Babel

Rezensionen zu "Babel"

  1. Es gibt kein richtiges Leben im falschen

    "Als Professor Richard Lowell den Weg durch die schmalen Gassen von Kanton zu der verblichenen Adresse aus seinem Kalender gefunden hatte, war in dem Haus nur noch der Junge am Leben."

    Kanton, 1828 - eine Cholera-Epidemie rafft ganze Stadtviertel dahin. Der Junge, dessen wahren (chinesischen) Namen wir nicht erfahren, wird von Professor Lovell nach England mitgenommen, wächst in dessen Haushalt auf und nennt sich selbst, da er einen englischen Namen braucht, Robin Swift. Robin wird dank seiner Sprachbegabung und seines Lernfleißes zum Studium in Oxford zugelassen, in "Babel", der Fakultät für Fremdsprachen. Im Jahr 1836, als Robin Babel zum ersten Mal betritt, stehen für einen chinesischen Muttersprachler auf englischem Boden die Türen offen. Für das britische Empire ist China ein wichtiger Handelsmarkt, ebenso wie etwa Indien und die Antilleninseln.
    Es ist aber nicht nur die Kunst, in beiden Sprachen souverän zu verhandeln, die Robin und seine Mitstudenten - in seinem Jahrgang sind es übrigens außer ihm nur noch weitere drei, ein aus Kalkutta stammender Junge und zwei Mädchen - lernen müssen. Die Weltmacht des britischen Königreichs beruht auf einer Art von Magie, die in Babel zur Meisterschaft gebracht wurde, dem "Silberwerk". In Babel werden Silberbarren mithilfe von Wortpaaren in zwei unterschiedlichen Sprachen, die eine ähnliche, aber nicht gleiche Bedeutung haben - Übersetzungsunschärfen also - zu Gegenständen mit der Kraft von Amuletten. Mit Wortbedeutungen aufgeladene Silberbarren machen Kranke gesund, können das Wetter beeinflussen, Schiffe und Kutschen schneller machen, die Schlagkraft von Munition verstärken, Häuser zum Einsturz bringen und Menschen unsichtbar erscheinen lassen; sie können sogar jung und schön machen. Doch für die "Aufladung" der Silberbarren braucht es erstklassige Mehrsprachler - Menschen, die jene Übersetzungsunschärfen nicht nur mit dem Kopf verstehen, sondern denen beide jeweils angewandten Sprachen in Fleisch und Blut liegen.

    "Es ist nicht richtig, dass ich dazu ausgebildet werde, ihnen mit meinen Sprachen Vorteile zu verschaffen (...), während Menschen in Indien und China und Haiti und der ganzen Welt verhungern, weil die Briten sich das Silber lieber in ihre Hüte und Cembalos stecken, als damit irgendwo etwas Sinnvolles anzustellen." (S 388)

    Damit ist der Boden für den Grundkonflikt des Buches bereitet. Denn unsere "Babbler", die vier jungen Babel-Studenten, gehören eigentlich gar nicht dorthin. Robin sieht chinesisch aus, sein Freund Ramy indisch, die von haitianischen Sklaven abstammende Victoire ist dunkelhäutig. Nur Letty ist weiße Britin, aber auch sie hat es - als eine der ganz wenigen Studentinnen auf dem Campus - nicht leicht. Den Zugang haben alle vier nur wegen ihrer Mehrsprachigkeit erhalten, und von Anfang an ist klar, dass es ihre Berufung und Bestimmung sein wird, das "Silberwerk" auszuüben und damit das britische Imperium zu stützen - auch gegen ihre eigenen Herkunftsländer. Gleichzeitig müssen sich Robin, Ramy und Victoire ununterbrochen rassistische Anfeindungen gefallen lassen; vor allem die kluge Victoire wird wie ein Dienstmädchen behandelt, und ihre innige Freundschaft zu Letty leidet darunter. Welcher Weg ist den vieren bestimmt? Vor allem in den letzten Studienjahren, wenn sie ihre ersten Auslandsreisen machen, Verhandlungen auf höchster Ebene führen sollen?
    "The necessarity of Violence" lautet ein Untertitel der Originalausgabe des Buches. Vielleicht sollte man für alle Fälle gewarnt sein, ehe man das Buch zur Hand nimmt. Es ist nichts für Leser, die erwarten, dass die Helden am Schluss siegreich und höchstens leicht angekratzt ins Abendrot davon reiten. "Babel" ist ein zutiefst ernsthafter Roman. Hier gibt es keine leichten Lösungen.

