Baba Dunjas letzte Liebe

Buchseite und Rezensionen zu 'Baba Dunjas letzte Liebe' von Alina Bronsky
4.55
4.6 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Baba Dunjas letzte Liebe"

»Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht mehr zum Zähneputzen.« Alina Bronsky lässt in ihrem neuen Roman eine untergegangene Welt wieder auferstehen. Komisch, klug und herzzerreißend erzählt sie die Geschichte eines Dorfes, das es nicht mehr geben soll – und einer außergewöhnlichen Frau, die im hohen Alter ihr selbstbestimmtes Paradies findet.Baba Dunja ist eine Tschernobyl-Heimkehrerin. Wo der Rest der Welt nach dem Reaktorunglück die tickenden Geigerzähler und die strahlenden Waldfrüchte fürchtet, baut sich die ehemalige Krankenschwester mit Gleichgesinnten ein neues Leben im Niemandsland auf. Wasser gibt es aus dem Brunnen, Elektrizität an guten Tagen und Gemüse aus dem eigenen Garten. Die Vögel rufen so laut wie nirgends sonst, die Spinnen weben verrückte Netze, und manchmal kommt ein Toter auf einen Plausch vorbei. Während der sterbenskranke Petrov in der Hängematte Liebesgedichte liest und die Melkerin Marja mit dem fast hundertjährigen Sidorow anbandelt, schreibt Baba Dunja Briefe an ihre Tochter Irina, die Chirurgin bei der deutschen Bundeswehr ist. Doch dann kommt ein Fremder ins Dorf – und die Gemeinschaft steht erneut vor der Auflösung. Auf kleinem Raum gelingt Alina Bronsky voller Kraft und Poesie, voller Herz und Witz eine märchenhafte und zugleich fesselnd gegenwärtige Geschichte.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:160
EAN:9783462048025

Rezensionen zu "Baba Dunjas letzte Liebe"

  1. Alter in Würde und Gelassenheit

    Baba Dunja kehrt im Alter in ihren Heimatort zurück. Tschernowo ist kein beliebiges Dorf, denn es liegt mitten in der ehemaligen Todeszone um den Katastrophenreaktor Tschernobyl. Ihr altes Haus steht noch, so wie sie es verlassen hat. Sie bleibt nicht lange allein um Dorf. Eine kleine Gemeinschaft bildet sich. Es sind alte Menschen, denen das Leben nichts mehr anhaben kann. Baba ist in Haus und Garten umtriebig. Petrow, der zum Sterben nach Tschernowo kam, verbringt seine Tage mit dem Lesen von Gedichten und der bald hundertjährige Sidorow bandelt mit der drallen Marja, Babas Nachbarin an. Eines Tages kommen Fremde ins Dorf und bringen damit das ganze Gefüge beinahe zu Einsturz. Nur der unbändige Mut von Baba Dunja kann die Gemeinschaft retten.
    Baba Dunja hat in ihrem Leben viel erlebt und geleistet, hat zwei Kinder groß gezogen. Der Ehemann war zwar schön aber unzuverlässig. Sie ist mit ihrem Leben, das sie in Tschernowo führen kann, zufrieden. Sie ist eine Alltagsphilosophin spricht viele Weisheiten gelassen aus, ist stark, unbeirrbar und die gute Seele Tschernowos. Als die Fremden ins Dorf kommen, erlebte ich die Handlung ein wenig erzwungen. Eine Zäsur, die zwar für den Fortgang der Geschichte essentiell, aber ein wenig weit hergeholt war. Der Schluss wiederum ist stimmig und versöhnlich. Baba Dunjas letzte Liebe ist ihr Leben daheim, im Heimatort, in ihrem Haus und Garten. Tschernowo dient als Sinnbild für die Selbstbestimmung im Alter und lässt über unser eigenes Leben im Alter nachdenken.

