Caribou

Rezensionen zu "Caribou"

  1. 4
    02. Sep 2020 

    Realität in Fiktion eingebettet. Spannend und informativ!

    Mit dem Beginn der Lektüre vollziehen wir eine Zeitreise zurück in den Oktober 1942, landen wir im Atlantik vor Neufundland, befinden wir uns im U-Boot U 69, lesen wir Notizen des Kriegstagebuchs des Ich-Erzählers Ulrich Gräf und erleben wir den Moment, in dem ein Torpedo auf die zivile Fähre Caribou abgeschossen wird.

    Nach diesem kurzen und knackigen Einstieg geht es zurück in die Zeit vor dem Abschuss.

    Der zeichnerisch begabte und an Malerei interessierte Ulrich Gräf erinnert sich an seine Grundausbildung 1935 beim Militär, an seinen sarkastischen und sadistischen Ausbilder Jodeit, der mit Demütigungen nicht geizte, an den Zusammenhalt unter den Kameraden und an sein Ziel, endlich Teil der Marine zu werden.

    Dann schwenkt der Autor seinen Blick zum zivilen Passagierschiff „Caribou“, einer Fähre, die zwischen dem kanadischen Festland und Neufundland hin- und herpendelt und an dessen Bord sich etliche Soldaten befinden, die nach ihrem Heimaturlaub wieder auf dem Weg zu ihren Stützpunkten in Neufundland sind.

    Wir begegnen dort der 61-jährigen alleinstehenden und taffen Bride, die als Chef-Stewardess auf der Caribou nach dem Rechten sieht,
    dem Schiffskellner John Gilbert, den wir bis zum Ende des Romans begleiten, sowie dem reservierten und selbstbewusst und souverän auftretenden Kapitän Ben Taverner und dessen Söhnen Harold und Stanley, die auch zur Mannschaft gehören.

    Deren Gespräch kreist um die Sorge, von den Deutschen versenkt zu werden, da diese sicherlich über die Anwesenheit der Soldaten an Bord informiert sind.

    Im weiteren Verlauf folgen wir abwechselnd zwei Handlungssträngen, die aufeinander zustreben, sich schließlich treffen und in eine Katastrophe münden, die nach dem ersten Drittel stattfindet:
    „Rohr fünf- Feuereerlaubnis“,
    „Rohr fünf - los!“,
    „Als das Geschoss einschlägt, ist er nicht einmal überrascht. Es ist ein bleischwerer Stoß, der ihm ins Mark seiner Knochen fährt.“ (S. 109 f.)

    An dieser Stelle des Romans, auf die man gespannt hinfiebert, fragt man sich fast zwangsläufig, was denn wohl in den restlichen zwei Dritteln noch erzählt wird, wo doch das Drama, von dem berichtet werden soll, bereits stattgefunden hat.
    Aber das verrate ich natürlich nicht...

    Stattdessen möchte ich noch ein paar weitere Worte zum Geschehen bis dahin verlieren:
    Wir begleiten Ulrich Gräf, der sich vom Kadetten auf der Gorch Fock zum Torpedo-Offizier, Oberfähnrich zur See, Bordfunker, Oberleutnant und schließlich zum Kommandanten der U 69 entwickelt.
    Wir erleben ihn und seine Mannschaft bei gefährlichen Einsätzen im Atlantik und bei Landgängen, die dem Genuss und der Befriedigung von Gelüsten und Trieben gewidmet sind.

    1942, nach seiner ersten sog. Feindfahrt als Kommandant, lernt der 26-jährige Ulrich Gräf die Krankenschwester Elise kennen.
    Eine Liebesgeschichte beginnt. Unterbrochen wird sie immer wieder durch wochen- und monatelange Missionen, in denen die U 69 „...auf die Pirsch (ging), um nach Beute Ausschau zu halten, die nicht unter Naturschutz stand.“ (S. 93)

    Daneben und in konsequentem Wechsel bekommen wir einen Einblick in den Alltag der Caribou, begegnen Reisenden und Besatzung, verfolgen deren Gespräche und beobachten diverse Techtelmechtel und Rivalitäten sowie das fröhliche Miteinander im Gesellschaftsraum, in dem der Pianist Buzz die Swing-tanzenden Passagiere unterhält.

    Die Atmosphäre wird authentisch dargestellt und die verschiedenen Charaktere werden dem Leser detailliert vorgestellt und in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielschichtigkeit gezeichnet.

    So z. B. der Kommandant der U 69. Ulrich Gräf wird weder eindeutig noch ausschließlich als herzloses und kaltblütiges Ungeheuer dargestellt, das seinem Jagdtrieb, dem Beutefang oder gar seiner Lust zu töten freien Lauf lässt.
    Ganz deutlich zeigt der Autor seine ernsthaften, zweifelnden, sinnlichen, musischen, tiefgründigen, menschlichen, freundlichen und liebenden Seiten.
    Es ist schwer möglich, ihn durch und durch und ohne wenn und aber abzulehnen.

    Der Autor wertet nicht, er beschreibt differenziert und überlässt es dem Leser selbst, sich ein Bild zu machen und sein Urteil zu bilden, wenn er denn mag und kann.

