Das Buch der vergessenen Artisten

Buchseite und Rezensionen zu 'Das Buch der vergessenen Artisten' von Vera Buck
4.85
4.9 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Das Buch der vergessenen Artisten"

Deutschland, 1902. Mathis ist der dreizehnte Sohn eines Bohnenbauern, sein Leben zwischen Äckern und Feldern scheint vorherbestimmt. Erst als der Jahrmarkt im Dorf Einzug hält, bekommt Mathis eine Ahnung von der großen, weiten Welt jenseits der Hügel, die den Ort umgeben. Eine Welt, in der elektrische Wunder, Kuriositäten und schillernde Showbühnen auf ihn warten und in der auch er einen Platz haben will. Zusammen mit den Schaustellern begibt sich Mathis auf eine außergewöhnliche Reise.

Nach über dreißig Jahren als Röntgenkünstler lebt Mathis mit seiner Partnerin, der Kraftfrau Meta, in einer Wohnwagensiedlung am Rande Berlins. Es sind düstere Zeiten für die Artisten: Auftrittsverbote werden verhängt, Bühnen dichtgemacht. Doch in geheimen Clubs und Künstlertreffs lebt die Vergangenheit weiter. Genau wie in dem Buch, an dem Mathis schreibt - einem Buch, das Geheimnisse birgt und unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten darf ...

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:752
Verlag: Limes Verlag
EAN:9783809026792

Rezensionen zu "Das Buch der vergessenen Artisten"

  1. Ein Stück wertvoller Erinnerungen

    Ein Stück wertvoller Erinnerungen

    Was macht man, wenn man als dreizehnter Sohn eines Bohnenbauern geboren wird, und eine Bohnenallergie hat? Man geht zum Jahrmarkt!
    So hat Mathis Bohnsack es zumindest gehandhabt.
    Mathis ist immer schon derjenige in der Familie gewesen, der viel einstecken musste. Er hat ein krankes Bein das ihn einschränkt, sein Verstand jedoch ist herausragend. Doch in dem kleinen Dörfchen in dem er lebt, ist dies nicht von großer Bedeutung. Als der Jahrmarkt Einzug hält, ist Mathis fasziniert vom Röntgenapparat. Eine Welt öffnet sich ihm, die er fortan nicht mehr missen möchte. Er begibt sich also mit den Schaustellern auf die Reise. Meister Bo, der den Röntgenapparat betreibt, stellt Mathis als seinen Assistenten ein. Der griesgrämige Röntgenkünstler ist nicht sehr einfühlsam, doch Mathis hat seine Berufung gefunden, er möchte nichts anders mehr tun.

    Später, nach dem Tod Meister Bos, lernt er die Kraftfrau Meta kennen und lieben. Er wohnt mit ihr und ihrem zurückgebliebenen Bruder Ernsti in einer Wohnwagensiedlung. Doch die Zeiten sind hart, vieles wird verboten in Deutschland zu dieser Zeit. Meta und Ernsti sind Juden, sie müssen fürchten weggesperrt zu werden.
    Mathis kann dies alles nicht nachvollziehen. Er möchte den Artisten eine Stimme geben, er möchte, dass ihr Tun nicht in Vergessenheit gerät. Er schreibt an einem Buch, in dem er die Lebensgeschichte der Schausteller schreibt. Er muss dabei sehr vorsichtig sein, das Buch darf nicht versehentlich in die falschen Hände geraten. Außerdem plagt Mathis die Sorge seine Hand zu verlieren. Die Röntgenstrahlen schädigen ihn seit vielen Jahren. Kaum jemand wusste von der Gefahr, die Mathis wahrscheinlich aufgrund der Faszination sogar in Kauf genommen hätte.
    Als Ernsti und einige andere Schausteller abgeholt werden, beginnt für Mathis und Meta ein wahre Odysee um in wieder zu finden.

    Vera Buck hat einen sehr bewegenden und fesselnden Schreibstil. Sie bringt viele bekannte Ikonen in die Handlung mit ein. Die Idee, die Geschichte der vergessenen Artisten in einem Roman einzufangen ist mehr als gelungen. Ein Tribut an all die genialen und talentierten Sänger, Schauspieler und der anderen Künstler, die im nationalsozialistischen Deutschland ausgegrenzt und an ihren Darbietungen gehindert wurden.
    Am Beispiel der Geschichte von Mathis und Meta, die der Leser aus verschiedenen Zeiten kennenlernt, bekommt man einen guten Einblick in die Wirren und Zustände der damaligen Zeit. Die Ängste und die Ungerechtigkeit wird klar beschrieben, die Hilflosigkeit der Einzelnen ebenso.
    Der Roman macht aber auch Mut, und zeigt, dass es trotz der schwierigen Lage noch Menschen gab, die sich gegenseitig geholfen haben. Mehr als eine brenzlige Situation in die Mathis und Meta geraten sind, wurde durch die Unterstützung netter Menschen zum positiven gewendet.
    Der Roman hat mich sehr überrascht. Erwartet habe ich eine spannende Geschichte, die habe ich auch bekommen! Mit so einem Tiefgang habe ich allerdings nicht gerechnet. Vera Buck konnte mich mit diesem Werk voll und ganz überzeugen!

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  1. Hereinspatziert und nicht vergessen!

    Es gibt viele gute Bücher gegen das Vergessen der Greultaten im 3. Reich. Umso erstaunlicher ist es, dass Vera Buck eine Nische entdeckt und besetzt hat, über die noch nichts geschrieben wurde: Das Schicksal der Artisten und Künstler, die der Gleichschaltung durch die Nazis so rigoros zum Opfer gefallen sind, dass sie als vergessene Generation angesehen werden.

