Außer sich: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Außer sich: Roman' von Courtney Summers
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4 von 5 (5 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Außer sich: Roman"

Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.


Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich. Intensiv, kompromisslos und im besten Sinn politisch.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:376
EAN:9783407822161

Rezensionen zu "Außer sich: Roman"

  1. Matrijoschkaerzählung

    Handlung: Wie fast alle russlanddeutschen Aussiedler reißen sich Valja und Kostja den Hintern auf, um ihren Kindern bessere Lebensbedingungen zu verschaffen, doch alles Sichaufreiben hilft nichts, wenn man nicht integrationswillig ist oder unfähig dazu oder eine Mischung von beidem, wie es bei Kostja der Fall ist, dem Vater von Ali, der erzählenden Figur. Die Mutter kommt besser im Westen an, beißt die Zähne zusammen und fasst Fuß in ihrem Beruf als Ärztin. Endlich lässt sie sich auch von Kostja scheiden, den sie eigentlich niemals heiraten wollte und der aufgrund seiner eigenen Familiengeschichte zu einer Partnerschaft niemals fähig war.

    Kommentar; „Außer sich“ ist also die Geschichte einer russischen jüdischen Aussiedlerfamilie, den Tschepanows, die sich sich über vier Generationen erstreckt. Erzählt wird intensiv und innovativ. Das Problem ist, dass sich die Komposition Sasha M. Salzmanns als Matrijoschkaerzählung entpuppt. Jeder kennt sie, diese Püppchen aus dem slawischen Raum, die man nach Belieben zusammenstecken und auseinandernehmen kann, in jedem Püppchen ist wieder ein Püppchen.

    Zuerst begegnet dem Leser nämlich die gerade erwachsen gewordene Ali, jüngster Sproß der Familie, aufgewachsen zunächst im Asylantenheim, angefeindet als „Judensau“, zusammengeschlagen, notangepasst, die schon in ihren Kinderjahren als Dolmetscherin der Familie fungiert. Aus dem Leser nicht ersichtlichen Gründen, weiß Ali nicht, ob sie Männchen oder Weibchen ist und ringt mit ihrer Geschlechterrolle.

    Je nach Lesart ist Alis persönliche Problematik aufgesetzt und der aktuellen Genderdebatte geschuldet: damit macht man heuer Punkte, der Roman schleudert sich so von einem beliebigen Auswandererdrama in einen modernen Sog, der Vulgaritäten, Obszönitäten und Sexismen umschließt.

    Eine andere Lesart ist, die Thematik des Außer-sich-seins wäre schriftstellerisch bewusst so auf die Spitze getrieben, kulturell, national, familiär, sexuell und geschlechtsbezogen, dass es auch noch dem letzten Deppen klar wird: hier ist keine Heimat entstanden.

    Leider steht Ali nicht im Mittelpunkt des Geschehens, raumgreifend ist die Auswanderung der Familie, anderweitig schon tausendfach erzählt. Mit Ali wird das Auswanderungsschicksal der Familie nur modern unterlegt. Und das ist die Kritik. Der Leser glaubt, er bekommt eine Identitätsfindung, doch die bekommt er nicht, höchstens mittelbar, unmittelbar muss er sich mit den Gräulen des sozialistischen russischen Gesellschaftssystems auseinandersetzen. Denn unvermittelt wird die Alipuppe weggenommen, Elternpuppen, Großeltern und Urgroßelternpuppen stecken unter ihrer Schürze. Und dann wird wieder zusammengesteckt. Und wieder auseinandergenommen. Dies ist nicht direkt chronologisch wirr, nur eine assoziative Schreibweise, es ist alles nachvollziehbar, dennoch, irgendwann ist die Empathiefähigkeit des Lesers erschöpft. Nach dem xten Umschwung ist er erledigt.

    Sprachlich bietet der Roman einige Herausforderungen. Auf der einen Seite sind die Erzählbilder wild und frisch, auf der anderen Seite vulgär, ordinär oder einfach falsch. Auch künstlerische Freiheit braucht einen Rahmen, den Salzman jedoch häufig sprengt. In Laufe der Zeit werden die exaltierten Bilder anstrengend.

    Dass die Perspektive häufig von der Icherzählung unverhofft wieder in eine der Dritten Person wechselt und zurück, ist verkraftbar und zur Not als modern und zulässig anzusehen.

    Ein Glaubwürdigkeitsproblem hat die Autorin mit dem historischen Teil nicht. Was sie erzählt, hat Hand und Fuß, ist grauenhaft und in seiner lakonischen Mitteilung authentisch.

