Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist: Roman' von Gert Loschütz
3.7
3.7 von 5 (10 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist: Roman"

Für Karsten Leiser ist es nicht Sommer, wenn es nicht nach Kamille riecht, sind Pappeln keine Pappeln, wenn sie nicht an einem Kanal stehen, sind Straßen keine richtigen Straßen, wenn es keine Chausseen sind. In einer schlaflosen Nacht erzählt er seiner Freundin Vera, warum das so ist: Seine Landschaft ist immer die Landschaft seiner Kindheit geblieben, die er eines Morgens für immer verlassen musste. »Sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst«, sagt die Mutter am Vorabend ihrer Flucht aus der DDR zu dem Jungen. Und Karsten prägt sich alles ein und kehrt nun jedes Mal, wenn sich der besagte Tag jährt, zu seinen Erinnerungen zurück. Ganz gleich, wie weit er als Reisejournalist reist, in wie vielen Hotels er übernachtet, um die entscheidende erste Nacht im Hotel ungeschehen zu machen, die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein, wie jener lederne Koffer von damals, den er einfach nicht loswird. In dem schlanken, überaus kunstvollen Roman »Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist« legt Gert Loschütz, der große Vergangenheitsergründer der deutschen Gegenwartsliteratur, unerschrocken die Wut und Verzweiflung eines Mannes frei, dem jeder Mittelpunkt genommen wurde.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
Verlag: Schöffling
EAN:9783895611582

Rezensionen zu "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist: Roman"

  1. Der Orteverlasser

    Karsten Leiser ist es als Reisejournalist gewohnt, an fremden Orten zu sein. Doch die Sehnsucht nach der Heimat, der ersten, lässt ihn nicht los. Als Zehnjähriger musste er mit seiner Mutter aus der DDR fliehen. Das ist zwar schon rund drei Jahrzehnte her. Aber vor allem an jedem Jahrestag des Ereignisses holen ihn die Vergangenheit und das Heimweh ein, wie er seiner Freundin Vera in einer schlaflosen Nacht berichtet.

    „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ ist ein Roman von Gert Loschütz, der erstmals bereits 1990 unter dem Titel „Flucht“ erschienen ist.

    Meine Meinung:
    Die Struktur des Romans ist raffiniert und auf beeindruckende Weise verschachtelt. Erzählt wird nicht streng chronologisch, sondern es gibt immer wieder Zeitsprünge zwischen unterschiedlichen Punkten der Vergangenheit. Das ist besonders am Anfang recht verwirrend und herausfordernd. Dennoch sind die Verflechtungen und Verknüpfungen der einzelnen Episoden sehr gelungen.

    Auch in sprachlicher Hinsicht ist der Roman durchaus überzeugend. Kreative Wortneuschöpfungen, eine starke Atmosphäre und eindringliche Bilder machen für mich den Stil aus. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Karsten, der sich jedoch nach und nach als unzuverlässiger Erzähler entpuppt und zum Teil auf die direkte Ansprache zurückgreift.

    Inhaltlich hat mich der Roman hingegen enttäuscht. Das liegt einerseits in der Person des Protagonisten begründet, der meiner Ansicht nach ein nur schwer erträglicher Charakter ist. Mit seinem ständigen Selbstmitleid und seiner wehleidigen und gleichzeitig wenig empathischen Art strapazierte Karsten meine Nerven. Zwar gibt es solche unsympathischen Menschen durchaus im wahren Leben, was ihn authentisch erscheinen lässt. Seine Verzweiflung und sein Leiden sind für mich jedoch überhaupt nicht nachvollziehbar. Ich wollte ihm gerne zurufen: „Heul leiser, Karsten!“

    Andererseits konnte mich auch die Flucht aus der DDR, eigentlich ein reizvolles Thema, nicht fesseln. Bei der Lektüre hatte ich das Gefühl, dass ich eine solche Geschichte schon vorher mehrfach und in unterhaltsamerer Umsetzung gelesen habe. Trotz der nur rund 200 Seiten hat der Roman daher seine Längen.

    Interessanterweise nimmt der Autor diese Kritik sogar ein wenig vorweg, indem er eine Figur den Egoismus Karstens und die Belanglosigkeit der Geschichte ansprechen lässt. Leider sind die Erwiderungen darauf aber nicht geeignet, diese Vorwürfe zu entkräften, sodass ich mich in meinem Empfinden bestärkt sehe. Erschwerend kommt hinzu, dass einige Passagen auch nach den letzten Seiten für mich befremdlich und nicht zu entschlüsseln waren.

    Das stimmungsvolle Cover ist sowohl ansprechend als auch passend. In der Nachbemerkung erklärt der Autor, warum der ursprüngliche Titel „Flucht“ aktuell keine gute Wahl ist. Den neuen Titel finde ich aufgrund des Wortes „Ballade“ allerdings auch etwas unglücklich.

    Mein Fazit:
    Mit „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ konnte mich Gert Loschütz in sprachlicher Sicht zwar beeindrucken. Auf der inhaltlichen Ebene konnte mich der Roman hingegen nicht begeistern.

