immer mehr kasteit und in ihren krankhaften Geiz hineinsteigert. Ivo Andric hat aber auch das historische Umfeld im Visier. Besonders authentisch schildert er die Folgen des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo. Es gibt Unruhen, die serbische Minderheit gerät unter Druck. Man fühlt sich hautnah mit den Geschehnissen verbunden, von denen man heute weiß, welche weitreichenden Folgen sie hatten. Diese Perspektive ist außergewöhnlich.

    Ich will nicht auslassen, dass der Roman für mich im Mittelteil die ein oder andere Länge aufwies, weil Andric hier die Fokussierung auf seine Hauptfigur verlässt, um sich den politisch-ethnischen Problemen seiner Heimat während und nach dem Krieg zuzuwenden. Diese Zusammenhänge haben mich weniger interessiert.
    Indessen hat mich Andric mit seiner Figurengestaltung, seinen Schauplätzen und seinem gesellschaftlichen Zeitkolorit begeistert. Figuren wie der Lebemann Vlado, der Kaufmann Rafo, der schöne Ratko oder die doppelzüngige Jovanka wirken sehr lebendig und facettenreich gezeichnet in all ihren extremen Charakterzügen. Im letzten Drittel nimmt der Roman auch wieder richtig an Fahrt auf. Es wird der Bogen zum Anfang geschlagen. Alle Fragen finden ihre Antwort. Andric besticht mit seiner präzisen Stilistik. Es ist ein Genuss, seine Prosa zu lesen. Er beschreibt detailliert mit feinen Formulierungen. Immer wieder blitzen allwissende Vorhersagen auf, die früh darauf hinweisen, dass es kein gutes Ende mit dem Fräulein nehmen kann. „Man hätte nicht sagen können, dass das Haus schmutzig oder verwahrlost gewesen wäre, dennoch war es von jener hellen und gesunden Sauberkeit entfernt, von der glückliche Häuser nur so blitzen und glänzen. Denn Geiz ist eine der Eigenschaften, die mit der Zeit auch echten Schmutz nach sich ziehen.“ (S. 49) Solche Sätze sind es, die mich regelrecht verzaubern, diese Erzählkunst ist komplex, intelligent und fein gesponnen. Andric kann Atmosphäre schaffen. Seine Protagonistin indessen ist so eigen, dass man sich gar nicht mit ihr fraternisieren möchte, in Bezug auf sie bleibt man eher betroffener Beobachter.

    Das Nachwort ordnet den Roman ins Gesamtwerk des Autors ein und zeigt biografische Dissonanzen in dem Sinn auf, dass Andric kein Geizhals gewesen sein soll. Das augenfällige Coverbild muss das Fräulein in seiner unbeschwerten Jugend zeigen, die mit 15 Jahren abrupt endete. Die abgebildete hübsche junge Frau bringt man mit der verhärmten Figur der geizigen Rajka nicht zusammen.

    „Das Fräulein“ ist ein Klassiker, den es unbedingt zu lesen lohnt. Das Psychogramm dieser gestörten Frau wirkt sehr glaubwürdig, der historische Hintergrund ausgesprochen authentisch. Highlight für mich ist eindeutig die sprachliche Gestaltung. Solch versierte Sprachkünstler wie Ivo Andric findet man heutzutage selten. In dem Zusammenhang muss man die Leistung der Übersetzer Edmund Schneeweis und Katharina Wolf-Grießhaber hervorheben.

    Große Lese-Empfehlung!

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  1. 5
    14. Apr 2023 

    Geiz in Zeiten historischer Umbrüche

    In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern auch die Umbrüche im gesellschaftspolitischen Gefüge rund um den Ersten Weltkrieg und die Goldenen Zwanziger auf dem Balkan.

    Im Zentrum des Romans steht Rajka, deren Vater, ein angesehener Kaufmann Sarajevos, stirbt als sie selbst erst 15 Jahre alt ist. Er nimmt ihr am Sterbebett das Versprechen ab, ihr Leben lang sparsam zu sein. Sie solle ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft auf ihre Sparsamkeit richten. Sie müsse gegen sich und andere unbarmherzig sein, „all die sogenannten höheren Rücksichten in sich abtöten, die noblen Gewohnheiten wie inneren Edelmut, Großzügigkeit und Empfindsamkeit.“ Und genau das macht daraufhin Rajka, „das Fräulein“ wie sie von den Bewohnern Sarajevos genannt wird, auch wortgetreu. Sie legt all diese „Schwächen“ ab und wird eine unbarmherzige junge Frau.

