Das ferne Feuer: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Das ferne Feuer: Roman' von  Amy Waldman
4.65
4.7 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das ferne Feuer: Roman"

Die ehrgeizige Berkeley-Studentin Parvin Schams fühlt sich zwischen den liberalen Ideen ihrer charismatischen Professorin und den Erwartungen ihres konservativen afghanisch- amerikanischen Umfelds hin- und hergerissen. Da eröffnet ihr ein Buch eine ungeahnte Möglichkeit, die Theorie in die Praxis umzusetzen und ihre Bestimmung zu finden: Ein Arzt erzählt darin von seinem humanitären Engagement für afghanische Frauen. Parvin ist so begeistert, dass sie für seine Stiftung arbeiten und zugleich ihre Wurzeln erkunden will. Doch vor Ort entdeckt sie, dass die von ihm erbaute Geburtsklinik leer steht und die Bewohner des Dorfes sich seltsam abweisend verhalten. Nach und nach findet Parvin im Gespräch mit ihnen heraus, was es damit auf sich hat. Als Parvins Professorin vertrauliche E-Mails ungefragt veröffentlicht, eskaliert der schwelende Konflikt zwischen Einheimischen und ihren selbsternannten Wohltätern. Erneut muss Parvin entscheiden, wo sie steht. Was bestimmt, wer wir sind und wo wir hingehören? Wie formen die Medien unseren Blick auf die Welt? Und können wir unsere Vorurteile je ablegen? Wie in ihrem gefeierten Roman »Der amerikanische Architekt« stellt sich Amy Waldman den brennenden Fragen unserer Gegenwart in einer packenden und überraschenden Geschichte.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:496
Verlag:
EAN:9783895611681

Rezensionen zu "Das ferne Feuer: Roman"

  1. Kluger und komplexer Gesellschaftsroman

    Die junge Studentin Parvin, in Kabul geboren, reist in das Land ihrer Eltern, um sich auf die Spuren des Arztes Gideon Crane zu begeben. In seinem Buch "Mutter Afghanistan" hatte der Amerikaner eindringlich gezeigt, woran es der afghanischen Gesellschaft insbesondere in den Bergdörfern mangelt. Gefeiert von Medien, Kritikern und Fans wird das Buch mittlerweile sogar dem Militär empfohlen, um für Frieden in Afghanistan sorgen zu können. Und auch Parvin ist begeistert: Durch Cranes Buch findet sie endlich einen Anlass, Afghanistan aufsuchen zu können - und macht sich dabei nicht nur auf die Suche nach sich selbst...

    Amy Waldman hat mit "Das ferne Feuer" einen komplexen und ungemein klugen Gesellschaftsroman erschaffen, der sich nicht scheut, wichtige und eindringliche Fragen nach Schuld und Moral zu stellen. Der Schreibstil ist beeindruckend und einnehmend - vor allem in den atemberaubend poetischen Landschaftsbeschreibungen, aber auch in den klug geführten Dialogen der Figuren.

    Protagonistin Parvin Schams strotzt am Anfang - die Handlung spielt 2009 auf dem Höhepunkt der kriegerischen Unruhen in Afghanistan - förmlich vor Naivität, ich spürte ihre ungezügelte Motivation, ihre Begeisterung für Gideon Crane und dessen Bestseller. Doch nach und nach formen sich kleine Details zu einem größeren Bild des Zweifels. Hat Crane in seinem Buch übertrieben, ja, hat er es gar erfunden? Je tiefer Parvin in die Dorfgemeinschaft hineingerät, desto erwachsener wird sie, desto mehr findet sie langsam aber sicher ihre Identität.

    Denn auch um Identität und Herkunft dreht sich "Das ferne Feuer", das bei seiner Figurenzeichnung keinen einfachen Weg geht, denn weder gibt es eine Heldin namens Parvin, noch einen klassischen Bösewicht. Vielmehr schafft es der Roman, dass ich mir selbst ständig die Frage stellte, was richtig und was falsch ist. Was ist gerecht, was moralisch. Und auch wenn sowohl bei Waldman, als auch bei mir die Sympathien klar auf Seiten der - vor allem weiblichen - DorfbewohnerInnen lagen, so gibt es kein klassisches Schwarz-Weiß-Denken. Stattdessen konnte ich sehr viele Entscheidungen der Figuren nachvollziehen, wenn auch nicht immer gutheißen. Tragisch ist, dass letztlich alle Beteiligten eigentlich den Frieden wollen, ihre Bemühungen aber nicht ausreichen, um wahrlich schlimme Konsequenzen zu verhindern.

    Sehr gelungen fand ich zudem, "Mutter Afghanistan" in Auszügen selbst lesen und den Mythos Gideon Crane dekonstruieren zu können. Kursiv abgesetzt von der Haupthandlung liest Parvin den Frauen des Dorfes das für diese unbekannte Buch vor - eine elegante wie aufregende Lösung, um direkt an Parvins Seite zu sein und um die eigentliche Ausgangssituation verstehen zu können.

    Dass es mir am Ende etwas zu viel Action gab, konnte ich aufgrund der vorangegangenen Seiten verkraften, auch wenn ich es dadurch tatsächlich nicht ganz so stark fand wie den Rest des Romans.

    Insgesamt ist "Das ferne Feuer" aber ein eindringliches und stets nachvollziehbares Plädoyer für Menschlichkeit und Moral - und ein großartiges Buch.

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  1. Auf welcher Seite stehst du?

    Dr. Gideon Crane hat einen Bestseller geschrieben. „Mutter Afghanistan“ heißt sein Werk. Es behandelt nicht nur seine Lebensgeschichte, sondern vor allem seinen unermüdlichen Einsatz für die medizinische Versorgung der Frauen in Afghanistan. Einer Frau, die bei einer schwierigen Geburt verstarb, widmete er eine Klinik im afghanischen Nirgendwo – Fereschtas Klinik.