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  1. "Weil alles Wichtige nicht erzählt werden kann"

    Gert Loschütz gelingt mit seiner „Ballade, vom Tag, der nicht vorüber ist“ ein kleines Kabinettsstückchen. Er legt einen Roman vor, der in seinen Deutungsmöglichkeiten so komplex wie ein Gedicht ist, spielt in seiner Erzählführung immer wieder auf die im Titel geführte Balladenstruktur an und fordert den Leser so unablässig zu Interpretation und Mitdenken auf. Die Geschichte ist kurz skizziert: der Protagonist Karsten floh als Kind mit seiner Mutter aus der DDR in den Westen. Der Tag der Flucht hat sich als lebensveränderndes Moment in seine Erinnerung eingebrannt, mehr Trauma als Befreiung, sodass der Erzähler unfähig ist, sich dieses Ereignisses zu entledigen, es emotional loszulassen und sich der Zukunft oder zumindest der Gegenwart zuzuwenden. Stattdessen wird sein Leben von Rückblenden, Heimatverlust, Heimatsehnsucht und Unrast geprägt – ein glückliches, erfülltes, konstantes Dasein ist im langen Schatten der unerreichbaren geliebten und auch glorifizierten Heimat nicht möglich.

    Inhaltlich sollte man keine allzu hohen Erwartungen haben: der Roman bietet keinen spannenden Plot, die sich auf verschiedene Schauplätze aufspaltende Handlung gleicht eher fragmentarischen Episoden, deren Zusammenhang durch das Motiv des Heimatverlusts hergestellt wird. Damit man sich zwischen den unterschiedlichen Settings nicht verliert, nimmt Loschütz bei Orts- und Zeitwechseln den Faden des letzten vorangegangenen Moments in dieser Umgebung wieder auf. Dies gelingt ihm ausgezeichnet, denn es entsteht nicht der Eindruck von Wiederholung, sondern eher von spiralenhaftem Erzählen mit deutlichen Reminiszenzen an den Refrain, den man von Balladen kennt.

    Auch mit den Figuren kann man sich in der „Ballade“ schwertun: der Protagonist ist ein unzuverlässiger, inaktiver, leidender Erzähler, dem man in seinem ganzen Weltschmerz nicht allzu viel Sympathie entgegenzubringen vermag. So wie er nicht fähig ist, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen, gelingt es ihm auch nicht in Bezug auf den Leser. Tatsächlich schwebt man immer wieder am Rand des Überdrusses im Angesicht dieser konsequenten Rückwärtsausrichtung.

    Allerdings ist der Roman trotzdem ein sehr lohnenswerter, denn Loschütz spielt virtuos mit Andeutungen, Anspielungen, Hinweisen, Motiven und Symbolen. In fast jeder Passage verbirgt sich ein Subtext, der das Konzept „Heimat“ umreißt und Ansichten zu „Heimatverlust“ transportiert. Sprachlich ist der Roman außerordentlich gelungen, atmosphärisch auf den Punkt mit zahlreichen treffenden Formulierungen. So entsteht ein sehr anspruchsvoller, höchst fordernder und sehr dichter Text, der in seinen Deutungsmöglichkeiten der Lyrik gleichkommt. Wer Freude am Spiel der Interpretation hat, kommt hier voll auf seine Kosten.

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  1. Ein Rückwärtsgucker und Nichtdrüberwegkommenwollender

    Gert Loschütz, geboren 1946 in Genthin, kam 1957 mit seinen Eltern in den Westen. Für seinen 2018 erschienenen Roman "Ein schönes Paar" stand das Schicksal seiner Familie Pate. Auch der Roman "Flucht" aus dem Jahr 1990, 1988 zunächst als Hörspiel "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" erschienen und nun unter diesem Titel im Verlag Schöffling 2022 neu aufgelegt, ist autobiografisch inspiriert. Im Mittelpunkt steht ein Ich-Erzähler, der auch 28 Jahre nach seiner Flucht als Zehnjähriger in den Westen nicht zur Ruhe kommt.

    Ein schicksalhaftes Datum
    Karsten Leiser wird den Maitag Ende der 1950er-Jahre, als er ohne jedes für ihn erkennbare Vorzeichen und damit ohne jede Möglichkeit, Abschied zu nehmen, mit seinen Eltern in den Westen flieht, nie vergessen. Plothow, die fiktive Kleinstadt im Havelland, die auch in "Ein schönes Paar" Herkunftsort der Familie war, ist für ihn Kindheit, Sehnsuchts- und Erinnerungsort zugleich. Obwohl die Mutter genau wie der Vater in den Westen gewollt hatte, will sie dort nicht ankommen, genau so wenig wie der Sohn. Als die Mutter erkrankt und exakt ein Jahr nach der Flucht stirbt, wird das Datum für Karsten zur Obsession:

    "Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen." (S. 20)

    "… daß ich von nun an damit rechnete, daß jedes Unglück auf diesen Tag falle." (S. 83)

    Weder seine häufigen Grenzübertritte als Reisejournalist noch seine Hotelübernachtungen können den Gedanken an das damalige Passieren der Grenze und die erste Nacht im Hotel an jenem Maitag auslöschen. Seine Partnerschaften scheitern, an den Jahrestagen, die er mal in Italien, mal in Irland, mal im Zug nach Berlin verbringt, kommt es zu rätselhaften Unglücken, tatsächlichen oder herbeifantasierten.

