Bartleby, der Schreibgehilfe

Buchseite und Rezensionen zu 'Bartleby, der Schreibgehilfe' von Herman Melville
4.85
4.9 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Bartleby, der Schreibgehilfe"

«Ich möchte lieber nicht.» Dieser kleine Satz, mit Bestimmtheit ausgesprochen, ist Bartleby zum Lebensmotto geworden. Lange hat der unscheinbare Mann getan, was man ihm sagte, hat tagaus, tagein Kopistendienste bei einem New Yorker Kanzleibesitzer geleistet. Wie alle Werktätigen war er ein verlässlicher Mitarbeiter und neben Tausenden und Abertausenden anderen ein kleines Rädchen im riesigen Weltgetriebe. Doch eines Tages erklärt Bartleby unaufgeregt und mit freundlicher Stimme, er ziehe es vor, einen Auftrag nicht auszuführen. Was als kleine Geste des Ungehorsams beginnt, wächst sich alsbald zur universellen Verweigerungshaltung aus. Alle Anläufe des Kanzleibesitzers, seinen merkwürdigen Kopisten zur Vernunft zu bringen, zerschellen an dessen Entscheidung, lieber nicht zu wollen … Mit seiner liebenswert schrulligen Figur schuf Herman Melville einen Säulenheiligen der Pflichtverweigerung und Anorexie.

Format:Taschenbuch
Seiten:112
EAN:9783328108580

Rezensionen zu "Bartleby, der Schreibgehilfe"

  1. Tragischer Held

    „Ich möchte lieber nicht.“ Diesem nur vier Wörter umfassenden Satz entspringt eine selten erlebte (literarische) Traurigkeit auf der einen, humorvoll-groteske Verweigerungshaltung auf der anderen Seite. Seit kurzem gehört dieser Satz zu denen, die ich mein Lebtag nicht mehr vergessen werde.

    Hermann Melville kennen die meisten von uns als Autor von „Moby Dick“. Mit „Bartleby, der Schreibgehilfe“ hat er aber zwei Jahre später eine Kurzgeschichte veröffentlicht, die ebenso zum Kanon der Weltliteratur gehört und nun in einer quietschgelben und farbenfrohen Version im Penguin-Verlag erschienen ist (übersetzt von Elisabeth Schnack und mit einem Nachwort von H. M. Compagnon versehen, der die Erzählung und Bartleby in den literatur-(historischen) Kontext stellt).

    Erzählt wird die Geschichte eines tragischen Helden und dem ersten verewigten und auch sympathischen „Arbeitsverweigerer“ der Literatur, der aber auch Mitleidempfinden auslöst.

    Der Ich-Erzähler, ein New Yorker Anwalt Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt rückblickend die Geschichte seines Angestellten Bartleby, den er auf Grund höherer Arbeitsbelastung eingestellt hat. Von vornherein „glänzt“ Bartleby durch seine pflichtbewusste Arbeitsweise, seine kaum wahrnehmbare Anwesenheit (ja, hört sich kurios an, ist aber so). Doch dann...

    …fällt der bereits oben zitierte Satz. Und es beginnt eine tragikomische Odyssee, in der sich die Lage immer weiter zuspitzt, bis sie in einer Tragödie endet, die so nicht abzusehen war. Während andere literarische Figuren, nach denen Bücher oder Geschichten benannt sind (Oliver Twist, Nikolas Nickleby etc.) „episch“ breit ausgelegt sind, bedarf es hier nur gut 80 Seiten, um alles (oder nichts) über das Leben des Bartleby zu erfahren.

    So oder so: ich habe ein klares Bild von Bartleby vor Augen, bringe ihm den tiefsten Respekt entgegen (ich wünschte mir gelegentlich, ich hätte auch diese notwendige „Durchschlagskraft“, um meiner Vorgesetzten ein „Ich möchte lieber nicht.“ entgegenzuschmettern, damit sie evtl. versteht – ach, lassen wir das *g*) und habe genauso viel Mitleid mit ihm.

    Die Erzählung wird meine Stammbibliothek in jedem Fall nicht mehr verlassen :-).