    Parvin Schams war ein Jahr alt, als sie mit ihren Eltern aus Afghanistan in die USA emigrierte. Als die engagierte und idealistische Studentin der Medizinanthropologie auf Dr. Gideons Buch stößt, besinnt sie sich ihrer Wurzeln und will vor Ort in Fereschtas Dorf für Cranes Stiftung arbeiten. Doch bald erkennt Parvin, dass die Realität ganz anders aussieht. Die von Spenden errichtete Klinik steht leer und die von Dr. Gideon erzählten Geschichten entsprechen nicht der Wahrheit.

    Die amerikanische Schriftstellerin Amy Waldman zeigt in ihrem Roman „Das ferne Feuer“ Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

    Die Protagonistin Parvin ist begeisterungsfähig, idealistisch bis zur Gutgläubigkeit. Sie will etwas verändern und hinterfragt nicht, was ihr von Dr. Gideon in dessen Buch vorgesetzt wurde. Das Leben in dem afghanischen Dorf ist geprägt von Armut und einer archaisch patriarchalen Struktur. Die Not und medizinische Unterversorgung sind evident. Die Klinik jedoch, Aushängeschild humanitärer Hilfe und Rechtfertigung für militärische Intervention, ist ein Potemkin’sches Dorf.

    „Der Krieg war gekommen, um zu bleiben.“

    Mit dem Interesse einer wohlmeinenden Gesellschaft im Überfluss, manipuliert von Medien und Propagandaauftritten, wächst auch die Militärpräsenz im Dorf und damit der Widerstand Aufständischer.

    Parvin nimmt in der streng getrennten Welt von Frauen und Männern, aber auch zwischen der afghanischen Dorfbevölkerung und dem amerikanischen Militär einen Sonderrolle ein:

    „So wie sie einem „dritten Geschlecht“ angehöre – den üblichen Regeln hier nicht unterworfen - gehöre sie auch einer „dritten Nation“ an, weder Amerikanerin noch Afghanin.“

    Auf welcher Seite sie steht ist nicht leicht für Parvin zu entscheiden. Denn diese Geschichte hat viele Seiten. Amy Waldman zeigt uns auf großartige Weise die vielfältigen moralischen Dilemmata, das Aufeinanderprallen von Ideologien, welche Macht geschickte Manipulatoren haben. Auf Dari, der afghanischen Sprache gibt es nur ein Wort für erzählen und lügen. Das Buch im Buch und dessen Autor wird demontiert und damit auch die US-amerikanische Militärpolitik.

    Das ferne Feuer bringt uns ein Land näher, das jahrzehntelang in der Maschinerie des Krieges aufgerieben wurde. Es birgt enormes Konfliktpotenzial und wird mir noch lange nachwirken.

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  1. 4
    16. Feb 2021 

    Erwachsen werden in Afghanistan

    Inspiriert von einem Bestseller in den USA, in dem ein Arzt schildert, wie er Frauen in Afghanistan hilft, reist die junge Berkeley-Studentin Parvin in das Heimatland ihrer Eltern, um diese Arbeit zu unterstützen. Doch die Realität des kleinen Dorfes über das geschrieben wurde, ist weit von dem entfernt, was Parvin sich vorgestellt hat. Die von Spenden erbaute Klinik steht leer, da kein Personal bezahlt wird. Und viele der im Buch erzählten Geschichten stehen im Widerspruch zu dem, was die im Dorf Lebenden berichten.

    Parvin ist eine weitgehend typische Vertreterin ihrer Generation: voller Idealismus und Begeisterungsfähigkeit, wenn es darum geht, Gutes in der Welt zu tun. Ohne Zweifel an ihren Vorbildern, Professorin Banerjee und dem Arzt Crane, die sie zu dieser Reise ermutigen, reist sie nach Afghanistan um dort mit einer Welt konfrontiert zu werden, die sie sich in den USA nicht im Entferntesten hat vorstellen können. Die Armut der Menschen; die bestehenden und von Allen akzeptierten Hierarchien im Dorf (insbesondere die Stellung der Frauen in der Gemeinschaft); der Glaube an die Nichtbeeinflussbarkeit des Schicksals – und die ganz offenbar nicht so positiven Auswirkungen des Aufenthaltes von Crane.

    Amy Waldman, die Afghanistan durch ihre Tätigkeit als Leiterin der Büros der New York Times in Neu-Delhi kennt, weiß um die Zwiespältigkeit vieler Hilfsangebote für die Armen, bei denen die tatsächlichen Bedürfnisse der Betroffenen meist keine Rolle spielen. Häufig dient die Unterstützung nur dazu, die Spender in gutem Licht dastehen zu lassen und ist viel zu oft nicht von langer Dauer – siehe leerstehende Schulen und Kliniken, für die es kein Personal gibt. Die Autorin zeigt überzeugend, wie in Parvin die Zweifel wachsen: an dem Arzt, ihrer Professorin, überhaupt dem Engagement ihres Landes, den USA. Sie stellt sich immer mehr Fragen, die sich auch den Lesenden stellen: Wie manipulierbar sind wir? Was ist wirkliche Hilfe? Was tut den Menschen gut?

    Auch wenn die Figur Parvins nicht immer überzeugend dargestellt wird (so blauäugig ist wohl selbst eine US-Amerikanerin nicht, vor allem wenn sie Studentin in Berkeley ist ), wirkt die Geschichte authentisch und ist insbesondere wegen der Fragestellungen, die sie aufwirft, zu empfehlen.

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