    Erzählt wird die Geschichte von Mathis Bohnsack, seines Zeichens Schausteller, und seiner Partnerin Meta, einer Kraftfrau. Die beiden sind ein ungewöhnliches Paar. Er schmal und schmächtig, eher introvertiert und intelligent; sie kraftvoll und muskulös und von eher praktischer Natur. 1935 leben sie in einer Wohnwagensiedlung am Rande Berlins - gemeinsam mit Metas geistig zurückgebliebenen Bruder Ernsti. Die Bewohner der Kolonie - allesamt Artisten und Schausteller - haben Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Insbesondere die öffentliche Zurschaustellung körperlicher Abnormitäten passt nicht ins Kulturbild der Nazies und es gibt daher kaum noch Engagements. Auch die Wohnwagensiedlung selbst missfällt der Obrigkeit und einzelne Einwohner der Wohnwagensiedlung wurden bereits verhaftet oder weggeschleppt und sind nie wieder aufgetaucht. Mathis fasst deshalb den Entschluss, ein Buch zu schreiben, damit die Artisten seiner Generation nicht vergessen werden. Obwohl Meta diese Vorhaben missfällt, trifft Mathis sich mit den unterschiedlichste Künstlerpersönlichkeiten und schreibt ihre Geschichten auf. Das dabei entstehende Buch darf auf keinen Fall in die Hände der Nazis fallen. Dann wird die kleine Kolonie über Nacht von der Polizei geräumt und die meisten Bewohner weggeschleppt - auch Metas Bruder Ernsti. Mathis und Meta müssen untertauchen und begeben sich auf die gefährliche Suche nach ihm.

    Parallel erfährt der Leser, wie Mathis Schausteller wurde und Meta kennengelernt hat. Abwechselnd zum Handlungsstrang in den Jahren 1935 ff. erfährt der Leser, dass Mathis als 13. Sohn eines Bohnenbauers in einem kleinen Dorf, das bezeichnenderweise Langweiler heißt, aufgewachsen ist. Aufgrund einer Erkrankung an der Kinderlähmung hat er ein lahmes Bein und ist außerdem gegen Bohnen allergisch. Daher hat er einen schweren Stand bei seinem Vater und wird häufig von seinen Brüdern verprügelt. Als Mathis 15 ist, kommt ein Zirkus in das Dorf und Mathis „verliebt“ sich in den Durchleuchtungsapparat. Er reißt von zu Hause aus und schließt sich dem Eigentümer des Apparats, Meister Bo, als Assistent an. Mit Meister Bo tourt er durch die Lande und lernt alle möglichen Arten von Schaustellern und Kleinkünstlern kennen. Doch die damals unbekannten Gefahren der Röntgenstrahlung des Durchleuchtungsapparats fordern ihren Tribut. Erst stirbt eine Ziege, die Mathis regelmäßig für die Zuschauer durchleuchtet, dann Meister Bo und auch Mathis wird einige seiner Finger verlieren. Mathis erkennt die Ursache nicht und macht weiter. Sein Gewerbe führt in zum Oktoberfest in München und zum Panoptikum in Zürich. Dort lernt er Meta kennen und beide gehen gemeinsam nach Paris und später nach Wien.

    Mathis und Meta begegnen auf ihrer Reise skurilen Künstlern sowie (später) berühmten Persönlichkeiten ihrer Zeit. Dabei verwebt die Autorin geschickt fiktive Begebenheiten und Personen mit realen Geschichten und Persönlichkeiten. Eine Liste der realen Personen ist am Ende des Buches aufgeführt. Neben der Darstellung der bunten, oft lauten Welt der Schausteller und Artisten, bringt die Autorin aber auch leise Töne zum klingen. Die Geschichten der Schausteller, die ihre körperlichen Abnormalitäten gegen Geld zur Schau stellen, stimmen nachdenklich. Ihre Verfolgung durch die Nazis ist ein Aspekt, dem bislang in der Literatur wenig Beachtung geschenkt worden ist.

    Das Buch ist ein echter Schmöker, doch niemals banal. Der Roman ist prall und bunt auf der einen Seite, mit ernsthaftem Hintergrund auf der anderen Seite, und bekommt daher eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