    Somit ganz klare 5* und eine zeitlose Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

  1. 5
    10. Mai 2022 

    Totalverweigerer im Schreibkontor

    Mit “Bartleby, der Schreibgehilfe” hat die Penguin Edition eine kleine, wirklich nicht zu vergessende Perle in ihre Sammlung von Klassikerneuauflagen aufgenommen. Hermann Melville entführt den Leser in dieser Erzählung in die Welt der Wallstreet, bevor diese zum Zentrum der Weltfinanzen geworden ist. Ein kleines Anwaltskontor ist Handlungsort der Erzählung, in der uns der Anwalt aus seiner Sicht über das sehr besondere Personal seiner Kanzlei berichtet. 2 Angestellte hat er zunächst, die für ihn die stupide Arbeit des Kopierens seiner Korrespondenz und Arbeit verrichten. Verrückte Typen sind das: einer nur vormittags arbeitsfähig, der andere nur nachmittags, und doch funktioniert das Kontor und hält der Anwalt seinen Angestellten die Treue und geht auf seine naive, etwas weltfremde, aber ungemein sympathische Art auf die Schrullen der Mitarbeiter ein und lässt sie großenteils gewähren, während er das Optimum für seine Arbeit aus ihnen herausholt. Das Geschäft wächst und so wird ein weiterer Angestellter benötigt und nun holt sich der Anwalt einen weiteren Typen ins Kontor: Bartleby, der sich zunächst als leistungsfähig und -willig erweist und schnell eine gute Stelle im Arbeitssystem des Kontors einnehmen kann. Doch das bleibt nicht so. Bartleby entwickelt sich immer mehr zum Sonderling, verweigert aufgetragene Arbeiten mit dem immergleichen „Ich möchte lieber nicht“ und zieht sich immer mehr in seine speziell abgetrennte Ecke des Kontors zurück. Der Erzähler und Chef dieses Bartleby vermag mit seinen Mitteln nicht, diese Verweigerungshaltung zu durchbrechen und scheitert immer wieder an dem konsequenten Nein Bartlebys. Und so lebt Bartleby in seiner abgeschotteten Parallelwelt inmitten des ruhigen, aber doch geschäftigen Treibens des Kontors, das er gar nicht mehr verlässt, sondern zu seinem Heim macht. Immer mehr erweist sich, dass dieses Nebeneinander von Geschäft und dem Totalverweigerer Bartleby nicht weiterbestehen kann. Die Lösung, die der Anwalt für die verfahrene Situation wählt, ist aber nicht etwa der Rausschmiss Bartlebys, sondern sein eigener Umzug in ein anderes Büro. Doch auch das bringt nicht die Lösung des Problems und der Situation. Auch hier wird er Bartleby nicht los.
    Diese Erzählung hat mir ein ungemeines Lesevergnügen beschert. Nicht nur sind die (schriftstellerisch pointiert und treffsicher dargestellten) Typen die Lektüre mehr als wert. Auch der Schreibstil, der den erzählenden Anwalt treffsicher zu charakterisieren vermag und das Geschehen in einer transparenten Erzähllogik wiedergibt, unterstreicht dieses Lesevergnügen. Eine Ärmelschoner- und Tintenkleckserwelt wird hier entworfen, die eine untergegangene Ära zu einem humorvollen und aussagekräftigen, auch heute noch Bedeutung habenden Wiederaufleben verhilft. Die Welt, die im 20. Jahrhundert durch technischen Fortschritt ersetzt wurde durch die „tippenden Fräuleins“ ist hier noch bevölkert mit ehrgeizlosen, sich durch Langeweile quälenden Männern an Schreibpulten. Eine komplette Umwandlung dieser gesellschaftlichen Sphäre hat in der Nach-Bartleby-Zeit stattgefunden. Und doch bleibt der Typ des Totalverweigerers, wie ihn Bartleby repräsentiert einer, der in allen Zeiten wiederauflebt und seine besonderen Problemstellungen für alle, die in der Gesellschaft irgendwie mitmachen, hinterlässt. Die Erzählung ist deshalb auch heute noch eine literarische Perle mit Aktualität und Bedeutung. Und verdient absolut 5 Sterne von mir.