    Gleich zu Beginn erfahren wir, dass es mit dem Fräulein nicht gut ausgehen wird, wie begleiten sie nun durch die Augen des auktorialen Erzählers, welcher sich als Teil der Bevölkerung Sarajevos sieht, ca. 30 Jahre lang bis zu ihrem Ende als „alte Jungfer“ mit 45 Jahren. Historisch deckt dieser Roman gerade die Zeitspanne kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg ab und endet 1935.

    Diese historische Episode scheint vom Autor keinesfalls willkürlich gewählt, war er doch selbst zu Beginn des Ersten Weltkriegs – welcher bekanntermaßen mit dem „Attentat von Sarajevo“ auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand seinen Anfang nahm – Mitglied der revolutionären Organisation Mlada Bosna und verbrachte ein Jahr im Gefängnis aufgrund von Verwicklungen mit Drahtziehern des Attentats. Später sollte er als angesehener Diplomat für den jungen Vielvölkerstaat Jugoslawien tätig sein.

    So bekommen wir im ersten und letzten Drittel des Romans ein ausgefeiltes und sprachlich grandioses Psychogramm einer jungen Frau gezeigt, die durch ein verhängnisvolles Versprechen am Sterbebett des Vaters von einfacher Sparsamkeit in eine „Sucht des Geizes“ abdriftet. Dieses Leben dessen Sinn und Ziel der Geiz ist, bekommen wir unglaublich plastisch und detailliert beschrieben. So wird das Fräulein sogar durch ihre krankhafte Rigidität bis in den Tod getrieben. Im Mittelteil wartet der Roman jedoch mit einer Überraschung auf: in der Peripherie, neben den zwielichtigen Geldgeschäften von Rajka und ihrem Untergang mit Ansage, erleben wir das Attentat von Sarajevo, die Folgen des Attentats für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Menschen der Stadt, die Zeit des Krieges, die Idee von einer anderen Gesellschaftsordnung sowie die überschwänglichen „Zwischenkriegsjahre“ der Goldenen Zwanziger mit.

    Gerade diese Kombination aus Psychogramm einer ungewöhnlichen Frau und gesellschaftlichen Zuständen in dieser Zeit an diesem Ort (neben Sarajevo wird auch Belgrad eine Rolle spielen) empfand ich während der Lektüre als unglaublich bereichernd. Sprachlich wie auch inhaltlich konnte mich Ivo Andric mit seinem Roman so sehr erreichen, dass ich nach weiteren Werken des Autors nun die Augen offen halten werde.

    Ergänzt wird diese Ausgabe von Zsolnay von einem Nachwort Michael Martens‘, welches sich genauer mit dem zentralen Thema „Geiz und Ehrgeiz“ beschäftigt. Hier zieht Martens Parallelen zwischen der Protagonistin Rajka und ihrem Autor Ivo Andric. Dieser sei damals als geizig verschrien gewesen, was es jedoch zu überprüfen gilt. Auch wird ein Blick auf die Sonderrolle Rajkas als krankhaft geizige Frau in der Literaturgeschichte geworfen und „Das Fräulein“ in einen Kontext zu den anderen beiden Romanen der inoffiziellen „Balkan-Trilogie“ gesetzt. Andric habe zwischen 1941 und 1944 drei Romane während der deutschen Besetzung Belgrads geschrieben, wovon „Das Fräulein“ das letzte und auch damit nächste zum damals aktuellen Weltgeschehen gewesen ist. Das Nachwort ist durchaus informativ und interessant zu lesen, wenngleich ich mir an dieser Stelle doch eher eine Einordnung in die eigenen gesellschaftspolitischen Bestrebungen des Autors zur beschriebenen Zeit gewünscht hätte. Da er selbst ein Protagonist in diesem welthistorischen Geschehen gewesen ist, hätte es sich angeboten, das Nachwort für eine biografische Erörterung im Zusammenhang mit den geschilderten Szenen im Buch zu nutzen.