    Lügen oder Wahrheit
    Im erste Viertel des in kurzen Absätzen ohne Kapiteleinteilung verfassten Romans fürchtete ich zu scheitern, zu unklar waren mir viele Andeutungen, zu durcheinander die Episoden in Italien, in Irland und zuletzt am 28. Jahrestag auf einer Zugfahrt nach Berlin, alles einem „Du“ erzählt, das die Lebenspartnerin Vera meint. Dann allerdings wurden im Mittelteil der Geschichte Fäden verknüpft, wiederkehrende Motive bekamen einen Sinn, die Abschnitte wurden länger und die Erzählteile über die Flucht, die Erkrankung und den Tod der Mutter und die Qualen in der Schule las ich gern. Zu meinem Bedauern brachte das letzte Viertel aber wieder mehr Verwirrung als Klarheit und ich wurde es müde, Szene für Szene auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, einzuordnen und zu deuten. Karsten, der Mann, der nie über die Entwurzelung und den vermeintlichen Verrat der Eltern hinwegkommt, nie versucht, deren Beweggründe nachzuvollziehen und stattdessen ausschließlich um sich selbst kreist und sich in seiner Traurigkeit suhlt, ging mir zunehmend auf die Nerven. Vera spricht vor der Trennung treffend von „Rückwärtsgucken“, „Nichtdrüberwegkommenwollen“ und einer “Chimäre, der er den Namen seiner Geburtsstadt gegeben hat“ (S. 192/193).

    "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" scheint mir eher Männer- als Frauenroman zu sein und verlangt viel Verständnis für einen selbstmitleidigen Protagonisten. Wer gerne interpretiert und lose Fäden liebt, wird damit glücklich. Allen anderen empfehle ich "Ein schönes Paar", sprachlich ebenso herausragend, aber weniger jammerig, rätselhaft und konstruiert.

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  1. 3
    13. Feb 2022 

    Verlust der Heimat

    Mit seiner Mutter fährt der Junge vom Osten in den Westen. Der Vater ist schon dort. Doch der Junge vermisst seine Heimat, die Großeltern, das Haus. Die Klassenkameraden und sogar die Lehrer sind nicht immer freundlich zu dem Flüchtlingskind. Seine Eltern schont der Junge, so wie es Kinder manchmal machen. Allerdings erkrankt die Mutter relativ kurz nach der Ankunft in der neuen Stadt und als sie ins Krankenhaus muss, ist es als ahne sie schon, dass sie nicht mehr wiederkommt. Später beginnt das ehemalige Flüchtlingskind zu reisen, vielleicht ist dies ein Ausdruck seines Heimatverlustes.

    Bereits im Jahr 1990 unter dem Titel „Flucht“ ist dieser Roman zum ersten Mal erschienen, wobei der nun gewählte Titel mindestens als ebenso passend erscheint. Denn der Erzähler kann von dem Tag, an dem sich die Flucht jährt und der auch der Todestag seiner Mutter ist, nicht loskommen, ihn nicht überwinden. Er bleibt ruhelos und auch seine Freundschaften und Beziehungen wirken nicht sehr tief gehend. Zu groß ist wahrscheinlich das Trauma, das seine Kindheit überschattet hat. Am anhänglichsten ist da wohl der Koffer, der noch aus der Heimat mitgekommen ist. In einer Nacht berichtet der Erzähler von seinem Leben.

    Von seinen neueren Werken wohlbekannt lernt man hier eine andere Herangehensweise des Autors kennen. In episodenhafter Weise lässt er seinen Erzähler von seiner Kindheit berichten und von seinem Erwachsenenleben. Wobei die späteren Jahre wohl die Ruhelosigkeit widerspiegeln, deren Grundlage in der Kindheit gelegt wurde. Berührend sind die Schilderungen der Kindheit, die Reise in den Westen, die sich als Flucht entpuppt, die Mühe des Ankommens, der tragische krankheitsbedingte Tod der Mutter, der eine Lücke reißt, die der Vater nicht zu füllen vermag. Sind dem Leser oder der Leserin Erzählungen mit einer fortlaufenden Handlung lieber, kann der vorliegende Band nur bedingt begeistern. Dennoch überzeugt die Geschichte einer gebrochenen Jugend, die auch in späteren Jahren nicht wirklich verheilt. Ein prägender Moment ist dabei hervorragend in dem ansprechenden Coverbild festgehalten.

    3,5 Sterne

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  1. Entwurzelung und Erinnerung

    „Ich habe dir erzählt, daß es das erste Hotel war, in dem ich übernachtet habe, und daß vielleicht alle anderen, die unzähligen, die ihm später gefolgt sind, nur dem einen Zweck gedient haben, dieses erste ungeschehen zu machen, wie auch die Reisen, ja, mein Beruf diesem einen Zweck gedient haben mochten, die erste Reise über die Grenze durch unendliche Wiederholung auszulöschen.“ (Zitat Seite 66)

    Inhalt
    Karsten Leiser ist zehn Jahre alt, als er an diesem Tag im Mai buchstäblich über Nacht aus seinem gewohnten Umfeld und Landschaft seiner Kindheit gerissen wird. Der Zorn darüber, nicht gefragt worden zu sein, von seinen Eltern nicht auf die geplante Flucht aus der DDR vorbereitet worden zu sein, hindert ihn daran, in Wildenburg im Westen anzukommen. Er wird Reisejournalist, rastlos, getrieben, doch jedes Jahr an genau diesem Tag kommen die Erinnerungen an damals zurück, immer wieder holt ihn die Vergangenheit ein und löst ihn aus seiner Gegenwart, in der er nie wirklich ankommt.