    Fazit: Es kommt ganz drauf an, wie man diesen Roman liest. Er ist modern in seiner Komposition, er ist auch frisch, aber auch langatmig und herausfordernd. Man muss wissen, auf was man sich einlässt. Dass der Roman mit seinem ersten Kapitel völlig falsche Erwartungen erweckt, schadet ihm. Die Autorin kann was, aber sie mutet dem Leser einfach zu viel auf einmal zu. 3,5 Sterne verteile ich, die ich freundlicherweise auf vier aufrunde.

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Suhrkamp, 2017
    Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017

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  1. Ungewöhnlich und lesenswert

    Sasha Marianna Salzmann hat mit dem Buch „Außer sich“ eine ungewöhnliche Familiengeschichte einer sowjetischen Aussiedlerfamilie geschrieben, die, wenn man den von der Autorin gelegten Pfad folgt, Generationenroman und faszinierende Selbst-Suche in einem ist. Stilistisch merkt man dem für mich überwältigendem Romandebüt den Theaterbackground der Hausautorin des Maxim Gorki Theaters (Berlin) an, nur zögernd und bruchstückhaft angeordnete Szenen hangeln sich an Zeitsprüngen entlang zu einem zunächst zersplittertem und erst allmählich durchschaubarem Bild, dessen Fixpunkte oft historische Ereignisse anstatt klarer Zeit- und Personenangaben sind. Lange fast atemlose Sätze spinnen Gedanken und erlauben Blicke in verschiede Richtungen, ohne restlos abzuschweifen, und kommen am Ende immer auf den Punkt, so dass man nie wirklich den Faden verliert. Das Lesen fordert allerdings, und es ist wohl besser, das Buch möglichst in einem Rutsch durchzulesen.

    Zum Inhalt:
    Eine Aussiedlerfamilie, die in den 1990er Jahren in einem Wohnheim in Deutschland lebt, ist nie richtig angekommen und schon innerhalb der anderen Asylanten fremd wegen der jüdischen Wurzeln. Gewalt und Diskriminierung lassen die Zwillinge Alissa und Anton das Anderssein seit der Schulzeit deutlich spüren, doch das ist in der Familie nicht neu. Bereits Großeltern und Eltern lebten Schulter an Schulter mit der Gewalt, sei es durch Repressalien an den sowjetischen Juden oder Gewalt in der Ehe durch Alkohol und Unterdrückung. Alissa und Anton, in der alten Zweizimmerwohnung am Stadtrand von Moskau, in der drei Generationen unter einem Dach lebten, komplett aufeinander fixiert und ineinander verkrallt, wenn die Eltern aufeinander losgehen, schaffen den Sprung nach Deutschland nicht, und eines Tages verschwindet Anton spurlos. Eine Postkarte aus Istanbul weist Alissa den Weg, der zur Suche nach ihrem Bruder und nach ihrer eigenen Identität wird. Ein verwanztes Sofa in der Istanbuler Wohnung des Onkels eines Freundes dient ihr in der fremden, pulsierenden und gnadenlosen Stadt als Schutzschild gegen das Leben. Istanbul wird hier nicht als lichtdurchfluteter duftender Ort an der Grenze zwischen Orient und Okzident dargestellt, sondern als dunkles und gefährlich anmutendes Rattenloch mit seltsamen und zwielichtigen Gestalten. Alissa lässt sich bei ihrer Suche nach Anton auf die Metropole ein und lässt sich gemeinsam mit dem Leser treiben im sumpfigen Strom.

    Die suchende Alissa ist Rebellin und Zerrissene, sich Verkriechende zugleich. Sie ist nicht gut greifbar, kein Sympathieträger und für mich auch keine Person, mit der ich mich identifizieren kann und möchte. Je mehr sie von ihrer Familiengeschichte findet und aufspult, desto größer scheint ihre Unsicherheit und die Gefahr, sich zu verlieren, ihr Handeln und ihre Entscheidungen sind auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar, willkürlich und unlogisch. Aber genau darum geht es für mich bei dieser Figur: ich soll sie wertungsfrei auf ihrer Suche begleiten, deren Ende zwar die Geschichte der Familie aufzeigt, bezüglich der Identitätssuche jedoch zumindest teilweise offen bleibt.