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  1. Baba Dunjas letzte Liebe

    Tschernowo ist ein kleines Dorf in der Nähe des Kernreaktors Tschernobyl. Hier lebt niemand freiwillig, sollte man denken. Weit gefehlt. Baba Dunja, eine einfache Frau, bedeutet die Heimat so viel, dass sie dort den Rest ihres Lebens verbringen will. Die Nähe zum Kernreaktor macht ihr nichts aus. Denn sie hat nichts mehr zu verlieren. Sie ist alt, über neunzig, und das Gute für sie am Alter ist, dass sie niemand mehr um Erlaubnis fragen muss. Zum Beispiel, ob sie in ihrem alten Haus wohnen kann und ob sie Spinnennetze hängen lassen darf. Baba Dunja hat alles gesehen und vor nichts mehr Angst. 'Der Tod kann kommen, aber bitte höflich.' (Seite 12)

    Für sie ist Tschernowo das Paradies, wenn auch ein verstrahltes. Besonders im Winter ist es stiller als still. "Wenn eine Schneedecke über allem liegt, sind sogar die Träume gedämpft, und nur die Dompfaffen springen durch das Gestrüpp und sorgen für Farbe in der weißen Landschaft." (Seite 32)

    Hier läuft das Leben in ruhigen Bahnen ab. Für Baba Dunjas Nachbarin Marja, deren Hahn Konstantin gleich im Kochtopf landet. Sidorow, der noch mit hundert Jahren auf der Suche nach einer Frau ist. Lenotschka, die einen endlos langen Schal strickt und lächelt, wenn man sie anspricht, jedoch nicht antwortet. Das gebildete Ehepaar Gavrilov, das nicht auf Annehmlichkeiten verzichten muss. In Tschernowo verlangt niemand etwas von den Bewohnern. Es zählt das Heute, nicht das Morgen. Die Alten leben von der Selbstversorgung, das Gemüse wächst üppig in ihren Gärten. Nur nicht bei Petrow, der als letzter ein Häuschen im Dorf bezog und der seinen Krebs, von dem sein Körper komplett durchsetzt ist, nicht füttern will. Die Öfen werden mit Holz befeuert, Wasser spenden Brunnen, und an manchen Tagen gibt es auch Strom.

    Baba Dunjas Kontakte zur Außenwelt bestehen aus gelegentlichen Busfahrten nach Malyschi. Dann erzählt ihr Boris, der Busfahrer, was er im Fernsehen gesehen hat. Viel über Politik. Die ist natürlich wichtig, doch Baba Dunja ist da pragmatisch, denn 'es bleibt trotzdem immer an einem selbst hängen, die Kartoffeln zu düngen, wenn man irgendwann Püree essen will.' (Seite 46)

    Ab und an bekommt Baba Dunja Pakete von ihrer Tochter Irina. Diese ist Ärztin und lebt mit Enkelin Laura in Deutschland. Wenn Baba Dunja daran denkt, dass sie Laura (außer auf Fotos) noch nie gesehen hat, kommt Wehmut auf. Gut, dass gelegentlich Ehemann Jegor vorbeischaut, der aber nicht wirklich stört. Baba Dunja plaudert gern mit ihm. Seit er nämlich tot ist, ist er sehr höflich. Als er noch lebte, war das leider nicht so.

    In die Idylle kommt Unruhe, als eines Tages ein Mann seine Tochter mitbringt. Recht schnell wird klar, dass das Kind als Spielball zwischen den getrennten Eltern steht. Das ist für Baba Dunja unhaltbar. Ein Kind hat in Tschernowo nichts zu suchen. Zwar ist Tschernowo ein schöner und guter Ort für seine Bewohner. Niemand wird fortgejagt. Nur wenn jemand noch jung und gesund ist, sollte er sich ein anderes Heim wählen. Schon gar nicht sollte ein kleines Kind aus Rache dem Tode geweiht werden.

