Clara: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Clara: Roman' von José Carlos Somoza
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4 von 5 (1 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Clara: Roman"

Format:Taschenbuch
Seiten:604
EAN:9783548604053

Rezensionen zu "Clara: Roman"

  1. "Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben"

    Wer den Spielfilm "Nocturnal Animals" gesehen hat, erinnert sich vielleicht an die Eingangsszene mit den tanzenden Frauen. Daran schließt sich mindestens eine Szene an - vielleicht sind es auch mehrere, ich weiß es nicht mehr -, in denen wir die weibliche Hauptfigur in den Räumen ihrer Galerie sehen: Die laufende Ausstellung besteht aus eben diesen Frauen, die wir gerade tanzen sahen; sie liegen nackt und reglos als Ausstellungsstücke auf weißen Sockeln und dürfen besichtigt werden.

    Man tut gut daran, sich diese Szene vor Augen zu halten, wenn man mit der Lektüre von "Clara" beginnt: Das, was Somoza in diesem Roman beschreibt, gibt es bereits, wenn auch in abgeschwächter Form. (Mit Sicherheit gibt es noch viele andere Ausstellungen dieser Art, die mir, als an solch moderner Kunst nur marginal interessierter Person, nicht bekannt sind.) "Clara" spielt anfangs der 2000er Jahre und präsentiert einen Kunstansatz, der eine Steigerung dieser Ausstellung im Film darstellt: der "hyperdramatischen Kunst" oder HDK. Diese Kunstform behandelt menschliche Körper - vorwiegend junge, schöne und weibliche Körper, aber auch andere, Männer, Alte, sogar Kinder - als Rohmaterial, als "Leinwand". Eine solche "Leinwand" ist die Titelfigur Clara Reyes. Als Vollprofi ist sie etwa vergleichbar mit einem First-Class-Model unserer Zeit: sie zählt zu den Höchstverdienern, dafür ist aber ihr ganzes Leben - 24/7 die Woche - den Anforderungen ihres Berufes unterworfen. In ihrem Berufsalltag steht sie etwa sechs Stunden täglich - nackt, mit bemaltem Körper, in verrenkter Haltung - in einer Ausstellung, ohne Essen, Trinken, Klogang oder auch nur Schwitzen und ohne jedes Schamgefühl. (Der Platz reicht hier nicht, um genauer auszuführen, was dieser Beruf bedeutet. Somoza beschreibt einige sehr krasse Ausstellungsstücke.)

    Der berühmteste HDK-Künstler ist Hugo van Tysch, und ihm als Leinwand zu dienen, ist der Traum aller menschlichen Leinwände. Clara Reyes wird in seine Dienste berufen: sie soll bei einer HDK-Inszenierung von Rembrandts "Susanna im Bad" die Susanna stellen. Sie glaubt an die Chance ihres Lebens und geht mit großer Ernsthaftigkeit an die Arbeit. Hier kommt nun eine (ich finde, etwas mühsame) Krimihandlung ins Spiel. Bereits drei von dem Künstler van Tysch "bemalte Leinwände" sind Mordanschlägen zum Opfer gefallen. Die Gefahr besteht, dass der Täter bei der mit großem Bohei beworbenen Rembrandt-Ausstellung wieder zuschlagen wird. Ein ganzer Stab von Polizei und Sicherheitsleuten versucht, eine Strategie auszuarbeiten. Dieser Strang - die Aufklärung und das Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen Interessengruppen bei der Feststellung des Täters - macht einen Großteil des Buches aus, denn hier kommt Somozas eigentliches Hauptthema zum Vorschein: Die Polizei verfolgt den bestialischen Mörder eines jungen Models, die Kunstvermarktungsmaschinerie verfolgt einen Vernichter hochpreisiger Installatationen. "Alle Kunst, die ganze verdammte Kunst der Welt, vom Parthenon angefangen zur Mona Lisa, vom David zu Beethovens Symphonien, alles ist wertlos im Vergleich zu dem unbedeutendsten Menschen" wettern die einen (S.439), die anderen sagen exakt das Gegenteil: "Sie (die Leinwand) war kein Kind von vierzehn Jahren, sie war ein Bild, das auf ein Erstgebot von fünfzig Millionen Dollar geschätzt wurde!" (S.83).

    Man sollte nicht glauben, Somoza sei ein moralisierender Autor, der über eine Welt lamentiert, in der die menschliche Würde, Gesundheit und gar das Leben ein Verbrauchsgut sei. So einfach ist es nicht. In dem parallel erzählten Strang über Clara Reyes sehen wir eine Figur, die bereit ist, für den künstlerischen Effekt alles zu geben - vergleichbar wohl am ehesten mit Sportlern oder Artisten, die für Sekunden oder Zentimeter mehr Knochen und Leben gefährden. Wenn man sich solche Parallelen vor Augen hält, klingt es gar nicht mehr so verrückt, was die hyperdramatische Kunst veranstaltet; es ist nur eine Weiterführung dessen, was uns bereits vertraut ist. Das bringt Somoza vollendet glaubwürdig und auch stilistisch in sehr feiner Weise vor. Claras Erzählstrang, in dem es um die Beziehung zwischen der Kunt und der "Leinwand" als ihr Vermittler geht, ist einfühlsam, stimmig und psychologisch tiefgründig: "Wir leben in einer verworrenen Welt (...), vielleicht besteht unsere wahre Natur aus der Maske und wir haben jetzt endlich die Dinge unserem wahren Wesen anpassen können" (S.344). Der Ermittlungsstrang ist dagegen, wie erwähnt, nicht ganz so geglückt; es gibt zu viele Personen und manchmal allzu groteske Effekte wie menschliche Teetabletts und Aschenbecher in Hotels und Konferenzräumen - da bekommt der Begriff "stummer Diener" eine völlig neue Bedeutung. Interessanterweise spielt sich die vom Somoza beschworene Kunstszene hauptsächlich in München, Wien und Amsterdam ab.

    Das Buch ist etwas zu lang und die Krimihandlung überfrachtet, aber ich fand es hochinteressant zu lesen. Man muss allerdings einen Sinn für bizarre Effekte haben und auch eine gewisse Leidensfähigkeit beim Lesen, denn manches ist ausgesprochen schwer verdaulich. Aber es ist schön, über einer dieser "menschlichen Leinwände", die von ihrem Auftrag zurückkehrt, am Ende zu lesen: "Sie spürte, wie das Leben zu ihr zurückkam, die man das Heranrollen einer Welle hört. (...) Das blonde Haar, die offenen Poren der Haut, die alten Narben, die Spuren ihres Lebens ..." (S.598): Die Leinwand wird wieder zur Persönlichkeit, die Leserin atmet auf an dieser Stelle.

    Somoza hat bereits mehrere philosophische Kunst-Krimis geschrieben; für "Clara" bekam er den (angeblich) höchstdotierten Literaturpreis Spaniens.

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