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  1. 4
    09. Jan 2019 

    Gegen das Vergessen

    Ein Buch mit einem ganz expliziten Anspruch „Gegen das Vergessen“ konnte ich über die Weihnachtstage im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin lesen: Vera Bucks „Das Buch der vergessenen Artisten“. Dank an den LIMES Verlag und die Organisatoren von Whatchareadin.
    Worum geht es?:
    Mathis Bohnsack wächst ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter den für ihn wohl annähernd unglücklichsten Umständen überhaupt auf: Als jüngster und zudem körperlich verkrüppelter Sohn eines Bohnenbauern im Ort mit dem anheimelnden Namen Langweiler ist es für ihn quasi vorherbestimmt, in die Fußstapfen seines Vaters einzutreten und neben seinen ihn ständig drangsalierenden Brüdern ein kleines Stückchen Erde mit Bohnen zu bepflanzen und diese zu ernten. Dass er angesichts dieser Zukunft nur Unglück empfinden kann, ist dabei nicht allein seiner Allergie gegen Bohnen geschuldet.
    Da verhilft ihm ein durchziehender Jahrmarkt zu einem Lichtblick in dieser grauen Langweiler-Welt. Er verliebt sich. Und zwar nicht in eine Frau, sondern in eine Maschine. Diese Maschine, die wir heute als nicht wegzudenkendes Diagnoseinstrument aus der Medizin kennen, ist zu dieser Zeit dafür geeignet, den Menschen eine Welt der Wunder und Absonderlichkeiten aufzuzeigen. Die Rede ist von einem Röntgengerät, ein Gerät, das Lebewesen für das Publikum zu Skeletten werden lässt und ihm ganz neue, ganz absonderliche Einblicke ermöglicht. Und so hat diese Maschine mit ihrem Herrn und Meister Bo über Jahre Erfolg im Umkreis von anderen zur Schau gestellten Sonderbarkeiten, wie Zwergen, Riesen oder auch Haut- und Haarmenschen. Von einer Gefährdung, die von diesem Gerät und dem Umgang mit ihm ausgehen könnte, ist dabei keine Spur eines Bewusstseins. Mathis schafft es, Meister Bo dazu zu überreden, ihn trotz seines jugendlichen Alters mitziehen zu lassen, um als sein Assistent bei der Demonstration der Maschine Handlangerdienste zu verrichten.
    Und so taucht Mathis ein in die Welt der Kleinkünstler und Artisten, kann Langweiler entfliehen und Stationen in der großen, weiten Welt machen. Bei einer der Stationen verliebt er sich erneut, und diesmal ist es eine Frau, nämlich die Kraftfrau Meta, die in Hosen gekleidet (das allein ist eine Provokation ohne gleichen) in Theatern, Panoptikums und Zirkussen Männer aufs Parkett legt und das „starke Geschlecht“ ganz schön alt und klein aussehen lässt. Das schafft ihr nicht nur Freunde, aber in jedem Fall auch so viel Aufmerksamkeit, dass sie in der Welt der Artisten mit ihren Kraftakten eine feste Größe sein kann.
    Zwischen Meta und Mathis beginnt eine lange Freundschaft, die bei aller gelebten Nähe nur sehr sperrig und langsam den Charakter einer Liebesgeschichte annehmen kann. Großes Hindernis auf diesem sperrigen Weg ist vor allem Metas Bruder Ernsti, ein geistig zurückgebliebener, zu gewalttätigem Verhalten neigender Mensch, der permanent zwischen ihnen steht oder auch liegt und eine wirkliche Beziehung nicht zulassen will.
    In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bröckelt die einigermaßen erfolgreiche Phase dieses merkwürdigen Gespanns. Überhaupt ist ein Niedergang der Welt der Artisten und Kleinkünstler eingezogen, denn diese lässt sich so gar nicht in Einklang bringen mit der angestrebten Welt der Nationalsozialisten, die angefüllt sein soll mit gebärfreudigen, unterwürfigen Frauen und starken, blonden Männern. Die Arbeitsmöglichkeiten der Artisten werden immer seltener. Und die meisten von ihnen müssen irgendwann erkennen, dass sie sich nicht gerade in einer Übergangszeit ohne Engagement befinden, sondern es ganz einfach keinerlei Arbeitsmöglichkeiten mehr für sie gibt. Und noch schlimmer: Sie werden nicht nur nicht benötigt in der neuen Welt des Dritten Reiches, sie stören diese ganz erheblich. Und so verschwinden langsam und leise immer mehr von ihnen nach abendlichen Besuchen der Sicherheitsorgane und tauchen auch nicht wieder auf.
    Mathis lässt diese Situation keine Ruhe und er beschließt, dagegen anzuschreiben und die Geschichten der Artisten festzuhalten, bevor diese aus dem kollektiven Gedächtnis ganz verschwunden sein werden. Das Sammeln und Aufschreiben von Informationen über die Artisten wird seine Mission, für die nicht nur Meta vollkommen das Verständnis fehlt und die immer im Verborgenen vor den Staatsmächtigen stattfinden muss.
    Meta lebt dabei den immerwährenden Traum der Ausreise in die USA. Mehrmals scheint eine solche Rettung über den großen Teich möglich zu werden, doch immer wieder zerschlägt sich dieser Traum und sie wird in die grausame Wirklichkeit des Dritten Reiches zurückgeholt. In dieser wird schließlich Ernsti abgeholt und in eine Anstalt für geistig Behinderte eingeliefert. Eine rasante Befreiungsaktion beginnt und gibt dem Buch bis auf die letzte der ca. 750 Seiten Fahrt und Spannung.
    Fazit:
    Very Buck erzählt in diesem Buch eine erstaunlicherweise bisher noch unerzählte Geschichte. Die Gleichschaltungsbemühungen der Nazis in allen Bereichen des deutschen Lebens haben natürlich auch nicht an der Tür zur Welt der Artisten und Kleinkünstler halt gemacht. Was nicht passt, wurde passend gemacht oder musste eben verschwinden.
    Vera Buck gebührt ein großer Applaus, dass sie diese Lücke des Erzählten geschlossen hat und nun diese Welt vor dem Vergessenwerden bewahren konnte. Mit dem gleichen Enthusiasmus wie auch Mathis widmet sie sich diesem Thema und stürzt sich mit aller Kraft und großem Elan in dessen Bearbeitung. Die enorme Recherchearbeit ist in den Roman eingeflossen, was mir hin und wieder sogar etwas zu viel wurde. Jedes Thema, das ihr bei dieser Recherche aufgestoßen ist, scheint sie in den Roman, wenn auch nur kurz, einfließen zu lassen. Da werden große Themen dann hin und wieder so en passant und nebenbei eingefügt (die nährstoffbefreite Nahrung für Insassen der Anstalten für geistig Behinderte, die trotz regelmäßiger Nahrungsaufnahme zu einem langsamen Hungertod führt; das Schicksal einer jüdischen Hochspringerin, die trotz weltmeisterlicher Leistungen nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen darf; die Autarkiebestrebungen Hitlers auch in Bereich der Nahrungsmittel, die zu der Notwendigkeit führen, die Deutschen in ihren Essgewohnheiten entscheidend umzuerziehen). Das wirkte auf mich dann manchmal etwas fahrig und nachlässig. Weniger wäre an manchen Stellen mehr gewesen.
    Dennoch bleibt mein Fazit unbedingt positiv. Ein Buch mit viel Handlung und mit einem guten Eintauchen in Zeit und Ort der Handlung. So ein wenig fehlten mir in dem Roman dann aber die Ecken und Kanten in der Geschichte, die zweideutigeren Charakterte, die nicht so offensichtlich auf der Skala Gut oder Böse einzuordnen sind.
    Ich vergebe für dieses Buch deshalb einen großen Applaus und 4 von 5 Sternen.

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  1. Die Welt der Künstler und Artisten in schweren Zeiten

    Der Roman wird abwechselnd auf zwei Zeitebenen erzählt. Er beginnt mit dem Prolog in Berlin 1935: „Wie eine Herde großer dösender Tiere standen die Wohnwagen auf der Hügelkuppe. Einige grüppchenweise, andere auf der Wiese verstreut. Ein disziplinloses Herumlungern, ein Vorort ohne Ordnung.“

    In einem dieser Wohnwagen leben Mathis, seine Partnerin Meta und deren geistig behinderter Bruder Ernsti. Mathis ist Durchleuchtungskünstler, das heißt, er hat eine Röntgenmaschine, mit der er früher auf Jahrmärkten Menschen, Tiere und Dinge durchleuchtete, um für Aufsehen zu sorgen und sein täglich Brot zu verdienen. Die überdurchschnittlich große und starke Meta arbeitet als Kraftfrau und mitunter im Varieté. Die guten Zeiten für Schausteller sind aber durch die neuen nationalsozialistischen Gesetze vorbei. Man duldet keine Jahrmärkte mehr, sie passen nicht in die neue Ordnung. Darüber hinaus stellen auch die strengen Rassenvorschriften Hürden dar, befinden sich traditionsgemäß viele Zigeuner und Ausländer unter den Schaustellern. Der kleinen Kolonie wird das Leben schwer gemacht, einige Bewohner wurden schon abgeholt und verschleppt, so dass niemand weiß, wo sie sich befinden. In dieser bedrückenden Atmosphäre möchte der zur Tatenlosigkeit verdammte Mathis ein Buch über alle Artisten schreiben, die ihm im Laufe seines Lebens begegnet sind und deren Geschichten er für die Nachwelt festhalten möchte, um sie dem Vergessen zu entreißen. Die Halbjüdin Meta hält nichts von dieser Idee, hält sie für Zeitverschwendung…

