Blutbuch: Roman

Rezensionen zu "Blutbuch: Roman"

  1. Absolut nicht mein Buch...

    Klappentext:

    „Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem Schweizer Vorort, lebt sie nun in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.

    Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.“

    Bis zur Hälfte des Buches bin ich gekommen, den Rest habe ich quer gelesen - das sagt bereits alles. Das Buch „Blutbuch“ von Kim de l‘Horion erhielt 2022 u.a. den Deutschen Buchpreis. Ich muss klar zugeben, ich nehme eigentlich immer Abstand von solchen Preis-Büchern, da sie zu viel Hype inne haben und meist literarisch nicht das bieten was man erwartet hat. Hier war die Neugier nun einfach bei mir zu groß. Die Geschichte hatte irgendwie ihren Reiz und ja, manchmal muss man auch über den eigenen Schatten springen und so wollte ich dieses ach so hoch gelobte Buch lesen. Es ist eine Art biografische Erzählung von Kim de l‘Horizon selbst, so wird es immer wieder beschrieben und es mag auch irgendwie sein ohne die Person zu kennen. Unsere Figur weiß nicht ob Mann- oder Frau-sein das wirklich Wahre ist, dennoch haftet sich die Figur immer und immer wieder an die weiblichen Parts der Familie. Egal wie die Figur tickt, es scheint ein Magnet zu sein - so jedenfalls meine Eindrücke. Die Figur fängt an in alten Wunden zu kramen und wühlt in der Tiefe der Erinnerungen sowie in der Tiefe der Seele der u.a. erkrankten Großmutter. Die Frage nach dem Sinn sowie der Bestimmung ob Mann oder Frau segeln hier über allem mit wie ein Damocles-Schwert. Die Figur sieht, so jedenfalls für meine Begriffe, in allen weiblichen Wesen der Familie Verrat und Missgunst. Es wird von der „Schweigekultur der Mütter“ berichtet und da war ich raus. Für mich völlig fremde Welten, da ich dies alles so nie kannte und auch kenne brach ich hier mit dem Buch. Um es irgendwie kurz zu machen: die Figur wühlt für meine Begriffe in sinnlosen und wahrlich nicht zur Erkenntnis bereichernden Tiefen der weiblichen Familienmitglieder nur um selbst irgendwie zur Selbstfindung zu kommen und sich selbst die Frage beantworten zu könne was die Figur denn nun eigentlich sei. Für viele mag das philosophisch klingen oder gar lyrisch, ich fand es extrem ermüdend und schwach, da ich aber auch eine andere Erziehung erfahren durfte als unsere Figur und auch nie nach der Selbstfindung suchen musste. Selbstfindung ist auch Selbstbestimmung! Da nützt es nichts anderen die Schuld dafür zu geben wenn es nicht so läuft wie gewünscht! Für die Figur wird es irgendwie nämlich zum Muss und sie verbeißt sich darin. Findet man aber so seine Antworten? Da ich diesbezüglich völlig anders ticke, war es einerseits eine interessante Lektüre aber sie bleibt Null im Gedächtnis hängen und ich kann sie auch nicht empfehlen. Warum? Der Schreibstil ist eine Katastrophe! Ich liebe Metaphern und verliere mich gern darin aber unsere Figur wird hier regelrecht damit erschlagen und somit verliert sich der gesamte Lesefluss im Nirwana. Es bleibt keine Möglichkeit Luft zu holen. Der Titel passt, ja, aber man nimmt weder Kim de l‘Horizon dieses ganze Geschwurbel ab, geschweige denn noch seiner Buchfigur. Zudem sind die extremen, und es sind wirklich extreme und äußerst vulgäre Worte hier zu finden, Situationen mehr verstörend als erhellend. Das Buch macht Null Spaß zu lesen, ihm zu folgen oder gar sich Gedanken darüber zu machen. Allein diese Bewertung zu schreiben, war eigentlich schon zu viel Aufmerksamkeit für dieses Buch. Interessant ist nur: mittlerweile ein Jahr später, im Jahr 2023, scheint Kim de l‘Horizon die Selbstsuche aufgegeben zu haben, denn er ist nun Kolumnist bei einer Zürcher Zeitung…vielleicht findet er dort was er sucht. 1 Stern hierfür

    Teilen
  1. 4
    22. Aug 2023 

    faszinierend, abstoßend, fantastisch, anders

    Ich bin auf diesen Roman gestoßen, als er auf der Long List des Deutschen Buchpreises 2022 erschienen ist und mich die Leseprobe des Verlages beeindruckt hat. Obwohl keine Freundin der gendergerechten Sprache, haben mich die ersten Seiten geradezu "geflasht".

