Betrug: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Betrug: Roman' von Zadie Smith
4.5
4.5 von 5 (4 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Betrug: Roman"

London 1873. Mrs. Eliza Touchet ist die schottische Haushälterin und angeheiratete Cousine des einstmals erfolgreichen Schriftstellers William Ainsworth. Eliza ist aufgeweckt und kritisch. Sie zweifelt daran, dass Ainsworth Talent hat. Und sie fürchtet, dass England ein Land der Fassaden ist, in dem nichts so ist, wie es scheint. Mit ihrer Schwägerin besucht sie die Gerichtsverhandlungen des Tichborne-Falls, in der ein ungehobelter Mann behauptet, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne zu sein. Andrew Bogle, ehemaliger Sklave aus Jamaika, ist einer der Hauptzeugen des Prozesses. Eliza und Bogle kommen ins Gespräch und der Wahrheit näher. Doch wessen Wahrheit zählt? Basierend auf realen historischen Ereignissen ist »Betrug« ein schillernder Roman über Wahrheit und Fiktion, Jamaika und Großbritannien, Betrug und Authentizität und das Geheimnis des Andersseins.

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:464
EAN:9783462005448

Rezensionen zu "Betrug: Roman"

  1. Der gefährliche Fluss Lethe

    Mein Lese-Eindruck:

    „Lethe heißt der Strom des Vergessens – und genau das ist der gefährlichste Strom“, sagte Florian Illies in seiner Preisrede zur Verleihung des Ehrenpreises des Bayerischen Ministerpräsidenten. Es sei für jede Generation wichtig, in die „Stromschnellen der Geschichte“ einzutauchen, auch wenn sie unübersichtlich sind, denn jede Gegenwart sei zugleich „eine Ruine der Zukunft“. Er mahnte die Erinnerung an, weil alle Zeiten miteinander verwoben sind und warnte vor der Geschichtsvergessenheit. Wie Recht er hat!

    Und genau das, das Eintauchen in die Stromschnellen der Geschichte und das Verweben der Zeiten, genau das gelingt Zadie Smith in diesem Roman auf eine unglaublich leichte und unterhaltsame Art und Weise. Sie holt Vergangenes nach oben, sie belebt die Geschichte und legt damit den Finger auf die fauligen Stellen der Gegenwart.

    Ein historischer Roman? Das ist dieser Roman nur vordergründig. Es geht um einen historischen Prozess, der 1866 im viktorianischen Zeitalter Englands spielt: ja, das schon. Aber dieser Prozess ist eigentlich nur das Kaleidoskop, durch das die Autorin gesellschaftliche Entwicklungen und Bewegungen heranzoomt, die bis heute wirksam und nicht abgeschlossen sind.

    Das Cover und auch der Titel geben schon Hinweise.
    Zwei Männer stehen zwischen silbernen Löffeln. Der eine – Tichborne - wurde schon mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren, und der andere eben nicht. Und dieser andere ist es, der seinen Teil vom Kuchen einfordert und dabei auch zum Mittel des Betruges greift.

    Tichborne, Sohn aus altem englischen Adel, war vor Jahren wegen einer inakzeptablen Liebesgeschichte mit seiner Kusine zum Kolonialbesitz der Familie nach Jamaika geschickt worden. Er war nie angekommen; vermutlich war er bei einem Schiffsunglück umgekommen. Der Mann, der nun behauptet, Tichborne zu sein und sein Erbe einfordert, hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem gebildeten jungen Engländer, aber er hat einen Zeugen, der seine Identität bestätigt. Dieser Zeuge Andrew Bogle wird zu einer der Hauptfiguren des Romans: ein freigelassener Sklave aus den Zuckerrohrplantagen Jamaikas, der die Schrecklichkeiten der Rechtlosigkeit kennt, aber immer ruhig und beeindruckend würdevoll auftritt.
    Wieso lügt Bogle?
    Der Prozess fand enormen Widerhall in den unteren Klassen. Wieso engagieren sich die unteren Schichten so leidenschaftlich für einen offensichtlichen Betrüger?