    Thema und Genre
    Als dieser Roman 1990 zum ersten Mal erschienen ist, trug er den Titel „Flucht“. Es geht um dieses Gefühl des „Entwurzelt-Werdens“, das Unverständnis und die Wut eines Menschen, der plötzlich die vertraute Heimatstadt, seine Freunde und damit seinen Lebensmittelpunkt und seine Wurzeln verliert, als die Familie in den Westen flieht. Ein wichtiges Thema sind auch die Erinnerungen.

    Charaktere
    Am Tag der Flucht in den Westen ist Karsten zehn Jahre alt. Inzwischen ist er längst erwachsen, doch es ist ihm nicht gelungen, seine Erinnerungen hinter sich zu lassen und sich mit der Vergangenheit zu versöhnen. Alle Ereignisse in seinem späteren Leben bezieht er auf diesen Tag. „Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen“ (Zitat Seite 192)

    Handlung und Schreibstil
    Der Ich-Erzähler, Reisejournalist, schildert Episoden aus seinem Leben, prägende Erinnerungen und Erlebnisse mit unterschiedlichen Handlungsorten. Rastlos schweifen seine Gedanken immer wieder ab, gehen zurück in die Vergangenheit, er erzählt über die Landschaft seiner Kindheit in Plothow, die Stunden der Flucht, dann wieder ein Fragment, ein Erlebnis von einer seiner Reisen viele Jahre später. Auch dabei bleibt er bruchstückhaft, wechselt Ort und dort erlebte Geschichte, um im späteren Verlauf irgendwann den Faden wieder aufzunehmen. Genau genommen sind es viele Fäden und manche bleiben auch am Schluss der Geschichte lose, lassen uns mit Fragen und eigenen Versuchen zurück, das Gelesene zu entwirren und zu deuten. Großartig dagegen ist die Erzählsprache des Autors, er brennt Bilder und Gefühle in unsere Gedanken und kommt mit gut zweihundert Seiten für eine intensive, dichte Geschichte aus, wofür andere sechshundert Seiten brauchen.

    Fazit
    Dieser Roman ist weniger die Geschichte einer Flucht, sondern vielmehr die Schilderung der nachfolgenden Auswirkungen dieser einen Nacht im Mai, dieser Bahnfahrt aus der DDR in den Westen, auf einen damals zehn Jahre alten Jungen und sein ganzes späteres Leben.

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  1. "Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen"(192)

    Der Ich-Erzähler, Karsten Leiser, schickt die Leser*innen in seinem inneren Monolog auf eine Reise in die Vergangenheit, die von seiner Flucht in den Westen geprägt ist, welche ihn entwurzelt hat. Aus der fiktiven Stadt Plothow in der ehemaligen DDR flüchtet er als 10-Jähriger mit seiner Mutter nach Wildenburg und "sie hatte noch ein Jahr zu leben, auf den Tag genau, aber das wußte sie natürlich nicht, und der Junge auch nicht." (19)
    Dieser Tag im Mai - Fluchttag und Todestag der Mutter - prägen ihn so, dass er jedes Jahr darauf zurückblickt und jenem Tag eine besondere Bedeutung zumisst.

    "Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. Ich weiß, dir kommt es absonderlich vor, aber für mich ist es ganz selbstverständlich, denn immer ist mir gegenwärtig, daß mein Leben ohne ihn anders verlaufen wäre." (20)

    Die Angesprochene ist Vera, seine Freundin (?), der er seine Geschichte erzählt, wobei diese zu Beginn assoziativ zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Auch verschiedenen Ortsnamen werden genannt, wie Anzio und Rom oder Inishmore (Irland). Diese kurzen Episoden verwirren zu Beginn, da man immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Erlebten erfährt, doch wie in einer Spirale tauchen alle Ereignisse wieder auf und wie ein Puzzle setzen sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen. Allerdings bleiben am Ende auch einige Fragezeichen offen.

    Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Auftrag vom Redakteur des Ich-Erzählers, der fragt, "ob ich nicht einen Artikel schreiben wolle, einen Artikel über einen politischen Ort, er könne mir so viel Platz einräumen, wie ich brauchte." (10)

    Sein Redakteur verwechselt ihn mit seinem Freund Götz, der durch die Welt reist und immer wieder zu seinem Dorf im Schwarzwald zurückkehrt, der im Gegensatz zum Ich-Erzähler eine Heimat hat, während Leiser ein "Entwurzelter" ist, der nicht mehr reisen kann und will. Stattdessen möchte er über die Landschaft seiner Kindheit schreiben und "daß sich diese Landschaft in mir festgefressen hatte wie eine Krankheit" (12).

    Solange er noch reist, ist auf der Suche nach dieser Landschaft, nach Orten, die ihn an seine verlorene Heimat erinnern, aus der er abrupt gerissen wurde, weg vom Großvater und der Großmutter, dem "Breitschädel und der Eule".