    Worum geht es ? Hier setzt sich ein junger Mensch mit seiner Herkunft, seiner Familie, seiner Sexualität, seiner Sprache auseinander. Undzwar indem er auf die Suche geht, nach Schwemmgut ( Kapitel 1 ), nach der Kindheit ( Kapitel 2 ), nach der Blutbuche ( Kapitel 3 ), und nach Rosmarie ( Kapitel 4 ) um schließlich in Kapitel 5 in "Coming full spiral", in eine Spirale zu geraten.

    Dieser Mensch ist weder Mann noch Frau, weder kleiner Junge noch kleines Mädchen, sucht durch Aufarbeitung seiner Herkunft nach dem Schlüssel für sein Dasein bzw. "Sosein". Dies geschieht durch die Auseinandersetzung mit der Großmutter und Mutter in Briefen und in der Beschreibung von Begegnungen mit ihnen. Die Geschichte seiner Herkunft wird zurückverfolgt durch die Jahrhunderte, wo Frauen im 14. Jahrhundert als Hexen verfolgt wurden, bis in die Gegenwart, in der seine Mutter als Eishexe und sein Großmutter als Drachen bezeichnet werden.

    Der Roman hat mich durch seine Sprache beeindruckt. Es besteht eine Diskrepanz zwischen den liebevoll klingenden schweizerischen Ausdrücken ( z. B. Trukli für Kästchen, Meerträubelchen für Johannisbeere ) und dem in der Familie gesprochenen schweizer Dialekt und der von Mutter und Großmutter ausgehenden Gefühlskälte. Formulierungen wie "grauenvolle Lieblichkeit der Einfamilienhäuser", "Seine Seele steckt in seiner Kindheit fest, wie in einem Maulwurfgang", "Wimpernaufschlag wie ein Blutmondaufgang" oder "Edelweißblütenpelzchen" fand ich wunderbar.

    Dennoch, bis zuletzt habe ich mich gefragt, worum geht es hier ? Um die Suche nach dem eigenen Blut, der Identität, immer wieder durch die Verbindung zur Blutbuche im Garten, um sexuelle Einordnung, um die Prägung durch erzählte und nicht erzählte Geschichten.

    Ein in jedem Sinn eigenartiger Roman, der mich fasziniert und mit der Schilderung der Sexszenen gleichzeitig abgestoßen hat. Ich vergebe 4 Sterne und eine Leseempfehlung.

    Teilen
  1. »this text is my book of fear«

    Kim de l’Horizons literarisches Ich ist auf der Suche. Nach anderen Arten, auf dieser Welt zu leben, anderen Formen des Daseins.

    Kim sucht und Kim findet. Nicht nur eine unvergleichliche Stimme für deren persönliche Erfahrungen und Lebenswirklichkeit, sondern ganz neue Perspektiven zum Thema Identitätsfindung und Inklusion abseits binärer Gender-Grenzen. Besonders in den Passagen, die Kim aus Sicht derens kindlichen Ichs erzählt, spürt mensch, wie herzzerreißend schwer es ist, zu dir selbst zu finden, wenn die Sprache für dich keine Worte hat. Weil du durchs Raster fällst. Weil das nicht sein darf. Mädchen oder Junge, andere Arten des Daseins sind nicht vorgesehen. Wohl nicht von ungefähr hatte Kim als Kind das Gefühl, keinen eigenen Körper zu besitzen.

    »Mir scheint, dass in der Körpersprache der Männer ein altes Erbe weitergegeben wird, das in der Angst gelernt, im Wettkampf geübt und im Krieg gesprochen wird. Noch heute erfüllt es mich mit Entsetzen, wenn ich dieser Sprache begegne. Wenn junge Männer auf mich zukommen, mit dieser Aggression in den Schultern, mit dieser Breite im Schritt, mit dieser Sicherheit, in ihrem Körper richtig zu sein, dieser goddamn-cocky Brunft-Brüll-Sprache der Glieder, des Dominierens, Überwältigens, Verdrängens, BÄÄMM, HIER BIN ICH, DAS IST MEIN RAUM.«
    (ZITAT)

    »Das ist Fluch, das ist Einschränkung« sagte Kim auf dem ‘Großen Longlist-Abend’ im Literaturhaus Hamburg. Aber es ist nicht nur die Gender-Doktrin, mit der »Blutbuch« bricht, sondern auch die patriarchalische Tradition des klassischen Familienromans.