    Kevin Major hat eine bildgewaltige Sprache. Manche Passagen musste ich mehrmals lesen, weil das Bild, das vor dem geistigen Auge entstand so beeindruckend war.
    Wie der Ich-Erzähler und Protagonist Ulrich z. B. seinen ersten Eindruck von Neufundland beschreibt ist kurz gesagt brillant. Wäre der Abschnitt nicht so lang, würde ich ihn hier zitieren. Meinem Mann „musste“ ich ihn zumindest vorlesen ;-)

    Die Struktur des Romans folgt einem strengen Perspektivenwechsel. Beide Handlungsebenen sind im Präsens geschrieben, was das Erleben intensiviert und die Spannung steigert.
    Der „U-Boot-Strang“ wird aus der Sicht Ulrichs erzählt, der „Caribou-Strang“ aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers.
    Diese Ebenen- und Perspektivwechsel sowie die recht kurzen Kapitel schaffen Abwechslung und machen das erste Drittel des Romans zu einem atemberaubenden Pageturner.

    Der Rest war zunächst etwas ruhiger und stellenweise etwas langatmig. Ich empfand ihn phasenweise als zu technisch und zu faktenlastig.
    Es geht oft zu sehr in Richtung Berichterstattung.
    Trotzdem war auch das zweite Drittel interessant, nur eben nicht so fesselnd.
    Gegen Ende nimmt der Roman dann noch einmal Fahrt auf und der Puls wird erneut schneller.
    Wieder laufen zwei Stränge aufeinander zu, wieder treffen sie sich, wieder ereignet sich als Höhepunkt ein tödlichen Ereignis.

    In „Caribou“ lesen wir vor geschichtlich wahrem Hintergrund u. a. von einer furchtbaren, ebenfalls wahren Begebenheit in der Cabot-Straße vor Neufundland, die sich im Oktober 1942 ereignet und 137 Menschenleben gefordert hat.
    Wir begegnen neben fiktionalen Figuren auch Personen, die real existiert haben.
    So zum Beispiel der Ich-Erzähler Ulrich Gräf, der von März 1942 bis Februar 1943 Kommandant des deutschen U-Bootes U 69 war, oder Wilhelm Lachnit, ein deutscher Maler, dessen Zeichnungen z. T. als entartete Kunst konfisziert wurden oder auch Karl Dönitz, der ein deutscher Marineoffizier, NSDAP-Mitglied, treuer Gefolgsmann Hitlers, schliesslich Oberbefehlshaber der gesamten Kriegsmarine und wenige Tage lang der letzte Reichspräsident des dritten Reichs war.

    Reale Ereignisse in Fiktion eingebettet.

    Für mich war es äußerst interessant und bereichernd, in eine fremde, nämlich die „nautische“ Welt, einzutauchen, mehr über Neufundland zu erfahren, das Kriegsgeschehen aus einer für mich neuen Perspektive zu betrachten und ein Ereignis zu fokussieren, das mir bisher völlig unbekannt war.

    Ein besonderes Schmankerl waren für mich die kleinen Ausflüge in die Kunst zu Otto Dix und Franz Marc.

    Der Roman unterhielt mich prächtig und erweiterte meinen Wissenshorizont.
    Er eröffnete mir nicht nur eine neue Welt und neue Sichtweisen, sondern brachte mich auch immer wieder zum Nachdenken.
    In Anbetracht dessen, dass es um ein wahres Ereignis geht, sind die Emotionen, die der an sich eher nüchtern geschriebene Roman auslöst, besonders intensiv.

    Die angehängten Originalfotos sind eine schöne Dreingabe und das Nachwort zum U-Boot-Krieg ist informativ.

    Aufgrund all dieser Eindrücke und Überlegungen lautet mein Fazit:
    Klare Leseempfehlung, aber kein Highlight.

    Diese und weitere Rezensionen von mir findet Ihr auf meinem Blog:

    https://lieslos.blog/romane/major-kevin-caribou/

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  1. Auf der Grundlage historischer Ereignisse

    Eine vorangestellte Aufzeichnung aus dem Kriegstagebuch des U-Boot- Kommandanten Ulrich Gräf unterstreicht die Authentizität des Romans, dessen Kern sich auf wahre historische Begebenheiten stützt. Man spürt deutlich, dass der Autor umfangreiche Recherchearbeit geleistet hat, um die Umstände, die zum Abschuss der Personenfähre Caribou im Oktober 1942 durch das deutsche U-Boot 69 führten, aufzudecken.

    Major erzählt aus zwei Perspektiven. In der einen berichtet Kapitänleutnant Ulrich Gräf einerseits vom Leben und den Ereignissen auf dem beengten U-Boot, andererseits schweifen seine Gedanken in die Vergangenheit ab in die Zeit seiner strengen Ausbildung, zu seiner Familie, zu den Nachrichten aus der Heimat. Die Rückblicke geben Aufschlüsse über die Struktur der Truppe: „In der Kriegsmarine gibt´s keinen Platz für Zweifler. Meine Untergebenen vertrauen mir ohne Wenn und Aber. Ihr Leben liegt in meiner Hand – oder genauer gesagt: in den Händen jener Männer, die einen einmal erteilten Befehl auch adäquat umzusetzen versuchen.“ (S. 21). Karriererelevante Erfolge werden in abgeschossenen Bruttoregistertonnen gezählt, die Kommandeure stehen im starken Wettbewerb untereinander. Man erfährt im Verlauf des Romans aber auch einiges über das zivile Leben und gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Militärs.