    Somit kann ich die Lektüre dieses sprachlich hervorragend präzisen, psychologisch interessanten und historisch durchaus relevanten Romans uneingeschränkt empfehlen. Der Roman für sich genommen ist für mich ein 5-Sterne-Buch, allein das nicht hundertprozentig zufriedenstellende Nachwort führt zu minimalem Abzug.

    4,5/5 Sterne

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  1. 5
    14. Apr 2023 

    Ein Herz, mit totem Wachs versiegelt

    Ivo Andric ( 1892-1975 ), bosnischer Literaturnobelpreisträger, erreichte Weltruhm mit seiner sog. Bosnischen Trilogie, drei voneinander unabhängigen Romanen: „ Die Brücke über die Drina“, der bekannteste Roman des Autors, „ Wesire und Konsuln“ und „ Das Fräulein“. Letzterer nimmt hier eine Sonderstellung ein, denn er hat als Schauplatz nicht die bosnische Provinz, sondern spielt in Sarajewo und in Belgrad. Außerdem umfasst die Handlung nicht Jahrhunderte, sondern nur die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Der größte Unterschied aber liegt darin, dass sich hier Ivo Andric hauptsächlich auf eine Figur beschränkt, jenes besagte Fräulein.
    Rajka wächst als einziges Kind in einer gut situierten Kaufmannsfamilie in Sarajewo auf. Doch als sie fünfzehn Jahre alt ist, verändern sich ihre Lebensumstände. Der geliebte und verehrte Vater ist gescheitert, steht vor dem finanziellen Ruin. Bevor er kurz darauf stirbt, gibt er seiner Tochter noch ein paar Lebensregeln mit auf den Weg. Um nicht die gleichen Fehler zu begehen wie er, soll sie gegen sich und andere „ unbarmherzig sein“ und vor allen Dingen soll sie sparen. Denn Einkünfte sind oft von äußeren Faktoren abhängig, aber die Ausgaben liegen in der eigenen Verantwortung.
    Und das Mädchen wird die Ratschläge ihres Vaters verinnerlichen. Zunächst setzt sie alles daran, die väterliche Ehre wiederherzustellen und die Schulden zurückzuzahlen. Sie lässt sich unterweisen in Geschäftspraktiken, beginnt mit Spekulationen und Wucherei ihr Vermögen zu mehren und geht ganz gezielt daran, alles Unnötige zu streichen. Aber bald wird die Geldgier und das Sparen zum Selbstzweck.
    Das Attentat in Sarajewo am 28. Juni 1914 weckt große Befürchtungen in ihr. Wie wird sich der Krieg auf ihre wirtschaftlichen Unternehmungen auswirken? Muss sie als Serbin mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen? Doch dann geht sie wieder unbeirrt von den politischen Ereignissen weiter ihren Geschäften nach und sieht sich bald finanziell auf der Seite der Gewinner.
    Nach Kriegsende wird sie deshalb in ihrer Heimatstadt angefeindet und sie zieht mit ihrer Mutter zu Verwandten nach Belgrad. Aber dem geselligen Leben im Haushalt ihres Onkels kann sie nichts abgewinnen. Sie zieht in ein Mietshaus am Rande der Stadt und wird dort nach dem Tod der Mutter einsam bis zu ihrem eigenen Tod leben.

    Ivo Andric zeichnet hier das Portrait einer Frau, deren Geldgier sich zu extremem Geiz entwickelt. Skrupellos und unbarmherzig gegen sich und andere häuft sie ihr Vermögen an. Dabei zieht sie sich völlig vom gesellschaftlichen Leben zurück, wird früh zu einer verhärmten Jungfer. Sie wird nicht nur geizig in Bezug auf ihr Geld, sondern geizte auch mit jeglicher Gefühlsregung. Nur einmal wird sie schwach und lässt sich vom Aussehen und Charme eines Mannes blenden. Doch nach dieser schrecklichen Enttäuschung fühlt sie sich umso mehr in ihrem Weltbild bestätigt, dass Großzügigkeit nur ausgenutzt wird. Diese Schwäche kann sie sich nicht verzeihen. Sie versteinert danach komplett.