    Damit wären wir beim Thema der Genre-Einordnung. Auf keinen Fall ist es ein Fantasy-Roman, auch wenn das Buch gern als solcher vermarktet wird. Die Autorin hat die realen politischen, geografischen und gesellschaftlichen Umwälzungen jener Zeit sehr genau recherchiert. Man muss nur einmal den vielen Fußnoten zum sog. Opiumkrieg mit China, dem Peterloo-Massaker bei Manchester, dem genauen Verlauf der Abolitionismusbewegung usw. folgen, um zu erkennen, welche Fülle an geschichtlichem Wissen diesem Buch zugrunde liegt. Das gleiche gilt für Kuangs Sprachkenntnis, ihr Wissen über die Konflikte des Übersetzens, die das eigentliche Fundament des Silberwerks bilden. Es wäre grundfalsch, "Babel" auf eine Abenteuergeschichte oder Coming of Age-Geschichte über unklare Herkunft und Jugendfreundschaften herunterzubrechen, was durch absurde Vergleiche mit der Harry-Potter-Serie herbeigeredet wird. R.F.Kuang beschäftigt sich mit Grundproblemen der globalen Gesellschaft, die damals aktuell waren und es heute mehr denn je sind.

    In den einschlägigen Foren, PhantastikCouch zum Beispiel, wird gern bemängelt, dass das Buch Längen habe und zu ausführlich sei. Das kann nur an einer falschen Lesart liegen, die von dieser falschen Einordnung herrührt. Die Autorin verliert sich nirgends in bloßes Referieren der Hintergründe, sondern bindet jeden geschichtlichen Bezug organisch in die Handlung ein. Damit komme ich zum Wichtigsten: Die Autorin erzählt einfach ungemein handlungsreich, bewegend und spannend. Aus meiner Sicht hat das Buch überhaupt keine "Längen", keine einzige Seite, keine einzige Szene ist langweilig, flüchtig oder oberflächlich erzählt. Rebecca F. Kuang ist eine Geschichtenerzählerin im wahrsten und besten Wortsinn. Jeder ihrer Charaktere hat eine eigene Geschichte, ein lebendiges Gesicht, eine unverwechselbare Persönlichkeit; jeder Schauplatz und jeder Dialog ist mit Liebe und Feuer gestaltet. Das Buch ist, auch wenn die Bitterkeit aus allen Seiten quillt, ein Lesegenuss reinsten Wassers - so widersprüchlich das klingt.

    Ich würde sechs, sieben Sterne geben, wenn ich könnte. Lesen, lesen, lesen!

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  1. 5
    08. Okt 2023 

    Vielschichtiger Roman mit Phantastik-Anteilen - Ein Highlight!

    Alle, die normalerweise um Phantastik einen großen Bogen machen, sollten dies bei „Babel“ keinesfalls tun, sondern zum Buch greifen und lesen!