    In der zweiten Perspektive wird von der Fähre Caribou berichtet. Besatzung und Passagiere mit ihren unterschiedlichen Zielen und Wünschen werden vorgestellt. Allen ist klar, dass die Überfahrt nach Neufundland nicht ungefährlich ist, weil deutsche U-Boote im Atlantik patrouillieren und bereits viele Schiffe torpediert haben. Die Gefahr wird jedoch verdrängt, das Treiben auf der Fähre ist lebhaft: Es wird geflirtet, gesungen und getanzt, es werden Schlafplätze getauscht. Das Personal, allen voran die Stewards Bride Fitzpatrick und John Gilbert, haben ihre Mühen, die Gäste zufriedenzustellen. Trotz dieser vermeintlichen Leichtigkeit spürt man als Leser sowohl das drohende Unheil als auch die melancholische Stimmung, die sich gerade in dieser Nacht über den Kapitän und seine Mannschaft legen.

    Diese beiden Perspektiven bewegen sich – im Präsens geschildert – aufeinander zu. Ein Kunstgriff, der Spannung erzeugt und mir sehr gut gefallen hat. Immer abwechselnd wird man über die Geschehnisse auf beiden Schiffen informiert, alles läuft auf den (bekannten) Höhepunkt zu. Etwa auf der Buchmitte kommt es zur Katastrophe, die laut Klappentext nur etwa 100 der 237 Menschen an Bord überleben…

    Auch im Anschluss daran bleibt es ungemein spannend. John Gilbert überlebt die Katastrophe schwer verletzt und traumatisiert. Der Leser begleitet seinen weiteren Lebensweg. Gilbert heuert auf verschiedenen Schiffen an, immer getrieben vom innigen Wunsch, eines Tages Rache an den Deutschen zu nehmen. Die U69 macht weiterhin den Atlantik unsicher.

    Kaleun Gräf ist kein herzloses Monster. Er wird auch als liebender Mann dargestellt, er ist musikalisch und künstlerisch begabt, hat aufrichtiges Interesse an seiner Mannschaft und scheint manchmal sogar leise an „der Sache“ zu zweifeln. Aber er versucht konsequent, seine beiden Leben zu trennen: „Ein U-Boot-Fahrer hat ein Leben auf seinem Boot – und ein anderes auf dem Land. Wenn sich beide überschneiden oder gar vermischen, ist der Ärger nur eine Frage der Zeit.“ (S. 51).

    Es ist allgemein bekannt, dass die U69 am 17. Februar 1943 mit der kompletten Besatzung unterging. Es ist dem Autor gelungen, den Beteiligten beider Kriegsparteien ein Gesicht und eine Persönlichkeit zu geben. Dabei löst er sich bewusst von den gängigen Stereotypen, die den Deutschen Soldaten als Bösewicht und sein Gegenstück als tapferen Helden zeigen. Major bringt uns ein Stück Kriegsrealität ins Bewusstsein, indem er die Menschen mit ihren Erlebnissen, Wünschen und Schicksalen zeigt. Im zweiten Teil des Buches nehmen die Details über die U-Boot-Flotte, die technische Ausstattung der englischen Zerstörer und die verbesserten Entschlüsselungstechnologien recht viel Raum ein. Hier liegt für mich eine Schwäche des Romans (vielleicht empfindet das ein technisch versierterer Leser aber völlig anders). Zum Ende hin baut sich die Spannung erneut auf und wir erleben anschaulich schwierige militärische Entscheidungsprozesse, als sich wieder zwei feindliche Schiffe aufeinander zubewegen…

    Der Erzählton ist zumeist nüchtern-sachlich, aber niemals distanziert. Der Autor hat die Fakten rund um die Caribou dramaturgisch sehr gut ausgebaut und auch für denjenigen anschaulich aufbereitet, der die geschichtlichen Hintergründe nicht kennt. Der Roman frischt das Wissen rund um den Seekrieg auf und zeigt, wie wenig wert Menschenleben waren. Dabei zeigt er die Unmenschlichkeit und Sinnlosigkeit des Krieges. Für historisch interessierte Leser ist „Caribou“ ein spannendes, realistisch-fiktionales Buch, das ich gerne empfehlen möchte.

    Der Roman wird durch einen Anhang mit Originalfotos und –dokumenten ergänzt. Auch das Nachwort von Christian Adam liefert zusätzliche Informationen über die literarische Kriegspropaganda und die dramatischen Entwicklungen des Seekrieges. Das haptisch und optisch sehr wertig ausgestattete Hardcover ist eine Freude für jeden Buchliebhaber.

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