    Und daher dauert es nicht lange, das liegt der Mann tot auf der Erde, und Baba Dunja nimmt alle Schuld auf sich...

    Mit viel Verständnis und Geradlinigkeit lässt Alina Bronsky Baba Dunja erzählen. Die im Grunde kleine Geschichte entfaltet eine große Wirkung. Sie ist poetisch, lebendig, weise und ehrlich, manchmal verschmitzt, dann wieder traurig und anrührend.

    Baba Dunja "strahlt" - im wahrsten Sinne des Wortes - eine Lebensfreude aus, die zu Herzen gehend ist. Mit Klugheit und Nachsicht schaut sie auf ihre Mitmenschen und ist der Mittelpunkt der eigenwilligen, schrulligen, sturen und manchmal auch exzentrischen Dorfbewohner, die trotzdem allesamt liebenswert in ihrer Gelassenheit, mit der sie ihr Dasein verbringen, erscheinen.

    Man möchte sie in den Arm nehmen und fest drücken. Und auf jeden Fall ein langes Leben wünschen.

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  1. Baba Dunjas letzte Liebe

    Tschernowo ist ein kleines Dorf in der Nähe des Kernreaktors Tschernobyl. Hier lebt niemand freiwillig, sollte man denken. Weit gefehlt. Baba Dunja, eine einfache Frau, bedeutet die Heimat so viel, dass sie dort den Rest ihres Lebens verbringen will. Die Nähe zum Kernreaktor macht ihr nichts aus. Denn sie hat nichts mehr zu verlieren. Sie ist alt, über neunzig, und das Gute für sie am Alter ist, dass sie niemand mehr um Erlaubnis fragen muss. Zum Beispiel, ob sie in ihrem alten Haus wohnen kann und ob sie Spinnennetze hängen lassen darf. Baba Dunja hat alles gesehen und vor nichts mehr Angst. "Der Tod kann kommen, aber bitte höflich." (Seite 12)

    Für sie ist Tschernowo das Paradies, wenn auch ein verstrahltes. Besonders im Winter ist es stiller als still. "Wenn eine Schneedecke über allem liegt, sind sogar die Träume gedämpft, und nur die Dompfaffen springen durch das Gestrüpp und sorgen für Farbe in der weißen Landschaft." (Seite 32)

    Hier läuft das Leben in ruhigen Bahnen ab. Für Baba Dunjas Nachbarin Marja, deren Hahn Konstantin gleich im Kochtopf landet. Sidorow, der noch mit hundert Jahren auf der Suche nach einer Frau ist. Lenotschka, die einen endlos langen Schal strickt und lächelt, wenn man sie anspricht, jedoch nicht antwortet. Das gebildete Ehepaar Gavrilov, das nicht auf Annehmlichkeiten verzichten muss. In Tschernowo verlangt niemand etwas von den Bewohnern. Es zählt das Heute, nicht das Morgen. Die Alten leben von der Selbstversorgung, das Gemüse wächst üppig in ihren Gärten. Nur nicht bei Petrow, der als letzter ein Häuschen im Dorf bezog und der seinen Krebs, von dem sein Körper komplett durchsetzt ist, nicht füttern will. Die Öfen werden mit Holz befeuert, Wasser spenden Brunnen, und an manchen Tagen gibt es auch Strom.

    Baba Dunjas Kontakte zur Außenwelt bestehen aus gelegentlichen Busfahrten nach Malyschi. Dann erzählt ihr Boris, der Busfahrer, was er im Fernsehen gesehen hat. Viel über Politik. Die ist natürlich wichtig, doch Baba Dunja ist da pragmatisch, denn "es bleibt trotzdem immer an einem selbst hängen, die Kartoffeln zu düngen, wenn man irgendwann Püree essen will." (Seite 46)

    Ab und an bekommt Baba Dunja Pakete von ihrer Tochter Irina. Diese ist Ärztin und lebt mit Enkelin Laura in Deutschland. Wenn Baba Dunja daran denkt, dass sie Laura (außer auf Fotos) noch nie gesehen hat, kommt Wehmut auf. Gut, dass gelegentlich Ehemann Jegor vorbeischaut, der aber nicht wirklich stört. Baba Dunja plaudert gern mit ihm. Seit er nämlich tot ist, ist er sehr höflich. Als er noch lebte, war das leider nicht so.