    Die Normalität, mit der die familiäre Gewalt beschrieben wird, Schläge, Vergewaltigung als alltägliches Handeln emotionslos dargestellt werden, ist für den Leser durchaus grenzwertig und verabscheuungswürdig. Die Kinder Alissa und Anton haben von vornherein keine Chance, innerhalb dieser ständig schlagenden, alkoholisierten Familie ihren Platz zu finden, und das schmerzt beim Lesen, auch wenn mir völlig klar ist, dass die dargestellten Verhältnisse tatsächlichem familiären Leben in der postsowjetischen Ära in den Betonsiedlungen am Rand großer Städte entsprechen.
    Die Ausgrenzung der Juden in der ehemaligen Sowjetunion, ihre Verfolgung und Deportation, die in der Stalinzeit begann, nimmt als Teil der Familiengeschichte, die in Rückblicken erzählt wird, einen wichtigen Platz im Buch ein. Mäandernd aber chronologisch, lernt man die Familie beginnend bei den Urgroßeltern kennen, auch wenn man sich die Daten selbst anhand historischer Ereignisse selbst erarbeiten muss.

    Hauptaugenmerk des Romanes ist die Suche von Alissa (Ali), und so sollte man es auch zu nehmen und zu lesen wissen. Dabei spielt ihre Identität, ihre Wurzeln und auch ihre sexuelle Orientierung eine gleichwertig wichtige Rolle.
    Teils gewollt verwirrend beim Lesen und für mich am Ende dennoch ein Bild ergebend kommt die Geschichte beim Leser an, die man sich konzentriert und unvoreingenommen offen erarbeiten muss, um Gefallen am Buch zu finden.

    Die ungewöhnlich erzählte Geschichte einer Verlorenen im fremden Land, die den Leser nicht an sich heran lässt, ist für mich fesselnd und fordernd zugleich, und ich empfehle es allen, die willens sind, sich auf eine distanzierte Erzählung mit richtig guter Dramaturgie und offenem Ende einzulassen.
    Ich wünsche dem für mich sehr authentischen und eindringlichen Buch viele interessierte Leser.

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  1. 4
    18. Okt 2017 

    Scherbenleben...

    Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der kleinen Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims, stehlen Zigaretten aus den Zimmern fremder Familien und riechen an deren Parfumflaschen. Und noch später, als Alissa schon ihr Mathematikstudium in Berlin geschmissen hat, weil es sie vom Boxtraining abhält, verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. In der flirrenden, zerrissenen Stadt am Bosporus und in der eigenen Familiengeschichte macht sich Alissa auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht. Wer sagt dir, wer du bist? Davon und von der unstillbaren Sehnsucht nach dem Leben selbst und seiner herausfordernden Grenzenlosigkeit erzählt Sasha Marianna Salzmann in ihrem Debütroman Außer sich.

    Ich habe diesen Roman, der mit fünf weiteren Büchern auf der diesjährigen Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, nun vor einigen Tagen beendet und ganz gegen meine Gewohnheit nicht sofort eine Rezension verfasst. Der Klappentext lässt nicht einmal ansatzweise erahnen, worum es in diesem Buch überhaupt geht. Gerade das aber lässt sich hier auch schlecht auf den Punkt bringen.

    Eine autobiografische Fiktion sei ihr Roman, verrät Sasha Marianna Salzmann zu ihrem Debüt. Es geht hier um vieles, wobei die Suche Alis nach ihrem Zwillingsbruder Anton tatsächlich den kleinsten Raum einnimmt. Es geht um Geschwisterliebe, Geschlechterumwandlung als radikale Selbstbestimmung, um sowjetische Familiengeschichten, Migration in jeder Hinsicht.

    "Die ganze Zeit hat sie so Zeug vor sich hin gesprochen, sie hätte uns nicht hierherbringen sollen, alles selbstverschuldet, das habe sie jetzt davon. Dann sagte sie, Migration tötet, es klang wie eine Warnung auf einer Zigarettenschachtel: Migration fügt Ihnen und den Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu." (S. 297)

    Die Autorin selbst ist in Moskau aufgewachsen, mit zehn Jahren dann mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen als jüdischer Kontingentflüchting. Auch hat Sasha Marianna Salzmann länger in Istanbul gelebt, wo mit Hilfe eines Stipendiums dieser Roman entstand. Die Eckdaten ihrer Biografie spiegeln sich in dem Hauptcharakter Ali. Insofern war beim Lesen stets die Frage präsent, wie viel von der Autorin sonst noch in Ali und ihre Geschichte eingeflossen ist. Istanbul beispielsweise nennt Sasha Marianna Salzmann selbst einen 'Sehnsuchtsort', "...weil ich in Istanbul in mir war, nicht außer mir, das passiert mir sehr selten."