    Nach den ersten Assoziationen schildert der Ich-Erzähler ausführlich und in atmosphärischen Sprachbildern von der Zugfahrt mit seiner Mutter in den Westen, seiner Ankunft in Wildenburg, sein Wiedersehen mit dem Vater, der einen anderen Weg genommen hat, und sein vergebliches Bemühen eine neue Heimat zu finden. Und er erzählt von dem Tag, ein Jahr später, an dem die Mutter stirbt. Und von weiteren Tagen, die er in Anzio, Rom, Inishmore und Berlin verbracht hat.

    Allerdings ist der Erzähler unzuverlässig, wie er selbst zu Beginn zugibt: "Log, lüge immer, wenn es um Wichtiges geht, dann ja." (19) So weiß man nicht immer, ob das, was erzählt wird, der Wahrheit entspricht. Befremdlich wirken einige Träume und auch Gewaltfantasien des Ich-Erzählers.

    Obwohl der Roman sprachlich wirklich ein Genuss ist und Loschütz es meisterhaft versteht, atmosphärisch, fast lyrisch zu erzählen - "Ballade, vom Tag, der nicht vorüber ist" - hat er mich trotzdem nicht in seinen Bann gezogen. Das liegt einerseits an den vielen Sprüngen zu Beginn der Handlung, die ein Ankommen im Roman erschweren, andererseits am Protagonisten selbst, der zwar authentisch wirkt, mir aber in seiner Rückwärtsgewandheit, seinem ständigen Kreisen um sich selbst bis zum Schluss fremd geblieben ist. Es gelingt dem Autor nicht, mir diese Figur nahezubringen, daher erhält er von mir trotz der herausragenden Sprache, nur 3 Sterne.

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  1. 3
    12. Feb 2022 

    Verlust als lebenslanges Trauma

    Gert Loschütz, 1946 geboren, wurde erst in den vergangenen Jahren von der Kritik und vom Publikum richtig wahrgenommen. Seine letzten beiden Romane, „ Ein schönes Paar“ ( 2018 ) und „ Besichtigung eines Unglücks“ ( 2021 ), bekamen einen Platz auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, und für letzteren erhielt er den Wilhelm Raabe Literaturpreis. Nun hat sein Verlag einen über dreißig Jahren alten Roman neu aufgelegt; sein früherer Titel „ Flucht“ wurde durch den vom Autor favorisierten Titel „ Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ ersetzt.
    Im Zentrum steht der Reiseschriftsteller Karsten Leiser. Ein Erlebnis aus seiner Kindheit sollte sein ganzes weiteres Leben bestimmen. Im Alter von zehn Jahren floh er mit seiner Mutter aus der DDR in die Bundesrepublik. Von einem Tag auf den anderen hieß es Abschied nehmen vom vertrauten Umfeld, von Großmutter und Großvater. Am Abend vor der Abreise weckt ihn seine Mutter und nimmt ihn mit zu einem Spaziergang. „ Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst.“ Doch anderntags, auf dem Weg zum Bahnhof, heißt es : „ Sieh Dich nicht um,…“
    Doch diesem Gebot der Mutter wird Karsten nicht folgen; zeitlebens wird er sich umsehen, sich immer wieder alles vor Augen führen, was er damals verloren hat.
    Denn im neuen Zuhause wird der Junge nicht heimisch werden. In der Schule bleibt er ein Außenseiter, ein Flüchtling von „ drüben“, einer, der nicht dazu gehört, dessen Sprache ihn als Fremden ausweist.
    Dann stirbt auch noch die Mutter, ein Jahr später. Ihr Tod fällt genau auf den Jahrestag ihrer Flucht und so wird ihn dieser „ Tag, der nicht vorüber ist“ sein Leben lang als Unheilsbringer verfolgen.
    Loschütz beschreibt eindringlich, wie sich ein solcher Verlust der Heimat auf ein Kind auswirkt. Dass ihm die Eltern ihr Vorhaben bis zuletzt verschwiegen haben, aus Sicherheitsgründen verschweigen mussten, hat er, sogar später noch, als Verrat empfunden.
    Und auch als Erwachsener wird er sich nirgends mehr heimisch fühlen. Überall sucht er nach Orten und Plätzen, in denen er das „ Verlorengeglaubte…wiederfinden könne.“ Doch „ dies Rückwärtsgucken, dies Nichtdrüberwegkommenwollen“ verhindert ein glückliches Leben, belastet die Beziehungen zu Frauen. Unruhig reist er durch die Welt und kann seinem Trauma doch nicht entfliehen.
    Der Autor legt seine Geschichte als großen Gedankenstrom an; in einem langen Monolog erzählt der Ich- Erzähler Karsten seiner langjährigen Freundin Vera von seinen Kindheitserinnerungen und von seinem Umgang mit dem schwierigen Jahrestag. Dabei geht er keineswegs chronologisch vor; sein Erzählen ist äußerst sprunghaft. Er wechselt die Zeiten und die Schauplätze, von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart Mitte der 1980er Jahre , von seinem fiktiven Heimatort Plothow bis ins hessische Wildenburg, beschreibt seine Reisen nach Italien und nach Irland. Hier ist ein aufmerksamer Leser gefordert. Aber nicht alle Geschichten werden auserzählt, am Ende hängen manche Fäden in der Luft. Figuren tauchen auf und verschwinden wieder, ohne dass oftmals ein Zusammenhang hergestellt werden kann.
    Und der Erzähler warnt uns schon gleich am Anfang. Er lügt „ immer, wenn es um Wichtiges geht, dann ja.“ Er ist äußerst unzuverlässig. Manches klingt sofort unglaubwürdig, anderes erweist sich erst beim Weiterlesen als reine Erfindung. Auch an seinen Nachtträumen und Gewaltphantasien lässt er den Leser teilhaben.
    Hier hat mich der Autor verloren. Zu wirr, zu unstrukturiert, zu viele Fragen, die am Ende bleiben. War das eigentliche Fluchterlebnis in der Kindheit noch interessant und sein Verlorensein in der neuen Umgebung erklärbar, so blieb mir der Erwachsene völlig fremd.
    Unbestritten ist Gert Loschütz ein großartiger Stilist und er versteht es, mit Sprache umzugehen. Ganz eigene Wortschöpfungen, intensive Bilder und unverbrauchte Metaphern schaffen eine unglaubliche Atmosphäre. Vor den Augen des Leser entsteht die beinahe mystische Landschaft der Kindheit, die Düsternis der späteren Jahre. Über allem liegt eine beinahe erdrückende Melancholie, die auch den Leser ergreift. Dass Loschütz eigene Erlebnisse verarbeitet ( er ist selbst 1957 mit seiner Familie aus der DDR geflüchtet), wird spürbar. So intensiv sind diese Beschreibungen.
    Doch eine schöne Sprache macht noch keine gute Geschichte. Der Roman ließ mich am Ende ratlos zurück.
    Empfehlen dagegen kann ich die beiden oben genannten letzten Romane des Autors. Manches wird der Leser dort wiederfinden ( so spielt z.B. der in der „ Ballade“ erwähnte Photoapparat eine wesentliche Rolle im „ Schönen Paar“). Da verbinden sich die sprachlichen Qualitäten des Autors mit gut erzählten Geschichten.