    Mit dem ersten Kapitel beginnt die zweite Zeitebene. Sie führt uns 1902 in einen kleinen westfälischen Ort mit dem bezeichnenden Namen Langweiler: „Die Landschaft war gebrannter Zucker. Braun kandierte Felder, so weit das Auge reichte, ein gelbgoldener Wald und darüber die alles röstende Sonne.“ Der 15-jährige Mathis lebt dort zusammen mit den Eltern und 12 Brüdern. Er selbst hat in der Familie einen schweren Stand: Nicht nur, dass er aufgrund einer früheren Kinderlähmung ein steifes Bein hat, er ist auch schwach und hat eine Bohnenallergie, die für den Sohn eines Bohnenbauern fast einer Katastrophe gleichkommt. Mathis wird vom Vater nicht anerkannt und von den Brüdern regelmäßig verprügelt. Er ist auch im Ort ein Außenseiter. Ein Lichtblick erscheint in Form eines Jahrmarktes, der aus unerfindlichen Gründen seine Zelte im kleinen Langweiler aufschlägt. Da Mathis für die Feldarbeit ungeeignet ist, kann er sich dieser Freude hingeben und verliebt sich in den Durchleuchtungsapparat von Meister Bo. Nachdem er vom Freund enttäuscht und von den Brüdern erneut gedemütigt wurde, beschließt Mathis sein zu Hause zu verlassen und als Assistent bei Meister Bo übers Land zu ziehen.

    Auf beiden Zeitebenen wird der Leser auf sehr authentische Weise in Bann gezogen und bekommt höchst eindrucksvolle historische Sittenbilder geliefert. Es wird deutlich, wie die Nazis mehr und mehr das soziale Leben bestimmen, wie die Politik, die Medien, die Gesellschaft gleichgeschaltet werden, wie der Mob sich gegen unbescholtene jüdische Bürger erheben kann, ohne Angst vor Strafe haben zu müssen... Das hat die Autorin wunderbar realistisch anhand vieler in die Handlung eingebundener Geschichten zusammen getragen. Dabei erzählt sie einfach, wie es war – ohne den erhobenen moralischen Zeigefinger. Das wirkt beim Lesen sehr eindringlich und nah.

    Auf ihrer Reise mit der Durchleuchtungsmaschine übers Land, nach Berlin, Paris und Zürich lernen Mathis und Meta viele Menschen kennen. Einige von ihnen sind historisch belegt. Die Autorin muss akribisch recherchiert haben, um diese Personen wieder auferstehen zu lassen. Wir lernen den NS-Staatskünstler und Bildhauer Josef Thorak kennen, der unbedingt eine Statue der Kraftfrau anfertigen möchte. Claire Waldoff, Feministin und Lesben-Ikone nimmt unseren Protagonisten im Berlin der 30er Jahre freundlich auf. Dr. Paul Nitsche ist Direktor einer Heilanstalt für geistig Behinderte, mit ihm bekommen wir einen Einblick in fragwürdige Behandlungsmethoden. Wir treffen auf zahlreiche bekannte und unbekannte Künstler der gesamten drei Dekaden und erfahren etwas über deren Hoffnungen und Probleme. Sogar der junge Student Adolf Hitler taucht auf und bekommt ein Zimmer neben unserem Paar…

    Die Welt des Jahrmarktes im angehenden 20. Jahrhundert war mir ziemlich unbekannt. So fand ich es spannend zu erfahren, dass die damalige Bevölkerung regelrecht nach Kuriositäten, besonderen Menschen, fremden Kulturen, Maschinen und Fähigkeiten gierte. Gemessen mit unserer heutigen Ethik und Moral sind die öffentlichen Vorführungen die reinste Diskriminierung gewesen, die mit Menschenrechten wenig zu tun hatten. Vera Buck berichtet aber nie einseitig, sie beleuchtet auch die andere Seite einer Medaille, in diesem Beispiel nämlich auch, dass der Jahrmarkt für Kleinwüchsige, Missgestaltete und Gehandicapte nicht die schlechteste Methode war, um ein selbstständiges Leben zu führen. Pervers hingegen waren die Ausstellungen vermeintlicher Wilder aus den Kolonien, denen es an Nahrung mangelte und die Tieren gleichgestellt wurden.

    Befremdlich auch das Frauenbild aus jenen Tagen: Ein Mädchen in Hosen war „eine revolutionäre Kundgebung“, Sport führte zu Unfruchtbarkeit, eigenes Denken war höchst unerwünscht und ein Mann, der kochte, eine höchst beängstigende Erscheinung. Buck spielt mit den Klischees. Die damalige Weltanschauung mutet uns heute hinterwäldlerisch und unaufgeklärt an. Dennoch entspricht sie vom Grundsatz her wohl der Wahrheit. Unterschiedliche Positionen gibt Buck gerne mit spritzigen, auch humorigen Dialogen wieder. Sie dürfen dann auch etwas überzeichnet sein.

    In diesen spannenden historischen Kontext bettet Buck ihre Figuren ein: Den gutmütigen Mathis, der seiner Meta bedingungslos zugetan ist, dessen über Jahrzehnte strahlenbelasteter Körper aber mehr und mehr schwächelt. Und Meta, die in Liebesdingen eher unterkühlt scheint, die sich aber um ihren geistig zurückgebliebenen Bruder Ernsti aufopferungsvoll kümmert; Meta, die sich als Kraftfrau immer neuen gefährlicheren Herausforderungen stellt, der Selbstständigkeit über (fast) alles geht.

    Zum Ende hin nimmt der Roman immer mehr Fahrt auf, wird regelrecht zum spannungsgeladenen Pageturner – auch dieses Genre kann Buck gekonnt bedienen.