  1. Lesenswerte, nachdenklich stimmende Bürogroteske

    Der etwa 60-jährige Ich-Erzähler und Anwalt steigt recht humorvoll in die Geschichte ein, indem er von einem eigenwilligen Menschenschlag berichtet, mit dem er immer wieder zu tun hat: dem der Aktenkopisten und Schreibgehilfen. Ein Berufsstand, der in Zeiten omnipräsenter Kopierer, Drucker und Screenshots reichlich aus der Zeit gefallen scheint. Kein Wunder: Die Geschichte spielt im Jahre 1846, als New York eine aufstrebende, prosperierende Stadt war, in der zahlreiche Einwanderer für billige Arbeitskräfte sorgten.
    Berichtet wird von den drei Angestellten des Erzählers: Turkey ist am Morgen fleißig und behände, nach dem Genuss von zu viel Bier beim Lunch allerdings jähzornig und schlampig. Beim Kollegen Nippers verhält es sich fast genau anders herum. Einzig unkompliziert und verständig scheint der 12-jährige Auszubildende Ginger Nut zu sein. Der Erzähler ist ein toleranter Gemütsmensch, der seine Angestellten nimmt, wie sie sind, und sich bemüht, das Positive in ihnen zu sehen.

    Erhöhter Arbeitsanfall macht die Neuanstellung eines weiteren Kopisten notwendig. Auf das entsprechende Inserat erscheint ein Bewerber in der Kanzleitür: „Ich sehe die Gestalt jetzt noch vor mir – farblos sauber, mitleiderregend anständig, rettungslos vereinsamt. Es war Bartleby!“ Er bekommt den Job, den er zunächst klaglos, mit großer Beflissenheit und zur vollen Zufriedenheit des Chefs erledigt. Bartleby ist bald morgens der Erste und abends der Letzte. Erste Irritationen ergeben sich, als er eine andere Tätigkeit als das Kopieren von Dokumenten erledigen soll. „Ich möchte lieber nicht.“, wird seine höflich vorgetragene Standardantwort werden – egal ob es um einen routinemäßigen Aktenvergleich oder einen Botengang geht. Nach einiger Zeit stellt er das Arbeiten sogar vollkommen ein.

    Was sich daraus entspinnt, kommt einem grotesken Kammerstück gleich, wobei uns der Erzähler tiefen Einblick in seine Psyche und seine Empfindungen gewährt. Der Anwalt ist sich bewusst, dass er die Arbeitsverweigerung nicht tolerieren darf. Er macht einige (hilflose) Versuche, den Kopisten zu einem Einlenken und zur Wiederaufnahme seiner Tätigkeit zu bewegen. Er scheitert dabei immer wieder an dessen Schweigen, aber auch an seiner eigenen Großzügigkeit, seinem Mitleid und seiner Menschenliebe. Der Anwalt denkt sich zunehmend in die einsame, freu(n)dlose Figur seines Kopisten hinein, was ihm Härte und Durchgreifen unmöglich macht.

    Der Verlauf der Geschichte liest sich tragikomisch, wobei in der zweiten Hälfte das Tragische überwiegt. In die Sprache Melvilles habe ich mich sofort verliebt: wo begegnet einem schon ein reizbarer Branntweincharakter, süßer Gewissenstrost, brüderliche Schwermut oder sanftmütige Unverschämtheit? Melville beschreibt seine skurrilen Charaktere mit liebevoller Zuwendung, hat die Erzählung auch literarisch eingängig strukturiert. Inhaltlich weist sie Ähnlichkeiten mit einer Parabel auf. Das Ende kommt plötzlich und lässt viel Spielraum für Auslegung, Diskussion und Interpretation. Sehr hilfreich habe ich das Nachwort von H.M. Compagnon empfunden, der das Werk in den historischen Kontext einordnet, Parallelen zum Leben des Autors zieht und eben auch Informationen zur unterschiedlichen Rezeption des Werkes liefert.

    Ich bin dem Verlag mal wieder für die farbenfrohe Penguin Klassikeredition sehr dankbar, die für günstiges Geld einen leuchtenden Hingucker im Bücherregal schafft. Mit der kompetenten Übersetzung von Elisabeth Schnack halte ich die Neuauflage von „Bartleby, der Schreibgehilfe“ für überaus gelungen. Das Büchlein sei auch allen Neueinsteigern in die klassische Literatur empfohlen. Es ist sehr verständlich geschrieben und gewährt leichten Zugang. Ein tolles Buch, das Lust auf mehr Klassikerlesen macht!