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  1. Das lebenslange Trauma einer Flucht

    „Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. Ich weiß, dir kommt das absonderlich vor, aber für mich ist es ganz selbstverständlich, denn immer ist mir gegenwärtig, dass mein Leben ohne ihn anders verlaufen wäre.“ (S. 20)

    Als Elfjähriger ist Ich-Erzähler Karsten Leiser in den 1950er Jahren zusammen mit seinen Eltern aus dem (fiktiven) Ort Plothow in Brandenburg geflüchtet. Für den Jungen stellt sich die Flucht als Nacht- und Nebelaktion dar, er hat keine Möglichkeit, Abschied zu nehmen oder sich auf den bevorstehenden Umzug vorzubereiten. In der neuen (fiktiven) hessischen Heimat Wildenburg gelingt es ihm nicht, neue Wurzeln zu schlagen oder Freunde zu finden. Als Flüchtling wird er dort von Kameraden, Lehrern und Einheimischen ausgegrenzt und verhöhnt. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Mutter schwer erkrankt und auf den Tag genau am Jahrestag der Flucht tragisch verstirbt. Damit nimmt ein lebenslanges Trauma seinen Anfang.

    Der Ich-Erzähler entwickelt jedes Jahr eine große Aversion gegen die Wiederkehr dieses Tages. Bereits im Vorfeld leidet er, ist er doch der tiefen Überzeugung, dass jedes Unglück ihn just an diesem Datum überfallen wird. Der gesamte Roman ist ein einziger Gedankenstrom. Karsten versucht seiner Freundin Vera innerhalb einer Nacht sein Dilemma um den Verlust der Heimat zu erklären. Er erzählt nicht chronologisch, sondern beginnt seine Erzählung von Anfang an in Abschnitten, so dass man höllisch aufpassen muss, alles Wichtige zu erfassen. Mit zunehmender Lektüre werden die angerissenen Handlungsfäden jedoch wieder aufgenommen und weiter verfolgt. Aber Achtung: Bereits auf Seite 19 bereitet uns der Erzähler darauf vor, dass er ein Lügner ist, der „immer lügt, wenn es um etwas Wichtiges geht.“ Es bleibt also dem Leser überlassen, ob er alles glauben will, was ihm erzählt wird.

    Gert Loschütz ist ein Könner seiner Zunft. Mit sehr viel Empathie lässt er uns in die Geschichte Karstens eintauchen, die offensichtlich starke biografische Züge trägt. Die Liebe zur Heimat, zur Landschaft, zu den zurückgebliebenen Großeltern wird in wunderbaren Sätzen fühlbar. Plothow ist Sehnsuchts- und vollkommener Glücksort für den Protagonisten. Die Flucht hat ihn davon getrennt. Alle weiteren Entwicklungen ergeben sich schicksalhaft genau daraus, werden darauf zurückgeführt. Insofern ist der Tag der Flucht der titelgebende Tag der nicht vorüber ist.

    Der Ich-Erzähler berichtet über die wesentlichen Ereignisse seines Lebens, die im Zusammenhang mit dem traurigen Jahrestag stehen. Als Journalist ist er herumgekommen, aber nirgends heimisch geworden. Er ist ein Einzelgänger, dessen Beziehungen mit Frauen nicht unter einem glücklichen Stern stehen. Am nächsten kommt ihm sicherlich Vera, aber auch die hat mit seiner Rückwärtsgewandtheit und seinem Nichtdrüberwegkommenwollen zu kämpfen.