    In die Idylle kommt Unruhe, als eines Tages ein Mann seine Tochter mitbringt. Recht schnell wird klar, dass das Kind als Spielball zwischen den getrennten Eltern steht. Das ist für Baba Dunja unhaltbar. Ein Kind hat in Tschernowo nichts zu suchen. Zwar ist Tschernowo ein schöner und guter Ort für seine Bewohner. Niemand wird fortgejagt. Nur wenn jemand noch jung und gesund ist, sollte er sich ein anderes Heim wählen. Schon gar nicht sollte ein kleines Kind aus Rache dem Tode geweiht werden.

    Und daher dauert es nicht lange, das liegt der Mann tot auf der Erde, und Baba Dunja nimmt alle Schuld auf sich...

    Mit viel Verständnis und Geradlinigkeit lässt Alina Bronsky Baba Dunja erzählen. Die im Grunde kleine Geschichte entfaltet eine große Wirkung. Sie ist poetisch, lebendig, weise und ehrlich, manchmal verschmitzt, dann wieder traurig und anrührend.

    Baba Dunja "strahlt" - im wahrsten Sinne des Wortes - eine Lebensfreude aus, die zu Herzen gehend ist. Mit Klugheit und Nachsicht schaut sie auf ihre Mitmenschen und ist der Mittelpunkt der eigenwilligen, schrulligen, sturen und manchmal auch exzentrischen Dorfbewohner, die trotzdem allesamt liebenswert in ihrer Gelassenheit, mit der sie ihr Dasein verbringen, erscheinen.

    Man möchte sie in den Arm nehmen und fest drücken. Und auf jeden Fall ein langes Leben wünschen.

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  1. Liebe zur Heimat - trotz Strahlung

    Inhalt
    Baba Dunja ist eine alte Frau, die beschlossen hat, in ihr Heimatdorf Tschernowo zurückzukehren. Ein Ort, der aufgrund der Strahlenbelastung in der sogenannten Todeszone liegt. Als medizinische Hilfsschwester hat sie es nach dem Super-Gau in Tschernobyl als eine der Letzten verlassen.
    Die nächste Stadt Malyschi ist weit weg und nur mit dem Bus zu erreichen - fast zwei Stunden braucht Baba Dunja inzwischen für den Weg zur Bushaltestelle.

    Nach Baba Dunja sind weitere Alte zurückgekehrt oder haben sich im verlassenen, einsamen Dorf niedergelassen, wie die Melkerin Marja, deren Hahn Konstantin zu Beginn der Handlung stirbt.

    "Das ist die Wahrheit. Marja hat immer mit ihm geredet. Das lässt mich befürchten, dass ich ab jetzt weniger Ruhe haben werde Außer mir braucht jeder Mensch jemanden zum Reden, und Marja ganz besonders. Ich bin ihre nächste Nachbarin, nur der Zaun trennt unsere Grundstücke." (S.8)

    Lauter Einzelgänger leben in Tschernowo ihr Leben, wie der fast 100-jährige Sidorow oder der krebskranke Petrov und die Gavrilovs, die ganz für sich bleiben - und natürlich die Spinnen, die seltsame Netze weben und das Interesse von Wissenschaftlern wecken. Auch die Geister finden ihren Weg zurück in die Heimat - wie Jegor, Baba Dunjas alkoholsüchtiger Mann und der Hahn Konstantin, der auf dem Zaun thront - mit ihnen redet sie.