    Es geht hauptsächlich um die Frage der Gerechtigkeit, daher auch das Thema eines Gerichtsverfahrens. Diese Frage wird verknüpft mit dem Problem der persönlichen Unfreiheit, und auch dieses Thema wird mehrfach aufgefächert in Abolitionismus, in weibliche Selbstbestimmung u. a. Einen zweiten wichtigen Verknüpfungspunkt sehe ich in dem, was wir heute Pauperismus nennen: der unverschuldeten Armut, die der Betroffene nicht selber ändern kann. Auch diesen Punkt fächert die Autorin auf und lässt in der Handlung verschiedene soziale Unruhen der Vergangenheit und der erzählten Zeit anklingen und Gesetze, die die Reichen reicher und die Armen weiter ärmer gemacht haben.

    Sie klagt niemals an, sie berichtet nur, aber dennoch wird die nach wie vor ungebrochene Macht der alten privilegierten Schichten deutlich.

    Und genau hier liegt auch der eigentliche Grund für den Prozess: da fordert einer der dauerhaft und chancenlos Entrechteten Gerechtigkeit ein. Der Versuch misslingt, der „Überbau“, wie Marx es nennen würde, ist mächtiger. Er wird wegen Betrugs verurteilt.

    Der Betrug liegt aber nicht im Betrugsversuch eines Einzelnen, sondern hier sind ganze Generationen betrogen worden: um ihre persönliche Freiheit, um den wirtschaftlichen Lohn ihrer Arbeit und um beides.

    Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Die Autorin zerhackt die Handlung in unzählige kleinere Kapitel Vermutlich will sie damit die Erscheinungsweise der viktorianischen Romane als Fortsetzungsromane imitieren. Aber diese ständigen Sprünge zwischen den Zeiten, den Personen und den Schauplätzen, die Vielzahl an Querverbindungen fordern den Leser heraus. Auf der anderen Seite verleiht die Autorin den erzählten Fragen damit aktuelles Leben. Ob das der zementierte Gegensatz Arm-Reich ist, Ausbeutung im weitesten Sinn, Menschenrechte, Frauenbild, Rollenzuschreibungen, Fake News, Populismus etc. – alles hat einen Bezug zu heute.

    Und der Leser erkennt, dass die erzählten Probleme nicht in den gefährlichen Fluss Lethe gefallen sind, sondern nach wie vor existieren. Und Zadie Smith legt leicht und elegant ihren Finger darauf.

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  1. Gerichtsreport aus dem viktorianischen England

    Kurzmeinung: Wirkt wie ein Spiegel.

    Worum gehts? Um einen Gerichtsprozess, der in den Jahren 1871 bis 1874 in London geführt wurde und den Zadie Smith zum Aufhänger ihres neuen Romans „Betrug“ macht, The Fraud“ heißt der Roman auch im englischen Original.
    Dabei handelt es sich strenggenommen um zwei Prozesse, die hintereinander geführt werden, einmal um einen zivilrechtlichen Prozeß, bei dem die Identität des Klägers Sir Roger Tichborn bewiesen werden soll, der behauptet, der verschollene Erbe eines großen englischen Vermögens zu sein - und daran anschließend um ein strafrechtliches Verfahren wegen Identitätsdiebstahls.
    Der Tichborn Fall, der in London verhandelt wurde, zog seinerzeit große mediale Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl streng genommen kein Zweifel daran bestehen konnte, dass der Mann aus Australien nicht der totgeglaubte wiederaufgetauchte Roger Tichborne sein konnte, , – hatte der vorgebliche Tichborn eine breite Anhängerschaft und Rückhalt beim einfachen Volk, das die Augen vor unwiderlegbaren Tatsachen verschloss und sich aus dem, was es glauben wollte, eine eigene Wahrheit zurechtzimmerte. Verschwörungstheorien und Fake Facts standen hoch im Kurs. Alles ganz modern!

    Den Gerichtsprozeß beobachten zwei Damen aus demselben Haushalt, nämlich aus demjenigen des Vielschreibers William Harrison Ainsworth (1805 – 1882). Seine Biografie ist in Zadie Smith Roman verwoben. William Harrison Ainsworth schrieb mit Leidenschaft schwülstige Histoschinken, und hielt sich viel zugute auf seine literarischen Fähigkeiten.