    Man muss Zeit und Konzentration in diesen Roman investieren, nur dann wird man ihm gerecht. Während Loschütz´ Schreibstil von der ersten Seite an fesselt, braucht man einige Seiten mehr, um auch inhaltlich im Buch anzukommen. Puzzlesteine finden sich zunehmend. Neben Plothow und Wildenburg spielt die Handlung auch in Irland und Italien.

    Über weite Strecken hat mich dieser Roman begeistert. Gert Loschütz ist ein brillanter Stilist, der schon mit einzelnen Sätzen unglaublich viel Intensität, Wärme und Atmosphäre transportieren kann. Die Erinnerungen des Protagonisten werden durch eindrückliche Bilder dargelegt, denen man sich schwer entziehen kann. Zudem haben mich Loschütz´ selbstbewusste Wortschöpfungen begeistert, die wahrscheinlich nicht im Duden zu finden, aber in ihrer Aussage glasklar sind (z.B. Bittstellerhöflichkeit, Erinnerungsgefängnis, Entzündungsfessel oder Nebendirmensch).

    Die inhaltlich fesselnde Dichte kann der Roman meines Erachtens nicht bis ganz zum Schluss halten. Es ergeben sich Motive, die ich nicht klar zuordnen konnte. Ich habe die beiden Romane „Ein schönes Paar“ und „Besichtigung eines Unglücks“ mit großer Begeisterung gelesen, sie erscheinen mir vom Aufbau her etwas strukturierter und leichter zugänglich. Bei „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ handelt es sich um ein früheres Werk des Autors, das bereits 1990 unter dem Titel „Flucht“ bei Luchterhand aufgelegt wurde, aber auch heute noch einen hohen Grad an Aktualität besitzt.

    Ich halte Gert Loschütz für einen der begabtesten deutschsprachigen Romanciers. Insofern ist auch dieses Buch für alle Freunde guter Literatur unbedingt lesenswert. Es verströmt seinen einmalig melancholischen Loschütz-Sound und ich bin dem Verlag für die Wiederaufnahme des Romans mit dem neuen, wesentlich passenderen, Titel sehr dankbar. Ich wünsche ihm viele begeisterte Leser!

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  1. Lebenstrauma Flucht

    Lebenstrauma Flucht

    „Nur der Flüchtende kann den Schwindel der Freiheit aufspüren.“ (Reiner Klüting)

    Ehrlicherweise habe ich bei dem Titel „Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist“ von Gert Loschütz (Erstveröffentlichung: 1990, damals unter dem Titel „Flucht“, jetzt Neuauflage im Verlag Schöffling & Co.) zunächst an eine Art literarisches „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gedacht. Nun – damit würde ich (nach der Lektüre) aber niemandem einen Gefallen tun, darum sei mir mein kleiner Gedanken-Faux Pas schnell verziehen und vergessen *g*.

    Gert Loschütz lässt den Ich-Erzähler Karsten die Geschichte (s)einer Flucht – zunächst von einen Tag auf den anderen aus der DDR – und dann von seiner (lebenslangen) Flucht vor den Jahrestagen ebenjener erzählen.

    „Sie brachten uns in ein Hotel. Ich habe dir erzählt, daß es das erste Hotel war, in dem ich übernachtet habe, und daß vielleicht alle anderen, die unzähligen, die ihm später gefolgt sind, nur dem einen Zweck gedient haben, dieses erste ungeschehen zu machen, wie auch die Reisen, ja, mein Beruf diesem einen Zweck gedient haben mochten, die erste Reise über die Grenze durch unendliche Wiederholung auszulöschen.“ (S. 66)

    Dabei geht der Autor nicht unbedingt stringent vor; zunächst sind es Schlaglichter von Dingen, die Karsten (von Beruf Reisereporter) an diesem Tag erlebt, gelesen etc. hat. Erst später wird daraus eine erkennbare Struktur von Rückblicken, Anekdoten (manche der Geschichte zuträglich und weiter ausgebaut, manche „sich im Sande verlaufend“) und Selbstreflektion – wenn auch (für Außenstehende) eher unkritisch, was ihm (zum Ende hin) auch von seiner (Ex-)Freundin zum Vorwurf gemacht wird

    „Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen […]. Neigte dazu, sich abzukapseln, fremd zu tun, der Nebendirmensch. Was ich sagte, drehte er rückwärts. Wußte: so verlier ich ihn, wie vor mir andere, an eine Chimäre, der er den Namen seiner Geburtsstadt gegeben hat, an eine Verbitterung, die grundlos ist, an den Maulwurf, den er Erinnerung nennt. (S. 192/ 193).

    Nun, grundlos ist für den Erzähler die Verbitterung bestimmt nicht, aber für Außenstehende, die nicht Teil einer Flucht waren bzw. sind, ist es leicht zu sagen „Irgendwann ist auch mal gut mit Trauma, man muss auch loslassen können.“ Das als kleinen Denkanstoß zwischendrin.

    Sprachlich agiert Gert Loschütz auf einem überragend hohen Niveau – ich habe schon lange nicht mehr so viele Stellen, die von Metaphern, Wortspielereien und –neuschöpfungen strotzen, markiert. Das Ganze ist von einer intensiven und tiefen Melancholie durchzogen, die dem ein oder der anderen evtl. auch zu viel des Guten sein kann. Wie gut, dass Geschmäcker und Empfindungen verschieden sind!