    "Sie war sich nicht sicher, wem sie schon welche Geschichte erzählt hatte, sie war sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr sicher, was sie eigentlich tat in einer Stadt außerhalb der Zeit, suchte sie wirklich ihren Bruder oder wollte sie einfach nur verschwinden. Sie zitterte." (S. 123)

    Ali wirkt wie getrieben. Sie ist auf der Suche. Doch weniger tatsächlich nach ihrem Zwillingsbruder, wie der Leser bald bemerkt. Vielmehr nach - ja, nach was? Vielleicht am ehesten nach sich selbst, nach ihrem Platz in der Welt, nach ihren Wurzeln. Ali ist immerzu unterwegs, nirgends wirklich zu Hause, nichts steht fest, selbst und gerade das Ich scheint zu bröckeln. Istanbul ist schließlich die Stadt, in der Ali erstmals einen Ort erfährt, der sich annähernd wie Zuhause anfühlt. Aber auch dort treibt eine innere Unruhe sie immer weiter, an immer neue Orte.

    "Ich bin nicht wie du, ich bin kein Tier, das vor sich hin grast und alles hinnimmt, wie es kommt. Ich will nichts von diesem Leben, in dem es alles gibt, aber niemand etwas will. Ich will nichts von diesem Schnickschnack, den ihr für die Erfüllung eures Lebens haltet, weil ihr sonst nichts habt, woran ihr glauben könnt." (S. 118)

    Doch Ali sucht nicht nur im Hier und Jetzt. Sie sammelt auch Bruchstücke der Vergangenheit auf. Ausführlich schildert die Autorin hier die Geschichten der vorherigen Generationen, die alle die Themen Migration, Verlust von Lebensträumen, Zugehörigkeit, Alkohol, Gewalt und grenzenlose innere Einsamkeit vereinen. Aufbrüche, Umzüge, Zerwürfnisse zwischen Moskau, Berlin und Istanbul, Haltlosigkeit und Bodenlosigkeit prägen die Biografien, brüchige Wurzeln. Ali betrachtet diese Scherben, kann sie jedoch nicht zu einem Ganzen fügen, aus dem losen Flickenteppich der Erinnerungen entsteht keine Wahrheit.

    "Sie sprach in mehreren Sprachen gleichzeitig, mischte sie je nach Farbe und Geschmack der Erinnerung zu Sätzen zusammen, die etwas anderes erzählten als ihren Inhalt, es klang, als wäre ihre Sprache ein amorphes Gemisch aus all dem, was sie war und was niemals nur in einer Version der Geschichte, in einer Sprache Platz gefunden hätte." (S. 258)

    Die Gestaltung des Romans entspricht der Getriebenheit Alis. Hier wird alles andere als linear erzählt, und jeder Figur lässt die Autorin dieselbe Sorgfalt zukommen, so dass Alis Suche oftmals aus dem Fokus gerät. Der Ausgestaltung der Szenen ist die Nähe Salzmanns zum Theater anzumerken; sie sind geprägt durch eine dramaturgische Kraft sowie durch einen ungeheuren Reichtum der Bilder. Eine kraftvolle Sprache, getragen von Bildern und Dialogen, zieht sich durch den Roman.

    "Mustafa schaute sie an. Er hatte sehr müde Augen, eine sehr müde Haut, sie bildete tränenförmige Ausstülpungen, die langsam von den Wangenknochen nach unten zogen, in Zeitlupe tropfte seine Haut von seinem Gesicht. Große, runde Sogpupillen, die ohne jeden Ausdruck auf Ali ruhten." (S . 32)

    All dies zählt durchaus zu den positiven Seiten des Buches, und es ist für mich nachvollziehbar, dass dieser Debüt-Roman auf der Shorlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Der Roman beschäftigt den Leser auch über die eigentliche Lektüre hinaus, was ich ebenfalls zu den Stärken zählen würde. Aber - und hier kommt ein großes Aber - da ist noch der Punkt, wie es mir persönlich beim Lesen erging.

    Für mich war diese Lektüre ein großer, persönlicher Kampf. Seite um Seite musste ich diesem Roman abringen, nach ein paar Abschnitten hatte ich dann wieder genug und legte das Buch wieder weg. Selten habe ich mich einmal so schwer getan mit einem Roman. Das lag zum einen an den sperrigen Charakteren, die einfach keine Nähe zuließen, zum anderen aber eben auch an der Sprunghaftigkeit der Erzählung, an dem Nicht-Linearen, der Düsternis, der sich durchziehenden Melancholie. Ich hatte immer das Gefühl, Menschen beim Vor-Sich-Hin-Vegetieren zuzuschauen - hinter jeder Kulisse kam Abfall, Niederträchtigkeit und Einsamkeit zum Vorschein.

