Dagegen die Elefanten!: Roman

Rezensionen zu "Dagegen die Elefanten!: Roman"

  1. 5
    21. Jan 2023 

    Herr Harald...

    Herr Harald ist der Mann in der Garderobe. Er gehört zum Theater wie der Vorhang, aber niemand kommt seinetwegen, das Rampenlicht ist für andere. Er nimmt den Menschen die Mäntel ab, die Taschen, was immer sie ihm anvertrauen, um für kurze Zeit unbeschwert zu sein, und wartet bis zum Schlussapplaus, das ist sein Einsatz. Doch eines Abends bleibt ein Mantel zurück, und in dem Mantel findet sich eine Pistole. Herr Harald trägt sie nach Hause, nur: Was will er damit tun? Er kann sich schlecht gegen alles zur Wehr setzen, was ihm an der Welt und den Mitmenschen als Zumutung erscheint. Aber vielleicht kann er ihre Aufmerksamkeit auf jemanden lenken, der wie er ein Schattendasein führt: die Frau, die für einen anderen die Noten umblättert und die er aus der Ferne verehrt. Der tragische wie komische Protagonist dieser hinreißend erzählten Geschichte ist ein Held des Alltags, ein Mann in Dienstkleidung, einer, dem es niemand dankt. Und gäbe es die Literatur nicht – und Autorinnen wie Dagmar Leupold –, wie sollten wir wissen, was für ein Reichtum an Gedanken und Gefühlen, wie viel waches Leben und wehe Sehnsucht sich dahinter verbirgt. (Klappentext)

    Herr Harald ist vieles - aber sicherlich nicht extrovertiert. Er lebt ein einsames, ruhiges, unaufgeregtes Leben in geregelten Bahnen, auf die er viel Wert legt. Strukturiert wie er ist, hat jeder Tag der Woche seinen festen Ablauf, zweimal im Jahr wird der Backofen gereinigt, ob er nun benutzt wurde oder nicht, und die Wege, die er geht, sind zuverlässig immer dieselben. Auch seine Arbeit am Theater oder an der Oper führt er mit der stets gleichen diensteifrigen Akribie aus: er nimmt dem Publikum die Mäntel und Taschen ab und wacht darüber, bis die Besitzer:innen ihr Eigentum wieder in Empfang nehmen. Weder mit seinen Nachbar:innen noch mit seinen Kolleg:innen hat er sonderlich viel zu tun, Herr Harald bemüht sich um keine Kontakte, beobachtet lieber und hängt seinen Gedanken nach. Er ist der letzte, der sich deswegen leid tut, aber beim Lesen kann man doch zuweilen so etwas wie wohlwollendes Mitleid empfinden angesichts der sozialen Hilflosigkeit dieses Herrn Harald.

    "Überhaupt hat er schöne Antworten auf nicht gestellte Fragen parat, schlanke Gedanken. Schlank, denn sie haben eine gute Figur. (…) Aussprechen lassen sich solche Gedanken jedoch nicht, sie würden bei Luftkontakt zerstäuben, so flaumig sind sie."

    Doch Herr Harald mag nicht nur Tierdokumentationen im TV, er führt auch Buch. Ein winzig kleines Notizbuch, das er stets zusammen mit einem Bleistift bei sich führt, um Gedankenblitze, Satzfragmente und Wörter des Monats festzuhalten, bevor sie im Gedankenbrei wieder unterzugehen drohen. Neuerdings schwärmt er auch - wenngleich unbeholfen - für eine junge Frau, die ebenso wie er außerhalb des Rampenlichts steht. Sie sitzt an Musikabenden stets hinter dem Klavierspieler und hat die Aufgabe, die Noten taktgerecht umzublättern. Für Herrn Harald wirkt sie ebenso unscheinbar wie er selbst, und er beginnt sich Gedanken darüber zu machen, welchen Namen sie haben könnte und worüber sie beide sprechen könnten, wenn er denn den Mut dazu aufbringen würde.