  1. Ein Wohlfühl-Klassiker

    Ein Wohlfühl-Klassiker

    Ab und an lese ich gerne mal einen Klassiker, doch nicht immer ist es ein so positiver Eindruck wie hier in dem Werk von Herman Melville. Ich fühlte mich direkt wohl in der Geschichte, als der Erzähler uns von seinem Alltag in der Kanzlei erzählt, die Untergebenen vorstellt und schließlich zum Neuzugang, dem Schreibgehilfe Bartleby, übergeht.
    Bartleby macht zu Beginn einen tollen Job, sehr zur Freude seines Chefs. Doch doch als er dann plötzlich anfängt auf jede Anforderung mit dem Satz: Ich möchte lieber nicht zu antworten, wird dies zur echten Zerreißprobe für dieses Arbeitsverhältnis.
    Der Erzähler versucht so einiges um Bartleby aus seiner Lethargie zu reißen, doch nichts fruchtet. Obwohl er keine Leistung mehr bekommt, kann er sich trotzdem aus moralischen Gründen nicht von ihm trennen. Er muss am Ende drastische Wege gehen, die für Bartleby nicht gut enden…..

    Dieses kleine Büchlein hat es in sich. Der Schreibgehilfe Bartleby stand für mich für einen Menschen, der keine Lust, keine Energie mehr für die Anforderungen des Lebens erübrigen konnte. Auch wenn wir die Zeit, in der wir uns befinden, viele Jahre zurückdrehen müssen, scheint es den Menschen auch damals nicht anders ergangen zu sein als heute. Einige zerbrechen an dem System und sind dem nicht gewachsen, zumindest ist dies meine Erklärung für Bartlebys Weigerung zu arbeiten und später auch zu essen. Ob dies tatsächlich auch die Sicht des Autors darstellt, kann ich nur vermuten, da es nicht abschließend geklärt wird, es bleibt offen.

    Ein Klassiker, der mir unendlich viel Spaß gemacht hat. Dabei spielt der angenehme Schreibstil und die amüsante Erzählweise eine große Rolle. Aber auch der Sinn, den ich mir erarbeitet habe,hat mich sehr beeindruckt.

  1. Bartleby, die Leerstelle

    "Bartleby, der Schreibgehilfe" mit dem Untertitel "Eine Geschichte aus der Wall Street" erschien 1853, zu einer Zeit, als in der prosperierenden kaufmännischen Gesellschaft New Yorks der Bedarf an Kopisten enorm groß war. Da es noch keine Technik gab, Abschriften oder Kopien von amtlichen Dokumenten schnell und zuverlässig zu erstellen, musste jeder Anwalt oder Notar eine ganze Reihe Schreibkräfte zur Verfügung haben, die jedes Aktenstück Wort für Wort mehrmals abschrieben. Ein solcher Anwalt ist der Erzähler der Geschichte, der sich als etwas prätentiös-umständlicher Berichterstatter einführt, aber durchaus Humor besitzt. Seine beiden Kopisten (außerdem beschäftigt er noch einen Lehrling) sind originelle Typen und werden mit liebevoller Sorgfalt charakterisiert. Sie können die Arbeit nicht mehr bewältigen, und so stellt der Erzähler Bartleby ein, einen "farblos sauber, mitleiderregend anständig, rettungslos vereinsamt" aussehenden Mann. Bartleby kopiert ordentlich, aber als er zum erstenmal gemeinsam mit den anderen Kopisten eine Abschrift auf Richtigkeit überprüfen soll - eine langweilige Arbeit, die aber immerhin ein Minimum an Teamwork verlangt -, reagiert er mit dem klassisch gewordenen Satz: "Ich möchte lieber nicht".

    Diese Art sanfter, aber unnachgiebiger Verweigerung erstreckt sich nach und nach auf immer mehr Arbeitsgänge, bis Bartleby gar nichts mehr weiter tut, als aus dem Fenster zu schauen, obwohl da nur eine Backsteinmauer zu sehen ist. Im Grunde wäre es dem Erzähler ein Leichtes, ihn hinauszuwerfen, doch Bartlebys stille und fügsam wirkende Weigerung, die Kanzlei zu verlassen - auch gegen Abfindung, auch auf Drohung mit der Polizei -, entwaffnet den verzweifelten Anwalt vollkommen.