    Der Kommentar:
    Zadie Smith widmet sich zwar einem historischen Sujet, nichtsdestotrotz bringt die Autorin den Roman thematisch mit der Themen der Zeit in Berührung: Rassismus, Misogynie, Menschenrechte, Würde des Menschen, Kolonialismus pur und Folgen des Kolonialismus, Funktion und Grenzen des Journalismus, Manipulation und Blendung einer unkritischen Menge, Machtspielchen und Charisma, Aufgeblasenheit der männlichen weißen Oberschicht. Und auch Fake News und Fake Fakts sind keine reine Erfindung von heute.
    Im Hause Ainsworth ist man im Prinzip fortschrittlicher als anderswo, aber Zadie Smith zeigt, dass selbst von den aufgeschlossensten Köpfen der Gesellschaft, die Fahne der von ihnen verfochtenen Prinzipen von Gerechtigkeit und Gleichheit lediglich in der Theorie hochgehalten wird, sie aber doch scheitern, wenn es in der Praxis darauf ankommt. Und mit ihnen die ganze westliche Gesellschaft.

    Mit diesen Bezügen zur Realität moderner Gesellschaften macht Zadie Smith ihren Roman für mich interessant, denn ehrlich, für den Tichborne-Fall von anno dunno, interessiere ich mich pe se nicht die Bohne.
    Der Roman ist kunstvoll komponiert, macht mit der weiblichen, Grenzen überschreitenden Heldin Eliza Touchet, sie ist die ältere Cousine von William Ainsworth und führt ihm den Haushalt, richtig Spaß und findet in der zweiten Mrs. Ainsworth, einem Mädchen aus dem Volk, das kein Blatt vor den Mund nimmt, ein gleichwertiges Gegengewicht. Manchmal ist der Roman mit seinen zeitversetzten Erzählsträngen jedoch ein wenig verwirrend in seiner Opulenz, dennoch ist kein Wort zuviel und man kann den Roman keinesfalls „geschwätzig“ nennen; alle Informationen, die Zadie Smith gibt, haben eine Funktion und ihre Berechtigung.

    Fazit: Ein ziemlich ungewöhnlicher historischer Roman, der sich dem beliebten viktorianischen Zeitalter alles andere als süßlich annähert und mit vielen spitzen Bemerkungen die Leserschaft zu gewinnen vermag.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2023

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  1. 4
    18. Nov 2023 

    Gegenwartsanalyse auf Viktorianisch

    „Man sah sofort, dass dieser Mann ein Fähnlein im Winde war. Ein Mann ohne Mitte, der sich je nach Lage der Dinge in jede beliebige Richtung bugsieren ließ. Die wässrigen Augen offenbarten deutlich, dass er der Situation nicht gewachsen war, jedoch auch, dass ihn die vielen Menschen freuten und er vollauf bereit war, ihrem Glauben Glauben zu schenken, wo sie ihn doch mit solcher Vehemenz vertraten … Und wenn man es einmal so betrachtete, war es doch empörend, dass überhaupt jemand an ihm zweifelte! Und dennoch: Was, wenn sie ihm auf die Schliche kämen?“

    Ein Metzger aus Wapping versucht, sich als Erbe der wohlhabenden Tichbornes auszugeben. Obwohl sein Ziel der Aufstieg in die Ränge des Landadels ist, kommt paradoxerweise – ebenso wie beim Milliardär Trump - die größte Unterstützung aus dem einfachen Volk. Die Fans des „Anwärters“ von 1870 haben viel gemeinsam mit der MAGA-Gemeinde, vor allem ihr Gefühl allgemeinen Betrogenseins, ihre Wut auf die Privilegierten und ihre Verachtung für Fakten. Smith gewährt Trump In ihrem neuen Roman einen kongenialen Auftritt, ohne ihm jemals die Ehre der Erwähnung zu erweisen.

    Den eigentlichen Mittelpunkt von „Betrug“ bildet jedoch die kluge Mrs. Touchet, die als Haushälterin für den Cousin ihres verstorbenen Mannes arbeitet. Mrs. Touchets Arbeitgeber, William Ainsworth, ist ein enorm produktiver viktorianischer Romanautor. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verkaufte er mehr Bücher als Charles Dickens; 30 Jahre nach seinem Tod war er so gut wie vergessen. Mrs. Touchet entwickelt ein zunächst widerwilliges Interesse am Tichborne-Prozess, dem Medienereignis jener Zeit. Nahezu jeder in diesem Prozess, sei es auf der Anklage- oder Zeugenbank, vollbringt das Kunststück, zwei unvereinbare Realitäten mit sich in Einklang zu bringen, allen voran der Kronzeuge des „Anwärters“, der würdevolle und allem Anschein nach integre Mr. Bogle.