    Baba Dunjas Kinder haben die Ukraine verlassen, ihre Tochter Irina ist Ärztin bei der Bundeswehr, ihr Sohn lebt in Amerika. Sie schreiben sich Briefe, jeder Brief ist ein Fest für Baba Dunja, doch das Wichtige bleibt ausgespart.

    "Es gab eine Sache, über die wir nicht gesprochen haben. Wenn Dinge besonders wichtig sind, dann redet man nicht über sie. Irina hat eine Tochter, und ich habe eine Enkelin, die einen sehr schönen Namen trägt: Laura." (S.17)

    Laura, inzwischen 17 Jahre, schreibt Baba Dunja sogar einen Brief zurück, allerdings in einer Sprache, die sie nicht lesen kann und so bleibt der Brief unverständlich - um Hilfe bittet sie nicht.

    Statt dessen pflegt sie ihren Garten, Einkaufen kann man nur in der Stadt, Wasser gibt es im Brunnen und Elektrizität ist sogar vorhanden. Ein Ort, an dem die Zeit still zu stehen scheint und die radioaktive Strahlung unsichtbar bleibt.

    Doch die Ruhe und vermeintliche Idylle wird von einem Vater gestört, der seine Tochter in die Todeszone bringt, um seine Frau zu erpressen. Welcher Vater ist dazu in der Lage? Baba Dunja muss einschreiten und dann ereignet sich ein Unglück, das alle Dorfbewohner zum Handeln zwingt.

    Bewertung
    Es ist ein stiller Roman über eine alte Frau, die ihre Heimat so sehr liebt, dass sie sich freiwillig der Strahlung aussetzt und auf einen Kontakt mit ihren Kindern und Enkeln verzichtet. Aus ihren Kindern soll etwas werden, das ist ihr wichtiger, als in ihrer Nähe zu sein. Trotzdem wirkt die Protagonistin sympathisch, "hemdsärmlig" und nach dem Unglück beweist sie großen Mut.
    So einfach wie Baba Dunja daher kommt, scheint auch die Sprache Bronskys zu sein, die in klaren Sätzen das Leben im Dorf skizziert und die eigentümliche Stimmung einfangen kann.

    Lesenswert!