    Bartleby ist berühmt geworden. Sein Verhalten ist ein Sinnbild des Widerstands gegen entfremdete Arbeit, überhaupt gegen die Zumutung der Arbeitswelt, dass der Mensch während der Arbeitszeit jede Individualität abzulegen hätte. Zugleich ist aber sein Widerstand, besonders gegen Ende hin, keineswegs kämpferisch oder auch nur logisch. Er ist kein "Streikender" im Sinne eines Arbeiters, der für seine Rechte kämpft. Seine Verweigerung erfasst schließlich alle Lebensbereiche: letztlich "möchter er lieber" gar nichts anderes mehr tun, als blicklos vor einer Mauer zu stehen. Was ihm genau fehlt, erfahren wir nie; sein Seelenleben bleibt wie sein Gesicht eine Leerstelle. Seinem Gegenpart, dem Erzähler, begegnen wir mit mehr Verständnis, weil er direkt zu uns spricht und sein Verhalten zu erklären sucht. Doch auch bei ihm bleiben einige Fragen offen; die Versuche, den renitenten Schreibgehilfen loszuwerden, sind (jedenfalls nach unseren heutigen Maßstäben) bemüht, aber seltsam planlos und inkonsequent, und sein Interesse an der Person Bartlebys bleibt ziemlich oberflächlich.

    Die Geschichte hat im Lauf der Zeit viele Deutungsversuche erfahren, darunter auch reichlich verstiegene. Das durchdachte Nachwort unserer Penguin-Ausgabe gibt darüber einige Auskünfte. Die einzig wahre Deutung scheint es ebensowenig zu geben wie etwa für Kafkas Literatur, aber gerade das macht "Bartleby" so reizvoll und vielschichtig. In unserer Zeit der zunehmenden Vereinzelung und Vereinsamung ist Bartleby sogar eine sehr modern anmutende Figur. Höchstpunktzahl für ein Buch, das nach wie vor eine große Leserschaft verdient.

  1. Bartlebys aller Länder, vereinigt euch!

    New York in den 1850er-Jahren: An der Wall Street führt ein namenloser Anwalt ein recht genügsames Leben. Um große Fälle bemüht er sich gar nicht erst, in seiner Kanzlei herrscht der alltägliche Bürowahnsinn. Dies ändert sich zunächst auch nicht, als er mit Bartleby einen neuen Schreibgehilfen einstellt. Der unauffällige, blasse Mann arbeitet äußerst fleißig und gewissenhaft. Doch eines Tages lehnt Bartleby es schlichtweg ab, seine Arbeit noch einmal Wort für Wort zu prüfen. "Ich möchte lieber nicht", lautet seine Antwort, die zum geflügelten Wort wird. Denn es bleibt nicht bei dieser einen Verweigerung...

    Vor knapp einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. Der jüngste knallgelbe Beitrag dieser Reihe ist Herman Melvilles 1853 erschienene Erzählung "Bartleby, der Schreibgehilfe" in der Übersetzung von Elisabeth Schnack und versehen mit einem Nachwort von H. M. Compagnon. Es ist eine lobenswerte Entscheidung des Verlags, denn "Bartleby" verblüfft nicht nur mit wunderbaren Figuren, sondern auch mit einer zeitlosen Aktualität.

    Wer kennt sie nicht, diese Bürotätigkeiten, die nicht nur äußerst lästig scheinen, sondern deren Sinnhaftigkeit man bestenfalls hinterfragt oder schlechtestenfalls einfach nur hinnimmt? So mag sich auch Bartleby fühlen, als sein Chef, der namenlose Ich-Erzähler, von ihm fordert, mit ihm gemeinsam ein kurzes Aktenstück zu vergleichen. Dennoch sorgt das sanft ausgesprochene "Ich möchte lieber nicht" für Bestürzung beim Anwalt, und es ist aufregend zu lesen, wie sehr er sich bemüht, seinen Angestellten wieder auf den "rechten Weg" zu bringen - und wie sehr er gleichermaßen scheitert. Denn Bartleby entpuppt sich als "faszinierendster Arbeitsverweigerer der Weltliteratur", wie es im Klappentext heißt. Jede zusätzliche Aufgabe, ja sogar die Aufforderung, das Büro umgehend zu verlassen, kontert der Schreibgehilfe mit den Worten "Ich möchte lieber nicht".