    Ich bin begeistert von diesem Roman!

    Vera Buck hat facettenreiche Protagonisten in eine Zeit des Wandels und der Willkür gestellt. Dort müssen sie sich behaupten. Ich habe ihre Geschichte mit Neugier verfolgt, der Wechsel der Zeitebenen fiel nicht schwer. Es ist jedoch nicht nur das Historische, sondern auch die bunte, unkonventionelle Welt der Jahrmärkte und Schausteller, die diesem Buch einen weiteren Reiz verleiht. In ihrem Nachwort bezeichnet die Autorin „Das Buch der vergessenen Artisten“ als eine Mischung aus gefundenen und erfundenen Geschichten, aus akribischer Recherche und augenzwinkernder Flunkerei…
    Diese Mischung ist ihr hervorragend gelungen. Gerne werde ich noch mehr von dieser bemerkenswerten jungen Autorin lesen.

    Unbedingte Leseempfehlung!

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  1. 5
    05. Jan 2019 

    Das Buch der vergessenen Artisten

    Der Titel "Das Buch der vergessenen Artisten" ist Programm. Denn in diesem 750 Seiten starken Schmöker von Vera Buck geht es um vergessene Artisten und Künstler. Diese Menschen waren selbst zu Lebzeiten nur bei einigen wenigen bekannt, was jedoch ihre Besonderheiten und Talente nicht herabmindern darf. Vera Buck führt uns in ihrem Roman in das Schausteller-Milieu zur Zeit des Nationalsozialismus. In einem Interview betont sie, wieviel Recherche-Arbeit sie in dieses Buch investiert hat. Denn tatsächlich sind die Menschen, über die sie schreibt, in Vergessenheit geraten. Selbst in Zeiten von www und Wikipedia musste die Autorin ordentlich kramen, um an die wenigen überlieferten Informationen über diese Menschen zu gelangen. Aber der Aufwand hat sich gelohnt. "Das Buch der vergessenen Artisten" gehört für mich zu einem meiner Lesehighlights in 2018.

    Der Roman beginnt im Leben von Mathis Bohnensack, Schausteller, ehemals Virtuose an der Durchleuchtungsmaschine. Im Jahr 1935 ist er 48 Jahre alt. Er, seine Lebensgefährtin Meta, die als Kraftfrau auftritt sowie Metas geistig zurückgebliebener Bruder Ernsti, kampieren zusammen mit anderen Schaustellern vor den Toren Berlins.
    "Meta hob verschiedene schwere Kugeln über den Kopf und hielt einen erwachsenen Mann mit ausgestreckten Armen auf einem Stuhl hoch. Mit einer Kette im Genick konnte sie einen 200 Pfund schweren Stein anheben. Sie zerbrach Nägel und Eisenstäbe, als wären es trockene Stöckchen."
    Das Leben eines Schaustellers zur Zeit der Nationalsozialisten ist gefährlich. Die Gefahren entstehen jedoch nicht durch die teilweise aberwitzigen Kunststücke, die die Schausteller beherrschen. Die Gefahren, die von den politischen Machthabern und deren Schergen ausgehen, sind weitaus größer. Noch sind viele von den Künstlern geduldet, tragen doch viele durch ihre Engagements in den Clubs von Berlin zu einer schillernden und dekadenten Künstlerszene bei, in der sich auch die Nazis gerne tummeln. Doch mit Zunahme der Macht der Nationalsozialisten werden die Gefahren für die Schausteller, die selten dem idealen Menschenbild der Machthaber entsprechen, größer. Nach und nach "verschwinden" die Weggefährten von Meta und Mathis. Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Mathis sieht sich in der moralischen Pflicht, gegen das Vergessen dieser besonderen Menschen vorzugehen. Er möchte ein Buch der vergessenen Artisten schreiben, welches die Lebensgeschichten seiner Schaustellerkollegen dokumentiert.

    "'Es ist nicht fertig, nein. Vielleicht hätte ich es nie fertig bekommen. Wann immer ich denke, dass ich einen Punkt setzen könnte, kommt mir eine weitere Lebensgeschichte in den Sinn, die es wert wäre, aufgeschrieben zu werden.'"

    Mathis ist im Alter von 15 Jahren zum Rummel gekommen. Dies erfährt man in einem 2. Handlungsfaden, der Mathis' Werdegang bei den Schaustellern schildert. Er ist einer von unzähligen Söhnen eines Bohnenbauerns. Mit einem verkrüppelten Bein, als Ergebnis einer Kinderlähmung, ist Mathis leider der schwächste Sohn in der Familie und damit auch der Unnützeste. Daher wird er von keinem vermisst, als er sich still und heimlich den Schaustellern anschließt, die eines Tages in seinem Dorf, mit dem bezeichnenden Namen Langweiler, auftreten. Meister Bo und dessen Röntgenapparat haben es ihm angetan. Er wird Bos Assistent und entwickelt eine Kreativität bei den Auftritten mit der Röntgenmaschine, die ihresgleichen sucht. Leider ist sich Mathis - wie alle anderen auch - der gesundheitlichen Gefahren, die von dem ungeschützten Umgang mit Röntgenstrahlen ausgehen, nicht bewusst. Die Konsequenzen werden sich erst später zeigen.