    Für mich steht fest, dass ich nach diesem überaus gelungenen Erstkontakt mit dem Autor alle weiteren Werke von Gert Loschütz lesen werde, um mich wieder von der Sprache be- und verzaubern zu lassen.

    Ganz klare 5* und eine absolute Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

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  1. "Sieh dich nicht um"

    Als seine Mutter den zehnjährigen Karsten im märkischen Plothow nachts aus dem Bett holt, um mit ihm einen letzten Spaziergang durch die Heimatstadt zu machen, sagt sie ihm: "Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wiedersiehst." Am nächsten Morgen werden die beiden die DDR in Richtung Westen verlassen und dem Jungen wird eingeimpft: "Sieh dich nicht um", um erst gar keine Verdachtsmomente an eine Flucht aufkommen zu lassen. Doch wie geht ein Junge damit um, der von einem auf den nächsten Tag seine Heimat verliert und dem dieser Satz wie ein Damoklesschwert ein Leben lang über dem Haupt schwebt? Davon erzählt Gert Loschütz in seiner "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist".

    Der Roman wurde 1990 bereits unter dem Namen "Flucht" veröffentlicht, und offenbar im Zuge des Erfolgs des letztjährigen Loschütz-Romans "Besichtigung eines Unglücks" hat sich der Verlag Schöffling & Co. dazu entschlossen, dieses über 30 Jahre alte Werk des Autors erneut zu veröffentlichen. Es ist eine kluge und nachvollziehbare Entscheidung, denn dieses zeitlose Kunstwerk dürfte damit viel mehr Leser:innen erreichen, an denen es ansonsten wohl vorbeigegangen wäre. Wären da nicht die zahlreichen "ß", die sich wegen der alten Rechtschreibung im Text befinden, könnte man meinen, Loschütz hätte nur besonders schnell einen Nachfolger veröffentlicht, denn nichts an der "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" wirkt veraltet oder inaktuell.

    Noch nie waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie 2020. Täglich endet für zahlreiche Minderjährige die Kindheit. Nicht immer durch die Flucht selbst, dennoch trägt diese Entwurzelung erheblich dazu bei. So auch damals bei Karsten Leiser, mittlerweile Reisejournalist, der sich Ende der 1980er-Jahre dem Dogma der Mutter widersetzt - und eben doch zurückblickt auf seine Kindheit und auf den besonderen Tag im Mai des Jahres 1957, an dem diese ein abruptes Ende nahm. Denn der "Tag, der nicht vorüber ist" verfolgt den Ich-Erzähler Karsten auf Schritt und Tritt. Nur ein Jahr nach der Flucht stirbt die Mutter nach langer Krankheit just an diesem Tag, und auch weniger bedeutsame Ereignisse und kleinere Unglücke ziehen sich in den kommenden Jahren wie ein roter Faden durch Karstens Leben.

    Der Erzählton, den Gert Loschütz wählt, ist voller Melancholie, voller sinnlicher Intensität. In sprunghaften kleinen Szenen wechseln die Jahre und die Schauplätze von den 80er- in die 50er-Jahre und wieder zurück, von dem fiktiven Plothow ins fiktive Wildenburg in Hessen, von Irland nach Italien. Auch wenn sich die im Titel angedeutete "Ballade" als literarische Gattung nicht halten lässt, hat das dennoch etwas von Strophen, die im Verlaufe des Romans etwas länger werden. Man spürt die autobiografischen Bezüge, die Verbindungen zwischen Karstens Familie und Loschütz' Flucht von Genthin nach Dillenburg eben im Jahr 1957.

    Karsten selbst entpuppt sich als unzuverlässiger Erzähler, der aber zu seinen Lügen steht und diese manchmal sogar als solche kennzeichnet. Für die Leser:innen entwickelt sich dadurch ein Spiel mit der Realität, wobei die Handlungen gern auch einmal ins Surreale abdriften. Wenn Karsten beispielsweise seinen Fluchtkoffer nach über 25 Jahren endlich wegwerfen will und dieser doch immer wieder zu ihm zurückkehrt. Oder wenn er seinen Intimfeind aus der Kinderzeit, einen Jungen namens Burckhardt, urplötzlich überall wiedertrifft und dieser vermeintlich sogar einen Anschlag auf Karsten plant. Besonders ans Herz gehen dabei die Kindheits-Episoden. So erledigt Karsten beispielsweise noch die Hausaufgaben, obwohl er seine Schule niemals wiedersehen wird. Oder er berührt eine besondere Mauerstelle an seinem Hauseingang nicht, weil seine Mutter diese als letztes vor der Verlegung ins Krankenhaus berührte.

    All das untermalt Loschütz mit Erinnerungen, Farben und Gerüchen, mit einer sehr besonderen, überwiegend traurigen Tonalität, die ich schon in "Besichtigung eines Unglücks" so geschätzt habe. Vielleicht ist es nach erst zwei von mir gelesenen Romanen zu früh, von einem unverwechselbaren "Loschütz-Sound" zu schreiben, aber diese ganz eigene Schreibart führt bei mir unmittelbar zu diesem Gefühl.

    Keinesfalls zu früh ist es jedoch für den Wunsch, den die "Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist" in mir bekräftigt hat: nach und nach alle Werke dieses besonderen Gegenwarts-Romanciers zu lesen.

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