    Der „Anwärter“ ist der offensichtliche Betrüger in dieser Geschichte. Aber da sind noch einige mehr: Ainsworth, ein Fitzek des 19. Jahrhunderts, der sich selbst belügt und die Literatur zugunsten eskapistischen Schunds verrät. Mrs. Touchet mit ihrer heimlichen lesbischen Neigung und ihren hohen ethischen Ansprüchen, die im entscheidenden Moment zwar für ein halbwegs gutes Gewissen reichen, aber nicht dafür, das radikal Richtige zu tun. Vielleicht deshalb ist sie zunehmend fasziniert vom Mysterium des Mr. Bogle.

    Seine Gründe erfahren wir in Form seiner Lebensgeschichte, die die mittleren 100 Seiten des Romans einnimmt und für mich der weitaus interessanteste Teil des Buches war: Bogle ist der Sohn eines afrikanischen Prinzen, in Gefangenschaft auf Jamaica geboren. Interessant fand ich auch meine eigene Reaktion auf die Figur: Trotz seiner offensichtlichen Lügen war ich den gesamten Roman hindurch zutiefst verwirrt durch den Anschein seiner Ehrlichkeit. Eine milde Form der Faktenvergessenheit, ähnlich wie bei der Klientel des „Anwärters“.

    Aber Smiths Roman verhandelt noch eine Reihe weiterer aktueller Themen. Das Konzept des Medienhypes und der Fake News. Den unkritischen Fortschrittsglauben des immer mehr, immer größer. Die Verquickung von Konsum und Kolonialismus. Die Illusion der „geschenkten“ Freiheit – als habe irgendjemand die Macht, das Grundgut der Freiheit zu gewähren oder zu verweigern. Sogar die Impfgegner kommen vor – zeitgemäß bezogen auf die Pockenimpfung, die zu verweigern bodenlos dumm wäre. Das Schreiben an sich, das „Lügen, um die Wahrheit zu sagen“. Frauenrechte und Patriarchat. Unsere Blindheit gegenüber den eigenen Privilegien.

    Trotz aller thematischen Schwere hat der Text eine erstaunliche Leichtigkeit. Dazu trägt die Kürze der vielen Kapitel bei, aber vor allem natürlich Smiths meisterhafte Prosa, die das Komische ebenso beherrscht wie das Philosophische. Der ganze Roman ist ein einziger Triumph der Sprache. Nur: Er ist zu lang und zu komplex. Es ist wie mit einer vermeintlich luftigen Sahnetorte, die man durchaus mit Genuss verspeist – aber auf der Hälfte wünscht man sich um der Verträglichkeit willen, es gäbe weniger davon.

    Smith hat gründlichst recherchiert und Einiges an wörtlicher Rede aus den Originalaufzeichnungen des Prozesses übernommen. Aber die jahrzehntelange Vita Ainsworths, Bogle und sein Sklavenelend wie auch das öffentliche Drama des Prozesses werden lediglich durch die Wahrnehmung von Mrs. Touchet zusammen gehalten. Es entstand kein Gefühl der Kohärenz bei mir, eher eine Art konstanter Konfusion, wozu auch die zeitweilig undurchsichtige Chronologie beitrug. Die Figur der Mrs. Touchet jedoch entschädigt für vieles – sie ist eine so vielschichtige, widersprüchliche und lebendige Frau, wie sie einem selten zwischen zwei Buchdeckeln begegnet.

    Vor allem darum fand ich den Roman insgesamt enorm bereichernd, aber nicht nur: Ich verneige mich vor dem literarischen Können Smiths und ihrer scharfsinnigen Analyse der Gegenwart mit den Mitteln eines historischen Romans.

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  1. Das Leben, ein einziger Betrug?