    Rebecca F. Kuang entwirft in ihrem Roman eine historische Welt, die sich nur minimal von der unsrigen unterscheidet und sich dafür aber in so vielen gesellschaftspolitischen Themen mit ihr überschneidet. Wir befinden uns in den 1830er Jahren im viktorianischen England. Das britische Empire erstreckt sich mit seinen Kolonien über den Globus und von überall her kommen junge Gelehrte, um in Oxford, spezieller in Babel, zu studieren. Babel ist ein Institut, welches sich Sprache und spezieller Übersetzungen zunutze macht, um das sogenannte „Silberwerk“ zu betreiben. In dieser alternativen Welt besitzt nämlich Silber ein gewisses magisches Potential. Durch Silberbarren mit entsprechenden Wortpaaren können Kutschen schneller fahren, Türme höher gebaut werden oder Kanonen mehr Zerstörungskraft entwickeln. Der Hauptprotagonist Robin stammt aus der chinesischen Stadt Kanton, wird von einem Babel-Professor als Kind mit nach England genommen und beginnt dann ein Studium in eben jenem Institut. Allerdings wird ihm nach und nach klar, dass dieser rein akademische Elfenbeinturm nicht nur Gutes in die Welt bringt und dass der Erfolg des Empires mithilfe der in Babel erstellten Silberbarren zur Unterdrückung der restlichen Welt führt. Er engagiert sich in einer Untergrundbewegung und die Situation eskaliert zunehmend, als sein Heimatland China den Import von britischem Opium verweigert und sich ein Krieg ankündigt.

    Der Autorin ist mit diesem Roman nicht nur eine verständliche Aufschlüsselung der tatsächlichen historischen Geschehnisse gelungen, sondern außerdem ein Spiegelbild unserer heutigen Zeit, in der Postkolonialismus, Kapitalismus, Rassismus und die Chance auf Widerstand und eine Revolution der bestehenden Ordnung weiterhin eine sehr reale Rolle spielen.

    An die Themen arbeitet sie sich über die Linguistik und die Kunst der Übersetzung an. Ihre Ausführungen zu Wortursprüngen und wie im Rahmen einer Übersetzung immer auch Inhalt verloren gehen kann, sind niemals trocken, sondern immer erhellend und wissenswert. Gleichzeitig zeichnet sie ein soziologisch interessantes Bild von dieser eingeschworenen Bildungselite, die so homogen dann doch nicht ist. Und auf psychologischer Ebene geht sie in die Tiefe bezogen auf eine Clique von vier Personen um den Hauptcharakter Robin herum. Und irgendwie schafft sie es dann auch noch die Weltpolitik glaubhaft in dieses Szenario einzubauen. Man könnte ja befürchten, es handle sich hier ausschließlich um einen Roman für junge Student:innen und ihre oberflächlichen Problemchen. Überhaupt nicht! Was Kuang erschafft, ist kaum in Worte zu fassen. (Vielleicht würde es mir ja in einer anderen Sprache gelingen.)

    Sie stellt nachvollziehbar dar, wie sich die Macht der Fremdsprachen (hier sinnbildlich für andere Güter) durch die bewusste Ausbeutung fremder Kulturen und fremder Ressourcen im England dieser Zeit zentralisierte und erstellt damit eine Herleitung unserer heutigen Weltordnung. Außerdem arbeitet sie die historisch verbrieften Zusammenhänge der Industriellen Revolution anhand der hier „Industriellen Silberrevolution“ genannten den Menschen überholenden Fortschritt heraus. So scheint das Versprechen von Fortschritt nur Armut und Leid gebracht zu haben, denn selten wurden so viele Menschen in verruste Industriegebiete und aus ihren angestammten Arbeitsplätzen gerissen durch eine zunehmende Mechanisierung. Hier könnte man problemlos die aktuellen Diskussionen um die Digitalisierung und KI als Vergleich heranziehen.

    Auch wird in der zweiten Hälfte des Buches zunehmend die Chancen eines Widerstands, einer Revolution von unten beleuchtet. Denn immerhin ist der vollständige Titel des englischsprachigen Originalromans folgender: „Babel. Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators' Revolution“. Mit welchen Mitteln können die Menschen gegen ihren Staat aufbegehren? Kann es gewaltfrei eine Veränderung geben oder braucht es Gewalt zwingend? Kuang vermittelt hier keineswegs eine einfache Lösung mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger. Immer wieder lässt sie ihre, nebenbei äußerst authentisch entworfenen Figuren, Vor- und Nachteile diskutieren. Fast immer befinden sie sich zwischen den Stühlen, in den Grauzonen und können keine einfache Lösung finden.