    "Herr Harald lässt seinen Blick über die Mäntel, Schirme, Rucksäcke, Aktentaschen und Einkaufstüten schweifen, deren vorübergehender Hüter er ist. Inventur. Am Geruch erkennt er den Unterschied zwischen Reichtum und Behauptung. Er könnte es beschreiben - aber wem und wozu?"

    Eine zugelaufene Katze und ein zurückgelassener Mantel in seiner Garderobe drohen schließlich das innere Gleichgewicht des Herrn Harald in Schieflage zu bringen. Erstmals empfindet er so etwas wie Verantwortung und Zuneigung einem anderen Lebewesen gegenüber, ohne dieses dabei gleich vereinnahmen zu wollen. Überhaupt ist ein respektvoller Umgang - selbst in Gedanken - mit allem und jedem ein weiterer Wesenszug des Herrn Harald. Und die Schreckschusspistole, die er in der Manteltasche des vergessenen Kleidungsstücks fand, beschäftigt seine Gedanken immens. Und schließlich fasst er einen Plan...

    "Er kauft sich nichts, stellt sich aber ein Getränk vor: Brause, Waldmeistergeschmack, ein ganzer junger Wald darin, sprudelnd vor Frühling. Schauer im Gaumen. Brausegaumenschauer."

    Einen leisen, langsamen Roman präsentiert Dagmar Leupold hier, das Geschehen ausschließlich in der Gedankenwelt des Herrn Harald verortet, ohne Dramatik oder Spannungsbogen oder große Wendungen, dafür mit viel Hingabe zu den Details. Ein Jahr lang begleitet der/die Lesende diesen zurückgzogen lebenden Mann - und weiß ihn mit jeder weiteren Seite mehr zu schätzen. Die Liebe zur Sprache vereint den Hauptcharakter und die Autorin und macht das Besondere dieses Romans aus. Eine fein geschliffene, elaborierte Sprache, die zuweilen leichtfüßig vor sich hin spielt und dabei einfach nur Spaß macht Durch die Zeilen hindurch ein herrliches Spiel mit Sprache, manchmal staunenswert, dann wieder zum Lachen. Der leise Wortwitz und eine sehnsuchtsvolle Melancholie halten sich hier sorgfältig die Waage ohne jemals in Kitsch, Wehleidiges oder Klamauk zu verfallen, was hier ein Leichtes gewesen wäre.

    Ein Roman, der mich in seiner Unaufgeregtheit gefangen nehmen konnte, den ich für seine Liebe zur Sprache mochte und dem ich gewünscht hätte, dass er nicht nur auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 gelandet wäre. Für mich in jedem Fall ein Highlight!

    © Parden

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  1. Der Garderobier der Wörter

    Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand u. a. „Dagegen die Elefanten“ von Dagmar Leupold; erschienen 2022 bei Jung und Jung.

    Darin lernen die Leserinnen und Leser Herrn Harald kennen. Herr Harald ist ein Garderobier in der Oper, Balkon links und bei Bedarf in der Philharmonie, der dem Publikum gewissenhaft die Mäntel abnimmt, den Kindern zu Weihnachten Schokoladennikoläuse schenkt und sich seine Zeit zwischen Anfang und Ende der Vorstellungen mit einem Italienisch-Sprachbuch vertreibt.

    Außerdem notiert Herr Harald in einem Notizbuch immer die „Wörter des Monats“ und gibt sich ganz eigenen Gedanken dazu hin. Überhaupt regieren und bestimmen die Gedanken den Roman. Dabei geht es auch mal kreuz und quer und hin und her von einem Thema zum nächsten und zurück. Wenn man am Ende der Lektüre den kauzigen Protagonisten durch ein Jahr in seinem Leben begleitet hat, in dem vieles gleich und doch manches anders läuft als Herr Harald es gewohnt ist, ist man gewillt, ihn zu adoptieren – er ist im Kern ein herzensguter Mensch, den man einfach gernhaben muss *g*.

    Dagmar Leupold versteht es meisterhaft, ihrem auf den Protagonisten zugeschnittenen Roman die passenden Worte zu verleihen; kein Wort zu viel oder zu wenig hat sich seinen Weg aufs Papier gesucht. Feinfühlig, warm – eine wahre Wohltat in diesen (menschlich) kalten Zeiten.