    Kim bindet das Narrativ derens Familiengeschichte nicht an die Väterlinie, sondern autofiktional an die von der Mutter der Erzählfigur recherchierte Mütterlinie. Der Fokus liegt so auf den nicht-männlichen Perspektiven, löst sich – trotz des Titels – auch von der Vorstellung, Identität sei nur an das Blut gebunden. Die Erzählung rauscht und wogt durch die Generationen, folgt dem Stammbaum von Frau zu Frau zu Frau. Jede dieser Ahninnen ist ein Schritt, mal vorsichtig, mal beherzt, auf dem Weg zur Selbstvergewisserung und historischen Verwurzelung.

    »Deine Hände waren für mich immer die grauenvollsten Tiere auf der ganzen Welt. Nicht weil sie mich bedrohten, weil sie mich packten und streichelten. Sondern weil ich immer spürte, dass ich ihre Geschichte erbe. Dass sich diese Erzählung schon in meinen Körper übersetzt hat und nicht herausfinden wird, wenn ich nichts mache, wenn ich nichts aus ihr mache, wenn ich sie nicht verwandle.«
    (ZITAT)

    Ausführlich und zentral spricht Kim von und mit der Großmeer (berndeutsch für ‘Großmutter’), die Stück für Stück an die Demenz verloren geht. Erzählt von ihrer oft geradezu überwältigenden Körperlichkeit, ihrer Dominanz, aber auch ihren Traumata. Meer. Großmeer. Da ist eine große Zärtlichkeit, unterströmt von Furcht und klagend-resigniertem Unverständnis, gegen das es anzuschreiben gilt.

    Kim droht in diesem wogenden mütterlichen Ozean unterzugehen, findet jedoch trotz allem zum eigenen Selbst und zu einer eigenen Sprache – und die ist wahnsinnig.

    Wahnsinnig mutig, wahnsinnig kreativ, wahnsinnig innovativ. Je nach Kontext erfindet sie sich immer wieder neu, oft gewagt und kompromisslos, doch meines Erachtens nie forciert oder unglaubwürdig. Kim wechselt die Stile, die Bedeutungsebenen, sogar die Sprachen. Immer wieder hielt ich beim Lesen einen Moment inne, in schierem Erstaunen, beeindruckt und überwältigt. Das ist ein literarischer Befreiungsakt, der sich dir unter die Haut schreibt.

    Wow. Einfach nur wow.

    »Hier aber, in dieser Insellosigkeit, in diesem Immermittendrinsein, im Binaritäts-Faschismus der Körpersprachen, sprechen meine Glieder ein Kauderwelsch, ein zerkautes Elfisch, ein zerbroken Dringlisch, ein in Wirrnis hin und her torkelndes Dazwischen und Damit. Ich weiß nicht, wie ich mich sonst formulieren könnte als: Ich weiß keine Sprache für meinen Körper.«
    (ZITAT)

    Fazit:

    »Blutbuch« ist sprachlich oft wunderschön, manchmal geradezu poetisch, leise und nachdenklich. Dann wieder zieht Kim ungebremst und schamlos¹ alle Register: derb, frech, laut, explizit sexuell. Das ist radikale künstlerische Freiheit, und das feiere ich. So originell, so kraftvoll, im besten Sinne respektlos gegenüber eingefahrenen Strukturen. Burning down the patriarchy, und die binäre Geschlechterdoktrin gleich mit.

    ¹ Übrigens meine ich ‘schamlos’ keineswegs abwertend! Scham ist zwar etwas universell Menschliches, aber auch ein soziales Regulativ, allzu oft ein anerzogenes Mittel der Ächtung unerwünschter Lebensentwürfe oder sogar Identitäten.

    »Blutbuch« hätte den Deutschen Buchpreis mehr als verdient. Ich werde bei der Preisverleihung im Publikum sitzen und die Daumen drücken!