    Ich bin von diesem Buch über wie es im Begleittext heißt „die Magie der Sprache, die Gewalt des Kolonialismus und die Opfer des Widerstands“ ebenso begeistert wie über die Übersetzung von Heide Franck und Alexandra Jordan aus dem amerikanischen Englisch. Denn wie schwer muss es gewesen sein, dieses Buch, welches auf jeder Seite mit einzelnen Wörtern, ihrer Bedeutung und Übersetzung in verschiedenste andere Sprachen (u.a. Chinesisch, Altgriechisch, Sanskrit etc. pp.) arbeitet, vollkommen stimmig und funktionierend in die deutsche Sprache zu bringen? Klasse! Ganz große Klasse!

    Ihr könnt euch meine Empfehlung denken: Lest! Lest dieses Buch, wenn euch Sprache etwas bedeutet und ihr sowohl historische Zusammenhänge als auch aktuelle Gegebenheiten besser verstehen wollt. Und keine Angst vor der „Phantastik“, diese ist hier nur ein Vehikel, aber dieses Vehikel ist so meisterhaft und plausibel entworfen, sodass man vollständig in die vielschichtige Welt von Rebecca F. Kuang eintauchen kann.

    Ein Highlight!

    5/5 Sterne

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  1. 4
    30. Mai 2023 

    Kunstvoll geschrieben

    Das Buch behandelt die Geschichte von Robin Swift. Er wurde von einem englischen Professor aus den ärmlichen Verhältnissen in China, in denen Robin lebte, gerettet und ausgebildet, um am Institut für Übersetzung, Babel, zu studieren. Dort soll er seine Sprachkenntnisse nutzen, um Silberbarren zu produzieren, welche mit Wörtern verschiedener Sprachen Magie wirken können. Im Laufe seiner Zeit in Babel mit Hilfe seiner Mitstudierenden merkt Robin jedoch, dass “gerettet” das falsche Wort für seine Lage ist.

    Das Buch ist meiner Meinung nach sehr kunstfertig geschrieben. Die Geschichte und linguistischen Grundlagen sind ausgezeichnet recherchiert. Sie werden wunderbar mit dem magischen Element der Geschichte verwoben, sodass die Geschichte fast anmutet, als wäre sie tatsächlich passiert. Die Schrecken des Kolonialismus und der tägliche Rassismus, denen Robin Swift und viele seiner Mitstudierenden ausgesetzt sind, zeigt wahnsinnig schockierend auf, wie die Verhältnisse damals waren. Wobei unsere Gesellschaft natürlich auch heutzutage mit den Nachwehen zu kämpfen hat.
    Auch wenn die Basis für diese Analogie auf fantastischen Elementen besteht, zeigt auch das Silberwerken, also das Magiesystem rund um das Silber, grandios auf, auf was für einem Widerspruch Kolonialismus besteht. Sich andere Kulturen zu eigen machen zu wollen, während die Leute, die dieser Kultur angehören, mit größter Verachtung gestraft werden.
    Leider sind diese Stärken auch zeitgleich eine Schwäche des Buches. Das Buch liest sich vor allem im Mittelteil sehr zäh und eher wie ein durchaus spannendes Sachbuch, aber nicht wie ein Fantasybuch.
    Umso näher wir dem Ende kamen, umso mehr Spannung und Grauen konnte das Buch wieder rüberbringen, sodass mich das Ende absolut abholen konnte. Dabei fand ich persönlich die Charakterentwicklung unseres Hauptcharakters, Robin Swift, sehr gelungen. Sie ist sehr gut in sich aufgebaut, sodass es absolut Sinn macht, dass Robin dort ankommt, wo er zum Schluss ankommt.

    Auch wenn sich das Buch meiner Meinung nach stellenweise gezogen hat, hat es mich sehr beeindruckt. Allein die Kunstfertigkeit mit der R. F. Kuang dieses Buch aufgebaut hat, ist beeindruckend.

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