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  1. 5
    17. Aug 2017 

    Ein wunderbares Büchlein

    Baba Dunja, die nun wirklich keine 82 Jahre mehr ist ;-) kehrt zurück in ihr Heimatdorf Tschernowo, das in der Todeszone von Tschernobyl liegt. Sie ist die Erste, die sich dort, in ihrem alten Haus, wieder niederlässt, doch nach und nach steigt die Zahl der BewohnerInnen. Es sind meist Alte, die Jüngsten um die 60 Jahre, zum Teil schwer krank, die nichts fürchten, auch nicht den Tod. Jede/r lebt dort sein Leben, eine wirkliche Gemeinschaft gibt es nicht. Gemüse und Obst werden im eigenen Garten angebaut, was man sonst so braucht und nicht selbst herstellen kann, wird von der kärglichen Rente im nächsten Städtchen Malyschi gekauft. Es könnte ein Idyll sein, doch Baba Dunja, die Ich-Erzählerin, ist sich der prekären Situation durchaus bewusst: Sie (wie auch der Rest in Tschernowo) strahlt mittlerweile selbst wie ein kleines Atomkraftwerk und ein Happy End ist bestimmt nicht zu erwarten. Wie sollte es in ihrem Alter auch aussehen? Denn eines ist gewiss: der Tod. Und diesem in Tschernowo zu begegnen, ist das Schlechteste nicht.
    Baba Dunja erzählt nicht nur von ihrem Leben im Dorf, sie erinnert sich auch an ihr Leben davor, das voller Mühsal war und darin bestand, für andere da zu sein: ihre Kinder Irina und Alexej; ihren Mann Jegor; die Kranken, die sie als medizinische Hilfsschwester behandelt hat. Nun kann sie zum erstem Mal in ihrem Leben das tun, was sie will: leben und sterben in Tschernowo. Ihrer Tochter Irina, die als Chirurgin in Deutschland lebt, ein Kind hat und nicht verstehen kann, weshalb ihre Mutter dorthin zurückgekehrt ist, schreibt sie beruhigende Briefe.
    Zitat: "Mädchen", sagte ich, "guck mich an. Siehst Du, wie alt ich bin? Und das alles ohne Vitamine und Operationen und Vorsorgeuntersuchungen. Wenn sich jetzt irgendetwas Schlechtes in mir einnistet, dann lasse ich es in Ruhe. Niemand soll mich mehr anfassen und mit Nadeln pieksen, wenigstens das habe ich mir verdient."
    Alina Bronskys Schreibstil trifft den Tonfall dieser alten Baba Dunja wunderbar: gelassen, durch nichts zu erschüttern und immer noch voller Lebensfreude. Sie weiß um die guten und schlechten Seiten der Menschen, verurteilt niemanden und nimmt das Leben wie es kommt - doch ohne sich sagen zu lassen, was sie zu tun hat. Zufälligerweise habe ich gerade zuvor das Buch Eierlikörtage: Das geheime Tagebuch des Hendrik Groen, 83 1/4 Jahre gelesen - das genaue Gegenteil eines Lebens im Alter. Dort wohl versorgt im Altenheim, alles läuft nach Plan: Essen, Trinken, Unterhaltungsprogramm, sofern es eines gibt. Ohne Eigeninitiative (die nicht unbedingt gerne gesehen wird) nichts als gepflegte Langeweile. Wie erfrischend hingegen das Leben in der Todeszone, ohne dass es verklärt wird. Wenn man mich fragen würde, wo ich lieber meine letzten Tage verbringen möchte, wäre die Antwort klar: Tschernowo ;-)

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  1. 4
    23. Sep 2015 

    einfach nur nett

    Was schreibe ich über ein Buch, das es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat? Ein Buch, das von vielen gelobt worden ist, aber bei mir keinen überragenden Eindruck hinterlassen hat – nicht, weil es schlecht ist, sondern, weil es einfach nur nett ist.

    Baba Dunja ist eine ehemalige Hilfskrankenschwester im betagten Alter von 83 Jahren. Sie lebt in Tschernowo, einem ausgestorbenen Nest in Russland, das es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Hier führt sie ein ruhiges und beschauliches Leben, inmitten einer Handvoll weiterer alter Leutchen, die hier ihr Leben beschließen wollen. Die einzige Aufregung, die sich ihnen im Alltag bietet, ist ein Besuch in der nächstgelegenen Kleinstadt, um Vorräte aufzufüllen, Post zu holen etc. Aber im Grunde genommen bevorzugen sie es, für sich zu bleiben, von dem zu leben, was sie selbst anbauen und ernten. Viele leben in den Tag hinein. Das Leben in Tschernowo könnte geruhsam und beschaulich sein, wenn .... ja, wenn der Reaktor nicht wäre.
    Denn Tschernowo liegt mitten im Sperrbezirk um den Reaktor von Tschernobyl. Die Umgebung ist verstrahlt. Das Dorf ist kurz nach dem Reaktorunglück geräumt worden. Jemand, der trotzdem hier hinzieht, entscheidet sich bewusst für das Ende seines Lebens. Und doch gibt es Menschen wie Baba Dunja, die mit dem Leben außerhalb nichts anfangen können, die sich im Alter vom Fortschritt überfordert fühlen, und, die sich nicht entwurzeln lassen möchten, ungeachtet aller Risiken, die sie mit der Entscheidung für ein Leben in Tschernowo eingehen.