    Nichts weniger als Schwindel und Verrat auf allen Ebenen des menschlichen Miteinander behandelt Smith in ihrem neuen Roman und bemüht dafür die Viktorianische Epoche mit seinen Zeitgenossen heran. Das 19. Jahrhundert der Briten ist geprägt von Konventionen und Hierarchie, aber eben auch noch vom Reichtum seiner Kolonien, Sklavenhandel und verarmten Fabrikarbeitern.
    In Großbritannien ist es die Familie Ainsworth, insbesondere dem Schriftsteller William, der in stetiger Konkurrenz zu Charles Dickens steht und auf Jamaika die Ländereien des Buckingham Chandos, Hope Estate, das beispielhaft für die Verwaltung und der Skalvenarbeit im Rohrzuckeranbau steht. Diese beiden doch sehr unterschiedlichen Lebenswelten lässt Smith im historischen Tichborne-Prozess (1871) zusammenlaufen, in Gestalt von Eliza Touchet und Andrew Bogle.

    Eliza Touchet ist William Ainsworths angeheiratete Cousine. Früh wird sie von ihrem Mann verlassen, kurz danach Witwe. Fast mittellos wendet sie sich an William und übernimmt sogar den Haushalt, als Williams erste Frau stirbt und ihn mit 3 Töchtern zurücklässt. Eliza hatte nicht nur eine besondere Beziehung zur Verstorbenen, sie erfüllt auch William einige pikante Wünsche. Nach einer neuerlichen Heirat Williams mit der deutlich jüngeren Magd Sarah und der Geburt der 4. Tochter, vertieft sich William in seine Arbeit als Autor und Herausgeber eines literarischen Magazin, reist durch Europa, immer bemüht an den großen Erfolg von "Jack Sheppard" wieder anzuknüpfen. Sarah hingegen, aus einfachen Verhältnissen und des Lesens und Schreibens nicht mächtig, interessiert sich für den Klatsch und Tratsch der Londoner Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass sie unbedingt dem aufsehenerregenden Prozess um die umstrittene Anwartschaft des angeblichen Roger Tichborne auf das Familienerbe beiwohnen will. In Begleitung von Eliza Touchet findet sie sich im Gerichtssaal wieder.

    Andrew Bogle, Sohn des einst von seinem afrikanischen Thron entführten und zur Sklavenarbeit auf Hope Estate gezwungenen Nonesuch Bogle, hat es dank Nonesuch, zu einer einigermaßen gesicherten Stellung auf der Farm gebracht und führt die Listen und Bücher. Aus dieser Position heraus, hat er die einmalige Gelegenheit mit dem Sachwalter des Chandos-Besitzes Edward Tichborne nach Großbritannien zu reisen. Bogle lernt dort ein gänzlich anderes Leben kennen, der Kontrast könnte nicht größer sein. Zurück auf Jamaika hat sich das Leben seiner Mitsklaven dramatisch verschlechtert. Etwas reift und brodelt in ihm. Und so kehrt er Jahre später mit seinem Sohn Henry und dem vermeintlichen Roger Tichborne, Edwards Sohn, als Fürsprecher und Kämpfer im Gerichtssaal, nach London zurück.

    Das Dickicht aus Namen und Orten erfordert Konzentration und eventuell ein paar Notizen, dafür belohnt uns die Autorin aber mit einem opulenten Schaubild einer Kolonialmacht und seinen weltumspannenden Ablegern. Schmerzlich zeigt sie uns die Welt hinter den Kulissen, lässt gesellschaftliche Normen schwanken, dröselt "Schlagzeilen" auf. Mit dem Prozess ermöglicht sie den Gedankentransport von Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen. Nicht der eindeutige Betrug, der hier erkannt und abgeurteilt wurde, sondern die Ambitionen der beobachtenden Massen, dessen Fürsprachen und Argumenten gebührt die Aufmerksamkeit.
    Die detaillierten Lebenswege unserer Protagonisten bestechen dagegen durch ihre Abweichungen von der vorherrschenden Norm, durch ihre kleinen Rebellionen im Alltag zementieren sie das echte Leben, dass jenseits aller Geschichtsdokumentationen schon immer existiert hat.

    Die Kapitel sind angenehm kurz gehalten. Zadie Smith scheut sich nicht ihre eigene Zunft ein paar mal an den Pranger zu stellen, lässt Eliza in 8 Bänden denken, aus welchem das vorliegende Buch auch besteht und der geneigte Leser und Sammler von Druckerzeugnissen wird gleich zu Beginn in ein Horrorszenario bugsiert. Mit all diesen kleinen Bonmots hielt mich Smith bei der Stange, bereitete mir Vergnügen und öffnete mir neue Perspektiven auf diese Zeit, dieses Land und diese Gesellschaft.

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