    Während der Leser das Leben von Mathis, Meta und Ernsti in Berlin zur Zeit der Nazis verfolgt, kommt er gleichzeitig in den Genuss, durch Rückblenden auf Mathis Werdegang der letzten 30 Jahre, eine Abhandlung über die Geschichte des Schaustellertums zu bekommen. Natürlich hält sich Vera Buck dabei ganz dicht an Mathis und Metas Leben. Denn irgendwann treffen die beiden aufeinander und man wundert sich, dass solch unterschiedliche Menschen ein Paar werden. Er, der zurückhaltende und schüchterne junge Mann, von schwächlicher Statur; und sie, die muskelbepackte und impulsive Naturgewalt. Aber gleichzeitig entführt die Autorin den Leser an faszinierende Orte, die von der Geschichte des Schaustellertums nicht zu trennen sind. Sie bringt uns an Orte wie Zürich, mit seinem Panoptikum, Wien mit seinem Prater, Paris mit seinen Folies Bergère, München mit seinem Oktoberfest etc. etc. etc. Und es sind nicht nur die Orte, die faszinieren, sondern auch die Mischung der Charaktere, die dem Leser begegnen. Vera Buck bringt fiktive und reale Personen zusammen. Durch ihre Recherchearbeit zu diesem Roman ist sie auf viele real existierende Schausteller getroffen, die sich einen Namen in der Szene gemacht haben - auch wenn dieser bei den wenigsten Lesern bekannt ist bzw. in Vergessenheit geraten ist.
    Ein paar Beispiele gefällig?
    Siegmund Breitbart - der "Eisenkönig" und jüdischer Kraftathlet
    Cora Eckers - eine "dicke, bärtige Zwergin"
    Rosendo Fibolo - "das menschliche Nadelkissen"
    Charlotte Rickert - eine Kraftfrau, die so ganz nebenbei als einzige Frau bei den olympischen Spielen 1936 beim Gewichtheben angetreten ist und ihren männlichen Konkurrenten demonstriert hat, wozu frau in der Lage ist
    (Der Roman endet mit einer interessanten Übersicht der historischen Personen, die in die Handlung eingebunden sind. Allein diese Liste ist es schon wert, diesen Roman zu lesen)

    "Es gab da ein Problem mit dem Männerbild, das Adolf Hitler in Deutschland postulieren wollte. Und das rührte daher, dass jeder Hanswurst sah, wie wenig Hitler selbst seine Kriterien erfüllte."

    Es ist nicht nur die Faszination des Schaustellertums, die dieses Buch zu etwas Besonderem macht. Einmal mehr wird der Finger in die nie verheilende Geschichtswunde, die durch den deutschen Nationalsozialismus verursacht wurde, gelegt. Und das ist gut so. Somit wird "Das Buch der vergessenen Artisten" zu einem Buch "Gegen das Vergessen", was es moralisch wertvoll macht.
    Dabei wird der moralische Aspekt auf sehr ansprechende Weise vermittelt. Denn es macht Spaß, dieses Buch zu lesen, was auf die gelungene Kombination aus der Darstellung des exotischen Schaustellerlebens und dem Sprachstil der Autorin zurückzuführen ist. Vera Buck beweist Humor, wo er angebracht ist, Respektlosigkeit gegenüber den Machthabern, Feingefühl gegenüber Artisten, von denen manche körperliche Gebrechen zu einer Attraktion machen, um überleben zu können. Die starken Frauen sind bei Vera Buck nicht nur aufgrund ihrer Körperkräfte und Muckis stark. Das Buch liest sich weg wie nichts. Hier ist keine Seite zuviel. Ich war schon ein bisschen traurig, als ich das Buch beendet habe. Die Geschichte hätte ewig weitergehen können.

    Leseempfehlung! Leseempfehlung! Leseempfehlung!

    © Renie

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  1. Wunderbares Buch, das man nur schwer aus der Hand legen kann!

    Viele Bücher, die ich gelesen habe, haben mir sehr gut gefallen, von einigen war ich enttäuscht und sehr, sehr wenige haben es geschafft, in meinem übervollen Bücherregal einen Ehrenplatz einzunehmen.

    Zu letzteren gehört „Das Buch der vergessenen Artisten“ von Vera Buck. Dieser Roman hat mich extrem beeindruckt.

    Die Autorin schildert eine spannende, emotionale Handlung vor einem ausgesprochen gut recherchierten historischen Hintergrund. Der Leser durchläuft bei der Lektüre zwei Zeitebenen, die sich miteinander abwechseln und zwar die Jugend des Hauptakteurs Mathis, eines Röntgenkünstlers zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die historische Gegenwart in den 30er Jahren desselben.
    Wir erfahren, wie Mathis zu seinem sehr außergewöhnlichen Beruf gekommen ist und wie er seine große Liebe Meta kennengelernt hat.
    Die erstarkende nationalsozialistische Bewegung mit ihren menschenverachtenden Vorgehensweisen hinsichtlich ethnisch und/oder körperlicher Andersartigkeit führt dazu, dass immer wieder Artisten, denen durch immer häufiger werdende Berufsverbote die Lebensgrundlage entzogen wird, aus „dem Verkehr gezogen werden“ und spurlos verschwinden. Indem Mathis die Lebensgeschichten dieser Menschen niederschreibt, möchte er verhindern, dass diese aus dem Gedächtnis der Gesellschaft verschwinden. Da dies ein höchst gefährliches Unterfangen ist, nicht zuletzt, da Mathis in dem Buch auch die Geschichte seiner Lebensgefährtin Meta, einer Kraftkünstlerin mit geheim gehaltenen jüdischen Hintergrund, festhält, hält er dieses Buch verborgen in der ständigen Angst, entdeckt zu werden.
    Die Notwendigkeit für Mathis und Meta, den Fängen der Nationalsozialisten letztendlich zu entkommen und eventuell anderswo eine von politischer bzw. rassistischer Verfolgung freie Lebensgrundlage zu finden, lässt die Handlung auf ein extrem spannendes Finale zustreben, welches mich sehr gefangen genommen hat.

    Mit den Hauptfiguren Mathis und Meta stellt Vera Buck zwei interessante und glaubwürdige Charaktere in den Mittelpunkt der Handlung und lässt den Leser teilhaben an deren Bemühungen der beiden, in dieser schwierigen und gefährlichen Zeit zu überleben.

    Was dieses Buch aber so besonders macht, ist die lebensnahe und spannende Schilderung der Lebensumstände innerhalb der geschilderten Zeitebenen. Vera Buck lässt den Leser eintauschen in die bunte und oftmals skurrile Welt der Jahrmärkte, Panoptiken und Zirkusse. Liebevoll erweckt sie die zahlreichen Nebenfiguren der Handlung, Artisten, Musiker, Schauspieler und- steller zum Leben und widmet ihnen kurzweilige Passagen der Beschreibung ihrer Lebensgeschichte. Das besondere hierbei ist, dass ein Großteil dieser Personen tatsächlich gelebt hat, aber den wenigsten Lesern bekannt sein dürfte. So wird man dazu verführt, sich an anderer Stelle noch zusätzlich über deren Leben zu informieren. Somit ist Vera Bucks Buch tatsächlich ein „Buch der vergessenen Artisten“ und sie erreicht hiermit das, was ihr Hauptakteur Mathis sich so sehnlich wünscht.