    „Ich bin alt, mich kann nichts mehr verstrahlen, und wenn doch, dann ist es kein Weltuntergang.“ (S. 16)

    Baba Dunja ist eine wundervolle alte Dame, die mit beiden Beinen im Leben steht. Trotz ihres hohen Alters, meistert sie ihr Leben auf bewundernswerte Weise. Das Einzige, was ihr zu schaffen macht, ist der fehlende Kontakt zu ihren Angehörigen. Es ist Jahre her, dass sie ihre Tochter zuletzt gesehen hat. Nur ab und zu erhält sie einen Brief oder ein Paket von ihrer Tochter. Ansonsten ist sie einfach zufrieden mit dem, was sie hat. In Tschernowo ist sie die heimliche Anführerin, zumindest legen alle anderen Bewohner sehr großen Wert auf ihre Meinung.

    Die Geschichte wird aus Baba Dunja’s Perspektive erzählt, dabei legt sie einen wundervollen bissigen Humor zutage, der an manchen Stellen fast schon bösartig ist. Es gab viele Szenen, die mich in der Geschichte zum Schmunzeln gebracht haben.

    „Boris erzählt, was er im Fernsehen gesehen hat. Viel Politik, in der Ukraine, in Russland und in Amerika. Ich höre nicht sehr aufmerksam zu. Politik ist natürlich wichtig, aber es bleibt trotzdem immer an einem selbst hängen, die Kartoffeln zu düngen, wenn man irgendwann Püree essen will.“ (S. 46)

    „Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht einmal mehr zum Zähneputzen.“ (S. 62)

    Zwischendurch werden immer wieder Baba Dunja’s Erinnerungen aus der Zeit vor dem Reaktorunglück eingestreut, so dass man im Verlauf der Geschichte ein Bild über den größten Teil ihres Lebens erhält.

    Das Buch lässt sich sehr flüssig lesen, der Schreibstil von Alina Bronsky ist sehr angenehm. Sie versteht es, unterschiedliche Stimmungen zu vermitteln. So ist man in einem Moment amüsiert, im nächsten nachdenklich und betroffen.

    „Das Baby, da sieben Monate nach dem Reaktor in meine Hände totgeboren wurde und nicht in einer Gebäranstalt. Deswegen hatten wir Zeit, und keiner störte. Der Vater wandte sich ab und verließ den Raum, die Mutter schlug den Zipfel des Handtuchs zurück und lächelte. Ich wusste, was dieses Lächeln bedeutete. Sie würde bald nachkommen und spürte keinen Trennungsschmerz.“ (S. 58)

    So unspektakulär wie das Leben in Tschernowo ist auch die Geschichte um Baba Dunja beschrieben. Größtenteils geschieht nicht viel. Zwischendurch gibt es immer Momente, in denen man hofft, dass die Geschichte Fahrt aufnimmt. Doch erst zum Ende des Buches nimmt die Handlung eine Wendung an, mit der ich nicht gerechnet habe.
    Das Buch ist insgesamt unterhaltsam und nett, aber das sind viele andere Bücher auch. Warum dieser Roman es jetzt auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat? Keine Ahnung.

    Was die Wertung angeht: Ich schwanke zwischen 3 und 4 Sternen, gebe aber aufgrund des sympatischen Charakters und des außergewöhnlichen Plots 4 Sterne.

    ©Renie

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  1. 4
    18. Sep 2015 

    Heimat...

    Baba Dunja ist eine alte Frau, die keine 82 mehr ist, wie sie nicht müde wird zu betonen. Sie lebt in einem kleinen russischen Dorf mit wenigen Häusern, ein Bus ist die einzige Verbindung in die nächstgelegene Stadt, ein Telefon gibt es nicht, Strom nicht immer, dafür blüht und gedeiht das Obst und Gemüse im eigenen kleinen Garten, und im Sommer ist der Tisch immer reichlich gedeckt. Doch die Idylle trügt, denn Baba Dunja hat sich zu einer Ausgestoßenen erkoren - sie ist zurückgekehrt in ihr Heimatdorf nahe des explodierten Reaktors Tschernobyl. Das Dorf in der Todeszone ist ihre Heimat, ihr selbstbestimmtes Paradies.