    Mehr Worte bleiben mir ehrlich gesagt nicht – lest diese literarische und sprachliche Wohltat einfach selbst.
    Klare Leseempfehlung und natürlich 5*.

    ©kingofmusic

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  1. »Wort des Monats: Moostrost«

    Schon nach wenigen Seiten verlor ich mein Leserinnenherz an Herrn Harald.

    Ich liebte seine würdevolle Art. Ich liebte seinen feinen Sinn fürs Detail. Ich liebte die respektvolle Aufmerksamkeit, die er sogar den scheinbar belanglosesten Gegenständen schenkt. Da eröffnen sich ganze Welten in seinen Gedanken, in seinen Metaphern und behutsamen Bildern; da breitet sich beim Lesen ein tiefer innerer Reichtum vor dir aus. Er ist ganz ohne Zweifel exzentrisch, indes auf ruhige Art, die nichts fordert und nichts erwartet.

    Ach, Herr Harald, du Held der kleinen Dinge.

    »Überhaupt hat er schöne Antworten auf nicht gestellte Fragen parat, schlanke Gedanken. Schlank, denn sie haben eine gute Figur. (…) Aussprechen lassen sich solche Gedanken jedoch nicht, sie würden bei Luftkontakt zerstäuben, so flaumig sind sie.«
    (ZITAT)

    Sein Beruf könnte als banal unterschätzt werden, doch er übt ihn aus mit Stolz. Ohne Groll, ohne Bitternis nimmt er hin, dass er übersehen wird, als sei er nur ein nützlicher Gegenstand. Klaglos hat er sich eingerichtet in seiner Einsamkeit, und doch stockt dir als Leser:in manchmal der Atem ob der stillen Sehnsucht, die aus den Zeilen spricht. Wie jeder Mensch hat auch Herr Harald Wünsche und Gefühle, doch als er sich in eine Frau verliebt, die ebenfalls von allen übersehen wird, bringt das seine Routinen empfindlich durcheinander.

    Hier hätte Dagmar Leupold abrutschen können in den Kitsch – den romantischen oder den Betroffenheitskitsch, völlig egal, beides wäre eine Schmälerung von Herrn Haralds Persönlichkeit und Potential gewesen. Aber sie umschifft das gekonnt, lässt ihrem Protagonisten Raum zum Scheitern, dadurch aber auch zum Wachsen. Die Waffe, die Herr Harald eines Abends in einer Manteltasche findet, wird zum Inbegriff möglicher Veränderung.

    »Bin ich froh, flüstert Herr Harald und weiß selbst nicht, ob mit oder ohne Fragezeichen. Sicher ist, dass es zwei Herzkammern gibt, die es ihm nun leichter machen, Freude, Aufregung und Sorge unterzubringen, und zwar so, dass Platz für Ausdehnung bleibt, denn alle drei können wachsen.«
    (ZITAT)

    Es ist eine Geschichte der leisen Töne, ohne klassischen Spannungsbogen, ohne dramatische Entwicklungen. Wahrhaft großartig wird sie erst dann, wenn man ihr mit Herrn Haralds Wertschätzung für das Unspektakuläre Raum gibt – aber dann liest sich alles wie aus einem Guß, als könnte man es gar nicht anders erzählen. Sprachlich ist diese zarte Erzählung eine Wucht.

    Fazit:

    Herr Harald ist Garderobier im Theater, ein Beruf, den er mit stiller Würde ausübt. Er hat keine Familie, keine Freunde, im beruflichen Alltag wird er als Mensch gar nicht wahrgenommen. Dennoch scheint ihm nichts zu fehlen, bis seine Welt in zweierlei Hinsicht erschüttert wird: Er verliebt sich, er findet eine Waffe, und beides öffnet eine gedankliche Brücke zu dem, was im Leben vielleicht noch möglich wäre.

    Der Roman lebt vor allem von seinem wunderbaren Protagonisten, aber auch von seinem einmaligen still-poetischen Schreibstil. Ein introspektives Leseerlebnis, das eher vom Wesen der Dinge erzählt als einer Handlung von A bis Z zu folgen.

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