    Mir hat außerdem sehr gut gefallen, dass in die Handlung auch allseits bekannte Persönlichkeiten eingeflochten werden, wie zum Beispiel Charlie Chaplin, Agatha Christie oder Coco Chanel und ja, auch Adolf Hitler, deren Leben auf die eine oder andere Art und Weise mit dem der Hauptfiguren Mathis und Meta verflochten ist.

    Fazit:
    Ich habe die Lektüre dieses Buches von der ersten bis zur letzten Seite genossen. Es ist lebendig und spannend erzählt, spielt vor einem hervorragend recherchierten historischen Hintergrund und verfügt über glaubwürdige und sympathische Charaktere. Obendrein ist es noch mit einer guten Portion feinem, augenzwinkernden Humor gewürzt.

    Absolut empfehlenswert!!!

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  1. 5
    01. Jan 2019 

    Ein geniales Buch mit differenzierten Charakteren

    Was für ein tolles Buch. Ich habe es fast gefressen, weil es mich von der ersten bis zur letzten Seite so gezogen hat. Ich fand die Thematik total spannend und brisant. Ein Schmöker? Nein, für mich war es ein historischer Roman über Zirkusartist*innen im Nationalsozialismus, über die die Autorin wahnsinnig gut recherchiert hat.

    Dadurch, dass das Buch im Bücherforum von Whatchareadin besprochen wird, werde ich mich hier kurzhalten. Hier auf meinem Blog möchte ich wirklich nicht zu viel verraten, auch, weil ich jeder Leser*in denselben Lesegenuss gönnen möchte, den ich auch hatte. Wem aber meine Besprechung zu oberflächlich ist, diese verweise ich auf die Buchdiskussion auf Whatchareadin.

    Die Handlung
    Zu Beginn der Geschichte bekommt man es mit der Kindheit von Mathis Bohnsack zu tun, der 1887 in Langweiler zur Welt gekommen ist. Er kommt aus einer Bauernfamilie, in der 13 Jungen geboren wurden, wovon Mathis der Jüngste unter ihnen ist. Er ist nicht nur das jüngste, sondern auch das schwächste Kind. Mathis erkrankte an der Kinderlähmung und lahmt dadurch mit einem Bein. Auf dem Feld ist er nicht zu gebrauchen und hilft stattdessen der Mutter im Haushalt. In dieser Familie geht es durch die vielen Männer recht rau zu … Unter den Geschwistern herrscht auch viel Neid, da die älteren Brüder auf dem Feld hart arbeiten müssen, während Mathis durch seine Behinderung eher geschont wird.

    Eines Tages zieht für zwei Tage ein Zirkus in dieses langweilige Kaff ein, das den Namen Langweiler verdient hat. Mathis, mittlerweile 15 Jahre alt, verbringt dort während dieser Frist die meiste Zeit. Das zieht noch mehr Neid bei den Brüdern an, da sie während der gesamten Artistenzeit bis spät abends auf dem Feld arbeiten mussten. Aus Rache verhauen sie Mathis, während der Vater dabei zuschaut und auch er danach auf den Jungen einschlägt. Was für einen schwächlichen Sohn ich habe … Die Mutter, die immer auf Mathis` Seite steht, ist zu schwach, ihren Jungen gegen so vielen Männern im Haus zu verteidigen ...

    Mathis erntet nicht nur bei den Brüdern immerzu Prügel, auch von seinen zwei besten Freunden wird er wegen eines Mädchens verhauen.

    Mathis lässt die Prügel über sich ergehen. Ein Grund, nun seine Familie zu verlassen? Mathis fühlt sich zu dem Artisten Meister Bo und seiner Durchleuchtungsmaschine hingezogen, als er darauf ein Skelett eines Menschen gesehen hat. Heute würde man zu dieser Maschine Röntgenapparat sagen.

    Tatsächlich verlässt Mathis 1902 nach diesen Prügeln in der Nacht unauffällig das Elternhaus und lässt eine Nachricht für die Mutter zurück.

    Meister Bo, dem diese Maschine gehört, nimmt den Jungen bei sich auf, da er einen Assistenten gut gebrauchen kann. Aber es war nicht leicht, ihn von Mathis Künsten zu überzeugen. Außerdem war Mathis noch minderjährig, aber der Junge hörte nicht auf, den Meister von sich zu überzeugen …

    Mathis verliebt sich in die Maschine. Er spricht mit ihr, er pflegt sie immer aufs Neue, damit die gute alte Dame immer funktionsträchtig bleibt … Außerdem bestimmt diese Maschine seine Zukunft. Aber das konnte er damals noch nicht wissen ...

    Dass Röntgenstrahlen schädlich sind, das wusste man zu der damaligen Zeit noch nicht. Mathis verliert durch diese Maschine ein paar seiner Finger … Aber er kann es nicht lassen, die Beziehung zu dieser Maschine bleibt ungetrübt, obwohl er mittlerweile weiß, dass die Röntgenstrahlen schädlich sind.

    Meister Bo stirbt an einer gefährlichen Infektionskrankheit und so findet Mathis mit der Durchleuchtungsmaschine seines Meisters bei anderen Artist*innen einen neuen Platz.
    Später, nach mehreren Jahren, lernt er eine Frau namens Meta Kirschbacher kennen. Meta sieht wie ein muskulöser Kerl aus. Sie stemmt Gewichte wie ein Mann und nimmt es auch mit den Boxern auf. Auf der Bühne gibt es keinen Mann, der sie besiegen kann und so macht sich Meta dadurch bei den Männern unbeliebt, die sie zu schwerwiegenden Folgen führen … Auch die Presse äußert sich zu Metas Kraftakt recht abfällig ...

    Im Jahr 1935 ist Hitler an der Macht, und so befinden sich die ganzen Artist*innen in Gefahr. Zirkusleute verschwinden einfach so, unauffällig, bis sie vermisst werden. Menschen, die anders sind, will Hitler aus der Gesellschaft schaffen … Kleinwüchsige, siamesische Zwillinge, geistig Behinderte, Homos, Transvestiten, ... damit sie sich nicht vermehren können, um zu verhindern, dass sie eines Tages die Gesellschaft in Überzahl bestimmen. Deshalb müssen sie eliminiert werden ...