    Dabei ist der Ich-Erzähler gar nicht einmal der Prototyp eines fordernden oder verständnislosen Arbeitgebers. Ganz im Gegenteil, macht er doch gleich zu Beginn deutlich: "Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen war, dass die bequemste Lebensführung die beste ist" (S. 6). Doch mit dieser Bequemlichkeit ist es vorbei, gerade eben weil jemand nicht arbeiten möchte. Diese Doppeldeutigkeit, den Triumph des Ungehorsams gegen eine Ja-Sager-Gesellschaft, den Sieg des Individualismus über den Kapitalismus, macht Melville brillant deutlich und die Erzählung ganz nebenbei zu einem Stückchen mit höchster Aktualität.

    Melvilles Schreibstil ist dabei so einnehmend wie unterhaltsam. Die Charakterisierung der herrlich verschrobenen Figuren gelingt ihm eindrücklich bis in die kleinsten Nebenfiguren hinein. Die mit feinsinnigem Humor unterlegte erste Hälfte verwandelt sich mit zunehmender Verweigerung Bartlebys zu einer tragischen Groteske. Untermalt wird das Ganze mit einer gehörigen Portion Rätselhaftigkeit, denn letztlich bleiben die Motive des Schreibgehilfen nebulös und regen die ohnehin schon geschärften Sinne der Leser:innen zum Nachdenken an.

    Und so bringt "Bartleby, der Schreibgehilfe" nicht nur wegen der auffälligen Colorierung Farbe ins Bücherregal, sondern auch wegen seines zeitlosen Inhalts. "Bartlebys aller Länder, vereinigt euch!", möchte man den stillen Büroangestellten dieser Welt zurufen und sich in Gedanken an diese wunderbare Erzählung schon auf den Gesichtsausdruck der Chefin freuen, wenn man ihr beim nächsten Arbeitsauftrag sanft, aber bestimmt entgegnet: "Ich möchte lieber nicht!"

  1. 4
    20. Apr 2022 

    Wer schreibt hier nicht?

    Ein Anwalt in New York Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Seine kleine Kanzlei läuft in ruhigen Bahnen. Zwei Schreibgehilfen und ein Lehrling bewältigen ihre Aufgaben mit gewissem Murren, aber doch zuverlässig. Nachdem der Anwalt eine weitere Aufgabe zugewiesen bekommt, stellt er einen weiteren Kopisten ein, Bartleby. Zunächst erweist sich dieser als durchaus fleißig, doch als es daran geht, seine Abschriften nochmal Korrektur zu lesen, weigert er sich freundlich mit den Worten „Ich möchte lieber nicht“, die ihm übertragene Aufgabe zu übernehmen. Der Anwalt ist konsterniert, findet aber keine richtige Antwort auf das Verhalten seines Angestellten.

    Bartleby ist schon ein komischer Kauz, er erklärt sein Verhalten nicht und der Anwalt findet keinen richtigen Umgang für ihn. Es wirkt nicht einmal so, als würde Bartleby sein Verhalten genießen. Er scheint nicht in der Lage zu sein, es zu ändern. Mit der Zeit versucht der Anwalt, Bartleby loszuwerden, doch auch das nicht sehr erfolgreich. Tragisch ist schließlich das Ende der Geschichte. Da es keine großen Erklärungen gibt, kommt man bald ins Grübeln, was Bartleby zu seinem Verhalten geführt hat. Auch das Nachwort ist da nicht sehr aufschlussreich. Betont wird die realistische Erzählweise, die man dem Autor sofort abnimmt. Man kann sich gut vorstellen, dass es in den Schreibbüros und Anwaltskanzleien so zugegangen ist. Die ruhige gelassene, aber stetige Art, die noch nichts von der heutigen Hektik hatte. Warum ist selbst diese Geruhsamkeit für Bartleby zu viel? Man weiß es nicht. Hat Bartleby ein traumatisches Erlebnis hinter sich? Doch warum erzählt er nichts von sich? Man kann sich an seiner Persönlichkeit reiben und doch froh sein, dass man nur von ihm liest.

    Eine erstaunliche kleine Erzählung, mit der man sich gedanklich länger befasst, als man zunächst vermutet hätte.