Dämmerstunde

Rezensionen zu "Dämmerstunde"

  1. Gesellschaftskritisches Verwirrspiel

    „Dämmerstunde“ ist der zweite Roman, den ich von Hwang Sok-yong gelesen habe. Wie auch „Vertraute Welt“ führt er die Leser*innen in die Megacity Seoul.

    Dabei stehen zwei Personen in unterschiedlichen Erzählsträngen im Fokus, eine weitere Figur erweist sich als verbindendes Element.

    Bak Minu blickt auf eine außergewöhnliche Karriere zurück. Er wächst unter ärmlichen Verhältnissen in einem kleinen Dorf am Rande der Megacity auf und zieht mit seiner Familie schließlich nach Seoul in einen Slum. Der Umstände zum Trotz gelingt ihm ein exzellenter Schulabschluss, der ihm den Zugang zu den besten Universitäten ermöglicht. Bak Minu wird Architekt, lebt einige Jahre in den USA, kehrt schließlich nach Seoul zurück, gründet eine eigene Baufirma und ist an zahlreichen Großbauprojekten beteiligt. Wir lernen Bak Minu als älteren Mann kennen. Seine Frau und Tochter leben schon lange ein von ihm getrenntes Leben in den USA, zwei seiner alten Wegbegleiter sind todkrank und die Frau, in die er als Jugendlicher verliebt war, nimmt Kontakt zu ihm auf. Bak Minu lässt sein Leben Revue passieren, erinnert sich und nimmt zum ersten Mal wahr, dass er mit seinen Bauprojekten auch für Zwangsumsiedlungen, Leid und eine anonyme Architektur verantwortlich ist.

    Während Bak Minus Geschichte mehrere Jahrzehnte umfasst, lernen wir Uhi in einem kürzeren Abschnitt ihres Lebens in der Gegenwart kennen. Sie ist Ende zwanzig, träumt von einer Karriere als Theaterregisseurin. Da sie mit ihrer Theaterarbeit kaum etwas verdient, versucht sie sich mit anderen schlecht bezahlten, kräftezehrenden Arbeitsverhältnissen über Wasser zu halten. Uhi steht dabei stellvertretend für eine Generation gut ausgebildeter junger Menschen, deren Lebens- und Wohnsituation äußerst prekär ist.

    Im Gegensatz zu „Vertraute Welt“ habe ich zunächst schwer Zugang zu „Dämmerstunde“ bekommen. Lange Zeit wusste ich nicht, wohin uns der Autor mit dieser Geschichte führen will, konnte Verknüpfungen schwer herstellen. Ich habe das Buch bis zum letzten Drittel vor allem abwartend, distanziert und mit einem sehr neutralen Gefühl gelesen. Hwang Sok-yong berichtet gerafft und trotzdem dicht. Manchmal bin ich über sprachliche Ausdrücke gestolpert, die für mich im ersten Moment altbacken klangen wie z.B. „Strolch“ und viele weitere. Dass ich diese Wörter als ungewohnt empfinde, lässt sich eventuell mit der österreichischen Herkunft des Übersetzers erklären. Eine unvorhergesehene Wendung gegen Ende und der Schluss, haben mich mit dem Roman versöhnt. Der Abschluss ist für mich rund und hat mir ausgesprochen gut gefallen. „Dämmerstunde“ wirkt vor allem im Nachhinein. Ich habe sehr viele Szenen aus dieser fremden Welt bildlich vor Augen und trotz der Kürze des Romans einen sehr guten Einblick in die Lebenssituation reicher und armer Menschen in Südkorea erhalten. Vieles steht zwischen den Zeilen, gesellschaftskritische Themen werden angesprochen, jedoch nicht in der Tiefe bearbeitet. „Dämmerstunde“ erfordert Konzentration beim Lesen - es handelt sich um ein vom Grundton distanziertes, von Wehmut geprägtes Werk, dessen Wirkung sich vor allem nach Beendigung der Lektüre entfaltet.

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