    Mathis will ein Buch schreiben. Das Buch der vergessenen Artisten, damit diese Artisten, die verschwunden sind, nicht vergessen werden. Er bezieht ganz klar Stellung gegen Hitler und sein Regime ...

    Ob er es zum Buch schafft, möchte ich nicht verraten.

    Meta, die mittlerweile mit Mathis zusammen ist, hat einen geistig behinderten jüngeren Bruder. Er heißt Ernsti und ist total unangenehm, da er sich immer zwischen der Beziehung seiner Schwester und Mathis mischt, weil er eifersüchtig ist … aber Meta liebt ihren Bruder abgöttisch und verteidigt und schützt ihn vor jeder unangenehmen Situation. Man fragt sich, weshalb Meta die blinden Flecken ihres Bruders nicht sehen will, obwohl er ein absoluter Zerstörer ist? Ernsti zerreißt Mathis` Manuskript, zerreißt seine Kleider, nimmt alle Gegenstände auseinander, wenn ihm langweilig ist, weil sich seine Schwester angeblich nicht sorgfältig um ihn kümmert. Er fängt Katzen und erschlägt sie … Er hat Tötungspotenzial und Meta weiß es nicht mal… Auf Ernsti hat es Hitler abgesehenen … Die, die noch nicht eingefangen wurden, begeben sich auf die Flucht, tauchen woanders unter, obwohl sie alle ihre Träume haben. Mathis träumt von seinem Buch, Meta träumt von einem freien Artistenleben in Amerika ...

    Meta und Mathis bekommen es immer wieder mit der Gestapo zu tun …

    Cover und Buchtitel
    Gefällt mir beides richtig gut. Die Frau auf dem Cover könnte Meta sein, aber sie sieht darauf viel zu weiblich aus. Im Buch hat sie eher ganz massive männliche Züge. Sie ist stark korpulent und muskulös. Denn auch auf diese Menschen setzt Hitler seinen Rotstift, da solche Frauen, die Männern körperlich überlegen sind, sind für Hitler eine Gefahr. Keine Frau der Welt darf den Mann dominieren. Hitler sieht in solchen autonomen Frauen eine potentielle Gefahr, die den Männern die Macht absprechen, weshalb er sie lieber an dem Herd haben möchte.

    Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
    Mich hat dieser Ernsti genervt und dass Meta ihm keine Grenzen aufzeigen konnte. Ja, er ist behindert, und er hat durch den Tod der Eltern Schlimmes erlitten, aber deswegen muss ich ihn nicht lieben. Er weiß schon sehr gut, mit welchem raffiniertem Muster er Menschen austricksen kann.

    Welche Szene hat mir gefallen?
    Es hat mir gefallen, dass es in dieser schweren Zeit wie dem Nationalsozialismus viele Menschen gegeben hat, die Zivilcourage bewiesen haben. Überall auf der Welt gibt es gute und weniger gute Menschen. Das Nazideutschland ist davon nicht ausgenommen. Und dies hat die Autorin gut aufzeigen können. Die Charaktere sind hier alle sehr differenziert. Nur in der Biografie von Hitler hat mir etwas gefehlt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass im Stammbaum Hitlers es auch einen Juden gegeben haben soll. Einen jüdischen Großvater über mehrere Ecken. Davon hat die Autorin leider nichts geschrieben, denn das könnte seinen Wahn gegen Juden zusätzlich erklären. Hitlers Vater war schon sehr cholerisch. Welche Verhaltensmuster muss dann erst der Vater des Vaters gehabt haben und sie auf den Sohn übertragen hat? Wobei das nicht heißen muss, dass eine subotimale Kindheit alles entschuldigen kann ...

    Meine Identifikationsfigur
    Keine

    Zum Schreibkonzept
    Auf den 750 Seiten bekommt man es mit zwei Parallelen zu tun. Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, der ins Jahr 1935 führt. In dem Prolog lernt man schon das Paar Mathis und Meta kennen. Auf Meta hat es ein Bildhauer namens Thorak abgesehen, der von ihrem Körper gerne eine Steinstatue herstellen möchte. Sie wird von den Nazis als Mannsweib bezeichnet. Ist diesem Thorak zu trauen, der ein Hitlerliebender ist? Thorak, der sich von seiner jüdischen Frau hat scheiden lassen, um rein zu sein? Meta und Mathis sind kritisch und durchschauen die Politik auch, aber sie wissen nicht, wie sie ihn umgehen können, da sie von dem Bildhauer erpresst werden …

    Das anschließende erste Kapitel beginnt in Langweiler in der Zeit von 1902. Das zweite Kapitel spielt in Berlin in der Zeit von 1935. Diese beiden Zeitepochen wechseln einander ab, was ich richtig spannend fand. Das Buch beinhaltet insgesamt 40 Kapitel. Danach endet das Buch mit Die letzte Seite. Mit dem Ausgang auf dieser letzten Seite war ich nicht ganz so erfüllt, darauf werde ich mich im Forum noch stärker beziehen. Anschließend gibt es ein Nachwort und Dankesworte zu lesen. Auf den allerletzten Seiten werden alle Figuren historisch gelistet.

    Meine Meinung
    Die Autorin scheint über ihren Stoff ziemlich gut recherchiert zu haben. Sabine, meine Lesefreundin, hat sich die Mühe gemacht und hat gegoogelt und so konnte sie in Erfahrung bringen, dass es viele von den Figuren tatsächlich gegeben hat. Wie ich oben geschrieben habe, hat sich die Autorin im Abschlusskapitel selbst auch zu ihrer Entstehungsthematik und zu ihren Figuren geäußert.

    Mein Fazit
    Mir wurde zum ersten Mal richtig bewusst, wie sensationsgierig Menschen sein können. Ich fand es sehr traurig, dass Menschen, die anders geartet sind, keinen Platz in der Gesellschaft finden, und sie gezwungen sind, ihr Anderssein in einem Zirkus zur Schau zu stellen. Ich kann für mich sagen, wie froh ich bin, noch nie einen Zirkus von innen betreten zu haben. Sonst immer nur wegen der Tiere, nun auch wegen der Menschen. Ja, und wie traurig, dass diese Menschen durch Hitler ihre Daseinsberechtigung abgesprochen bekommen haben.

    Ein sehr lesenswerter historischer Roman zum Nationalsozialismus und zu den Zirkusartisten im Überlebungskampf mitten im Naziregime.

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