    Teilen
  1. Intensiv, fordernd, ausdrucksstark

    „Aber das geht nicht, diese Ploterei, vorgetrampelte Pfade im Sand. Der Weg muss im Gehen entstehen.“ (Zitat Pos. 441)

    Inhalt
    Die Erzählfigur ist sechsundzwanzig Jahre alt, lebt in Zürich und schreibt an einem Brief an die an Demenz erkrankte Großmutter. Es geht darin auch um Dinge, über die nie geredet wurde, doch das ist nur ein kleiner Teil. Es geht um die bisherigen Lebenserinnerungen der Erzählfigur, doch auch das ist nur ein Teil, denn es geht auch um das Leben der Großmutter, um ein mögliches Füllen der Lücken in der Geschichte der Familie und es geht auch darum, den weiblichen Vorfahren im jahrhundertealten Stammbaum endlich eine Stimme zu geben. Dies alles fächert sich weit auf, wie die Äste der Blutbuche, jener Baum in Großmutters Garten, an den sich die Erzählfigur am besten erinnert.

    Thema und Genre
    Dieser autofiktionale Roman geht neue Wege, zeigt, wie ein Familien- und Generationenroman der Gegenwart aussehen kann. Die traditionellen Gesellschaftsstrukturen werden hinterfragt und aufgelöst. Es geht um die Suche nach dem „Ich“, welches nicht in die althergebrachten Normen „er“ oder „sie“ gepresst sein will, um das Ankommen im eigenen Körper und gleichzeitig ist es auch eine facettenreiche Suche nach neuen Möglichkeiten der sprachlichen Ausdrucksweise.

    Charaktere
    „Ich schreibe dir, weil: Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.“ (Zitat Pos. 331). Zu Beginn des Schreibens fühlt sich der Körper der nonbinären Erzählfigur wie eine Fremdsprache an, das Schreiben ist auch eine Suche nach der eigenen Körpersprache. Der natürliche Jahreslauf der Blutbuche aus Dastehen, Laub abwerfen, Ausharren, neues Laub bilden, Verwandeln, steht auch für den Weg der Erzählfigur.

    Handlung und Schreibstil
    Die Handlung ist in fünf Teile gegliedert. Die Abschnitte des ersten Teils entstehen aus Kindheitserinnerungen an die Großmutter, im zweiten Teil sind es Erinnerungen an Ereignisse und Situationen in der Kindheit der Erzählfigur. Im vierten Teil gehen die Recherchen viele Generationen weit zurück. Die Mutter der Erzählfigur hat die weibliche Blutlinie des Familienstammbaumes genau recherchiert und mit den auffindbaren Lebensgeschichten ergänzt und die Erzählfigur beschäftigt sich mit diesen Aufzeichnungen. Die völlig andere Erzählsprache im dritten Teil dagegen bewegt wird atemlos, rasant, manchmal rauschhaft, hemmungslos, als Ausdruck der ebenso hemmungslosen sexuellen Erfahrungen und Träume der Erzählfigur. Der fünfte Teil schließlich wird poetisch, geschrieben in englischer Sprache und es zeigt sich wieder, wie wenig Worte diese Sprache benötigt, um deutlich und intensiv Gefühle und Beschreibungen von Situationen und Naturerfahrungen wiederzugeben, wo die deutsche Sprache sich immer wieder in langen Satzgebilden verhakt. Die Erzählfigur wächst in Ostermundigen bei Bern auf. Im bernerdeutschen Dialekt heißt Mutter Meer, angelehnt an das französische mère, die Großmutter daher Großmeer, und das wird auch so geschrieben. Wasser ist, neben der Blutbuche, ein immer wiederkehrendes Motiv in diesem Roman und so gleiten die einzelnen Fragmente und auch die Sprache voran wie die Wellen des Meeres.

    Fazit
    Dieser Roman der Gegenwartsliteratur fordert uns Lesende mit allen Sinnen, denn er öffnet sich wie eine Wundertüte, wir finden eine Familiengeschichte, eine Generationengeschichte, eine Coming-of-Age-Geschichte, eine Geschichte über Freundschaft und die manchmal leise, manchmal aufbrausend pulsierende, zornige Suche nach einer Ausdrucksform für das eigene Ich und den Platz im eigenen Körper. Gleichzeitig ist es ein Streifzug durch die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten literarischer Ausdrucksformen.

    Teilen