    "Das Gute am Altsein ist, dass man niemanden mehr um Erlaubnis fragen braucht - nicht, ob man in seinem alten Haus wohnen kann, und nicht, ob man die Spinnennetze hängen lassen darf." S. 14

    Baba Dunjas Leben scheint frei von Zwängen und größeren Sorgen. Sie genießt jeden Tag, der ihr bleibt, hat losen Kontakt zu den auch nicht mehr jungen Menschen, die nach ihr in das Dorf zurückgekehrt sind und hält gelegentlich einen kleinen Plausch mit den Geistern der Verstorbenen. Baba Dunja interessieren die Geigerzähler nicht oder die Jodtabletten oder ihre Blutwerte. Sie hat mit allem abgeschlossen und möchte den Rest ihres Lebens friedlich und selbstbestimmt dort verbringen, wo die Uhren noch anders gehen und die Hektik der Welt außen vor bleibt. Lebenserfahren und altersweise lebt Baba Dunja genauso, wie sie es für richtig hält und fühlt sich niemandem gegenüber mehr verpflichtet oder verantwortlich. Einzig der Briefwechsel mit ihrer inzwischen in Berlin lebenden Tocher ist ihr noch wichtig.

    "Wir sind den Menschen unheimlich. Sie scheinen zu glauben, dass die Todeszone sich an die Grenzen hält, die Menschen auf der Landkarte einzeichnen." S. 45

    Alina Bronsky, die mit diesem schmalen Büchlein auf die diesjährige Longlist des Deutschen Buchpreises gelangt ist, skizziert hier eine Welt voller Widersprüchlichkeiten, Menschlichkeit, Pragmatismus und leisem Humor. Aus der Sicht Baba Dunjas erfährt der Leser Einblicke in das dörfliche Leben sowie in die Eigenheiten der teilweise recht wunderlichen Charaktere, die hier eine so seltsame Gemeinschaft bilden, in der doch irgendwie jeder für sich lebt. In wenigen, oft kurzen Sätzen skizziert die Autorin die Widersprüchlichkeit der nahezu idyllisch anmutenden einfachen Lebensweise: Selbstversorger mit eigenem Garten, viel frische Luft, die pure Natur - und dann die unsichtbare tödliche Bedrohung, die jeden vom Näherkommen abhält, der innerlich noch nicht mit dem Leben abgeschlossen hat. Dabei beschönigt die Erzählung nichts - sie macht nur kein Aufheben davon, es ist wie es ist.

    "Wenn ich mich in meinem Alter noch über Menschen wundern würde, käme ich nicht einmal mehr zum Zähneputzen." S.62

    Neben dem interessanten Gedankenexperiment, wie es wohl wäre, mit einem Komplettverlust von Zukunftsdanken zu leben oder aber auch neben der kulturellen Steinzeit, in die einen dieses Buch versetzt, waren es vor allem die leisen Töne und der von Humor durchsetzte Schreibstil, die mich für die Erzählung eingenommen haben. Ein wenig fehlte mir hier der Tiefgang, vieles blieb lediglich angerissen, kam über den angedeuteten Status nie hinaus. Das war schade, denn gerne hätte ich einige Charaktere oder Entwicklungen weiter verfolgt. Doch insgesamt konnte mir diese leise und nüchterne aber trotzdem liebevolle Geschichte gefallen.

    Alles in allem ein kleines, feines Buch - ebenso wie sein Hauptcharakter leise und ohne Sentimentalität, dennoch mit melancholischem Unterton und gleichzeitig durchsetzt von augenzwinkerndem Humor. Eine Mischung, die mir gefallen hat, der ich allerdings einige Seiten mehr gewünscht hätte.

    © Parden

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