    Der Autor hat mit seiner Rajka den großen Geizkragen der Weltliteratur eine Frau zur Seite gestellt. Allerdings zeichnet er sie oft mit eher männlichen Eigenschaften aus. Sie wirkt auch in ihrem Äußeren und ihrem Verhalten eher herb. Männliche Bewerber weist sie schon früh ab. Gefühle, wie Mitleid und Anteilnahme gönnt sie sich nicht. Sie gelten ihr als Hindernis bei ihrem Ziel, ihr Vermögen zu mehren. Wie bei vielen Geizigen dient ihr Reichtum nicht dazu, ihr Leben angenehmer zu machen. Im Gegenteil! Sie gönnt sich kaum das Lebensnotwendigste. „ Eigentlich war es kein Leben, sondern ein Sparen.“
    Was für ein sinnloses Leben ! Das führt uns der Autor vor Augen und nimmt es in den beiden vorangestellten Zitaten zweier serbischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts schon vorweg . „ Wenn du etwas tust, möge Gott dir verzeihen! Doch wenn dein Herz mit totem Wachs versiegelt ist, dann lastet ein Fluch auf dir.“ Und : „Verflucht ist und bleibt das Geld, das man nicht zum allgemeinen Nutzen des Volkes verwendet.“
    Der auktoriale Erzähler ist immer ganz dicht an seiner Figur, dringt tief in deren Psyche ein. Trotzdem bleibt sie einem fremd. Es ist kein Mensch, zu dem man ein emotionales Verhältnis aufbauen kann. Zu herzlos ist ihr Verhalten, gerade auch ihrer Mutter gegenüber.
    Resultierte ihr Geiz wirklich nur aus dem Versprechen ihrem Vater gegenüber? Das kann man anzweifeln. „ …du versteckst dich hinter dem Willen und Namen deines Vaters, aber es ist deine Wesensart, die dich antreibt.“ heißt es schon früh über sie im Roman. „ Mit oder ohne Gelöbnis wäre ihr Leben so verlaufen, wie es von Anfang an gewesen war.“ sagt sie sich am Ende.
    Ivo Andric begnügt sich aber nicht mit dem Psychogramm dieser Frau. Sein Roman umfasst die Jahre von 1903 bis 1935 und er zeichnet ein lebendiges Bild jener Zeit. Wir bekommen einen Eindruck von der Vorkriegszeit in Bosnien, erleben sehr direkt den Kriegsausbruch und die Verwerfungen danach in Sarajewo sowie die aufgeheizte Atmosphäre der Nachkriegszeit in Belgrad.
    Sprachlich ist der Roman ein Genuss. Sein ruhiger Erzählton gefiel mir; seine genauen Beobachtungen und sein Detailreichtum erschaffen Bilder voller Intensität und Atmosphäre.
    Auch kompositorisch konnte mich der Roman überzeugen. Er beginnt und endet mit dem Tod des Fräuleins. Doch erst am Schluss erschließt sich die tatsächliche Todesursache. So schließt sich der Kreis. Und schon mit den ersten Sätzen bekommen wir die Protagonistin charakterisiert, eine „ einsame, alte Jungfer“, ein „ Geizkragen und Sonderling“. Dazu ein paar Hintergrundinformationen, eine philosophische Betrachtung über die profane Handarbeit desStopfens ( „ Stopfen bedeutet, gegen den Verfall zu kämpfen, bedeutet, die Ewigkeit in ihrer Dauer zu unterstützen.“) , die letzten Stunden und danach geht es chronologisch weiter von der Kindheit bis zum Tod.

    Im Nachwort widerlegt Michael Martens das Gerücht, Ivo Andric sei selbst geizig gewesen, indem er Beispiele für dessen Großzügigkeit liefert. Zugleich ordnet er den vorliegenden Roman in der „ Bosnischen Trilogie“ ein.
    Das Cover ist ein echter Hingucker und hat mich sofort für das Buch eingenommen. Allerdings entspricht es überhaupt nicht dem Bild der Hauptfigur, das man sich während des Lesens macht.
    Dies war der erste Roman, den ich von Ivo Andric gelesen habe. Doch er macht Lust auf weitere Lektüre, auch weil es heißt, es sei der schwächste Roman der Trilogie.

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  1. Biografie einer Geizigen

    Der Roman beginnt mit dem Tod der Protagonistin im Jahre 1935. Sie stirbt einen einsamen Tod, niemand vermisst sie, und ihre Leiche wird eher zufällig entdeckt. Da kein Mord oder ein sonstiges Verbrechen vorliegt, verliert auch die Öffentlichkeit sofort das Interesse an ihrem Fall. Der Autor ist es nun, der ihre Geschichte der Vergessenheit entreißt.

    Rajka Radakovic, immer nur „das Fräulein“ genannt, entstammt einer wohlhabenden und angesehenen serbisch-bosnischen Kaufmannsfamilie in Sarajevo. Als junges Mädchen muss sie jedoch den Bankrott ihres Vaters miterleben. Schuld daran sei, so der Vater, die Tatsache, dass er sich immer großzügig und mildtätig verhalten habe. Um sie vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, gibt er ihr den Rat, alle Gefühle als schädliche Schwäche zu betrachten, sich „herzlos und selbstsüchtig“ zu verhalten und ihr Leben mit äußerster Sparsamkeit zu führen.

    Diesen Rat übernimmt Rajka mit dem Ziel, die Ehre des Vaters wiederherzustellen. Im Lauf der Jahre aber wird das Sparen zum Geiz und zum Selbstzweck, dem sie ihr gesamtes Leben unterordnet. Sie ist skrupellos, sie kennt keine Moral und kein Mitleid, sie hat kein Gewissen. Sie nutzt die unruhigen Verhältnisse der Vorkriegsjahre für ihre Spekulationen aus, und da sie auch während der Kriegsjahre als Kriegsgewinnlerin agiert, häuft sie ein beachtliches Vermögen an.

    Hier nutzt der Autor die Gelegenheit und entführt seine Leser in die Geschichte der Zeit. Die unruhigen krisenhaften Jahre vor Ausbruch des I. Weltkrieges werden aus der Sicht des Fräuleins beschrieben, wobei sie aber im Unterschied zu ihren Zeitgenossen keinerlei Patriotismus kennt und daher auch keiner Parteiung angehört; ihr Interesse gilt einzig ihrem Geld.
    Noch ausführlicher wird dem Leser die ungeheure Aufbruchstimmung nach dem I. Weltkrieg beschrieben und das brodelnde Leben in der Hauptstadt Belgrad nach der Loslösung aus dem Habsburgerreich. Alle diese äußeren Ereignisse perlen aber an dem Fräulein ab, sie interessieren sie lediglich als Möglichkeit zur Spekulation.

    Der Erzähler – ein altmodisch auktorialer Erzähler – begleitet das Fräulein ihr Leben lang. Wie mit einer Lupe leuchtet er in ihr Innenleben und legt es bloß: ihre Verbindung zum geliebten Vater, ihre Gefühllosigkeit der Mutter gegenüber, ihr hartes Regiment im Elternhaus, ihre Kälte und Herzlosigkeit gegenüber Bittstellern und auch ihr völliges Unverständnis, als sie wegen ihres Kriegsgewinnlertums öffentlich angegriffen wird und Sarajevo verlassen muss.

    Noch genauer schaut der Erzähler in die Seele des Fräuleins, als sie sich ein einziges Mal von Gefühlen leiten lässt und eine große Enttäuschung verkraften muss. Hier gelingen ihm sehr eindrückliche Bilder, v. a. bleibt das Bild der liebenden und mitleidenden Mutter in Erinnerung.

    Die Sprache des Romans passt zur altmodischen Erzählhaltung. Der Erzähler nimmt seinen Leser sehr fest an die Hand. Er führt ihn chronologisch durch die Geschichte des Fräuleins und stellt die wenigen handelnden Personen ausführlich vor. Gelegentlich hätte ich mir hier aber ein bisschen mehr Freiheit gewünscht, um die Eigenheiten der Personen selber entdecken zu können.

    Das Cover ist ästhetisch sehr ansprechend, aber lässt den Bezug zum Roman vermissen.

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  1. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not

    Sarajevo, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Als Rajkas Vater seiner 15-jährigen Tochter auf dem Sterbebett einprägt, sie solle im Leben sparen, sparen und sparen, ahnt er wohl selbst nicht, wie sehr er damit dem Leben des Mädchens eine unaufhaltsame Richtung vorgibt. Dabei wollte der Geschäftsmann bloß vermeiden, dass sie dieselben Fehler wie er begeht. Denn Obren Radakovic steht kurz vor seinem Tod vor dem finanziellen Ruin. Rajka nimmt sich die Worte des geliebten Vaters zu Herzen und spart künftig an allen Ecken und Enden. Während ihre finanziellen Mittel anwachsen, wird Rajka selbst immer einsamer, denn bei ihrer Geschäftstüchtigkeit kennt das Fräulein im wahrsten Sinne des Wortes keine Verwandten. Als die Stadt vom Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand geschockt wird und der Erste Weltkrieg vor der Tür steht, ändert sich auch für Rajka alles. Wem kann sie jetzt noch trauen, auf welches Pferd soll sie setzen, um ihren Reichtum nicht zu gefährden?

    Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andric (1892 - 1975) schrieb seinen Roman "Das Fräulein" während der deutschen Besetzung Belgrads 1944. Es ist nach "Wesire und Konsuln" und "Die Brücke über die Drina" der dritte Teil seiner sogenannten "Bosnischen Trilogie", dessen drei Werke unabhängig voneinander lesbar sind und die alle innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren entstanden. Seit 2011 bringt Zsolnay überarbeitete Fassungen der deutschen Übersetzungen heraus. Das jüngst erschienene "Das Fräulein" bildet auch in dieser Reihe den Abschluss.

    Andric erzählt das Leben dieser Rajka Radakovic von ihrem einsamen Tod in Belgrad 1935 ausgehend und blickt mit psychologisch scharfem Blick zurück, wie sich das "Fräulein", wie sie von allen genannt wird, zu diesem verhärmten Menschen entwickeln konnte. Das große Plus des Romans ist dabei die unendlich groß wirkende Fabulierkunst des jugoslawischen Schriftstellers. Schon mit den ersten Sätzen des Werks gelingt es ihm, die Leserschaft mitten hineinzuziehen in das Belgrader Geschehen. Äußerst kleinteilig und atmosphärisch spinnt Andric ein Netz aus poetischen und dennoch zugänglichen Sätzen, in dem man sich leicht verfängt und nicht mehr losgelassen wird. Ein Stil, der sich durch die knapp 300 Seiten zieht. Dabei beweist der Autor, dass es gar nicht so wahnsinnig viel Handlung benötigt, um einen sehr guten Roman zu schreiben. Denn oftmals folgt man dieser Rajka einfach nur durch die Straßen Sarajevos und später Belgrads, partizipiert an ihren Gedanken, an ihren Ängsten und trifft mit ihr Menschen, die es gut oder weniger gut mit ihr meinen.

    Die Figuren werden gerade zu Beginn so detailliert und bunt beschrieben, wie ich es zuletzt bei Maxim Billers "Sechs Koffer" kennenlernen durfte. Dabei werden ihre Eigenschaften oft bis ins Groteske gesteigert. Gerade Protagonistin Rajka erscheint wie die Karikatur eines Kapitalisten, eines Geizhalses. Der auktoriale Erzähler spottet manchmal ein wenig über das Fräulein, verlacht sie aber nicht und bleibt stets an ihrer Seite. Viele Schilderungen bekommen einen tragikomischen Unterton, denn blickt man auf das unselige Ende des Fräuleins, bleibt einem das Lachen schon mal im Halse stecken.

    Aus psychologischer Sicht besonders stark sind die Szenen, in denen in Sarajevo aufgrund des Attentats großer Aufruhr herrscht und man als Leser eine Mischung aus Euphorie und Bedrohung spürt. Sarajevo und seine Bewohner:innen öffnen sich in dieser Szene und sehen weltbewegenden Ereignissen entgegen, während sich Rajka verschließt, noch stärker abkapselt als zuvor und lediglich daran interessiert ist, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und auf Seiten der Gewinner stehen zu wollen. Andric setzt diesen apollinisch-dionysischen Kontrast hervorragend um. Im letzten Drittel gelingt ihm zudem ein überraschender Coup, indem er zwei Figuren einführt, die Rajkas bisherige Welt und ihre Anschauungen stark ins Schwanken bringen. Auch hier begibt er sich ganz tief in die Psyche seiner Titel-Antiheldin.

    Auf emotionaler Ebene erreicht einen das Buch hingegen eher selten. Lediglich im letzten Drittel bekommt man so etwas wie Mitleid mit Rajka, erkennt in ihr die menschlichen Seiten, die einem über weite Strecken des Romans durch ihr egozentrisches Verhalten verwehrt blieben. Dennoch ist der Roman wegen der Sprache und der Figuren ein insgesamt wirklich gelungener, der Lust darauf macht, noch mehr Werke von Ivo Andric kennenlernen zu wollen.

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