    "Ich hätte ihn nicht geheiratet, wenn ich nicht schwanger geworden wäre. Ich hätte ihn verlassen gleich nach dem ersten Streit, gleich nach dem ersten Schlag, als ich sein aufgedunsenes, rotes Gesicht zum ersten Mal sah. Versteh mich nicht falsch, ich bereue es nicht, das heißt, ich bereue es nicht, euch gekriegt zu haben, aber Kinder muss man schnell kriegen, bevor man Zeit hat, sich kennenzulernen und dann enttäuscht zu sein, sonst würde niemand Kinder kriegen... (S. 258)

    Auch wenn zu spüren ist, mit wieviel Engagement und Herzblut die Autorin ihr Erstlingswerk geschrieben hat, wie viel Persönliches auch wohl dort eingeflossen ist, kann ich in der Summe einfach nicht mehr Sterne vergeben, was mir sehr leid tut. Aber neben der Faszination hinsichtlich der Gestaltung des Romans, seiner Bildhaftigkeit und der existentiellen Fragen, die hier gestellt werden, gibt es eben das persönliche Gefühl eines Zuviels und einer phasenweise Unerträglichkeit. Niemand bedauert das mehr als ich.

    Dennoch fand ich es spannend, diesen Roman im Rahmen einer Leserunde zu lesen und dabei zu erkennen, wie unterschiedlich er aufgenommen wurde. In jedem Fall war die Lektüre eine bereichernde Erfahrung.

    © Parden

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  1. Vergiss dich, nimm dich nicht so wichtig, lös dich auf...

    Die Geschichte erstreckt sich nicht nur über Generationen, Religions- und Ländergrenzen, sondern reizt auch aus, wie unfassbar zerbrechlich und zugleich fließend die Identität eines Menschen sein kann.

    »Hier schreibt jemand, der etwas zu erzählen hat« sagt DIE WELT, und dem würde ich vorbehaltlos zustimmen. Sasha Marianna Salzmann weiß, wovon sie spricht, und sie spricht in einem so innovativen wie kompromisslosen Stil, der mal poetisch klingt – und mal so, als habe sie ihre Lebenswut aufs Papier gekotzt.

    Zitat:
    "Außerhalb ihres Kopfes verlief die Zeit schneller, es bewegten sich Dinge in Blitzgeschwindigkeit, Schuhe, die wie Schlangen um sich schnappten, Ottern und riesige Insekten, die sie ansprangen, sie schrie auf und hatte das Gefühl, geschrumpft und in ein Bild gesteckt worden zu sein, das bei McDonald's an der Wand hing. Alles war Dschungel, alles war Farben, alles machte ihr Angst, und sie wusste nicht, ob sie auf dem Boden lag oder in ein Loch gefallen war."

    Aber dieses 'etwas', das sie zu erzählen hat, blieb für mich über weite Strecken nicht greifbar, ihre Charaktere interessant, aber seltsam blutleer. Auch die Wucht des Schreibstils blieb oft auf dem Papier kleben.

    Wenn der schnelle Wechsel von Schauplätzen und Perspektiven den Leser irritiert und verwirrt, so ist dies von der Autorin jedoch durchaus erwünscht. Sie wolle dem Leser eine Ahnung verschaffen, sagte sie in einem Interview, wie es sich anfühlt, wenn "die Drehscheibe zu schnell ist".

    Und die Drehscheibe ist rasend schnell für die Menschen, die sie in ihrem Roman beschreibt. Anton und Ali sind die Kinder von Heimatlosen, haben die Rastlosigkeit im Blut, begegnen auf ihrer Suche nach dem eigenen Ich nur mehr anderen Suchenden, aber keinen Angekommenen. Besonders Ali ist grenzenlos haltlos, ohne Anton hat sie das Gefühl, auch sich selbst verloren zu haben. Aber ist sie überhaupt eine Sie? Sexualität und Gender werden durch Antons Verschwinden erschüttert: es bleibt unklar, ob Ali transgender ist oder den Verlust des Bruders kompensieren will, indem sie/er seine Identität übernimmt. Letztlich bleibt sogar offen, ob es Anton je gab, oder ob er von Anfang an eine Abspaltung des genderqueeren Teils von Ali war.

    Zitat:
    »Ich reihe meine Vielleichts aneinander, Kügelchen für Kügelchen, ungeschliffene Murmeln, die keine vorzeigbare Kette ergeben.«

    Möglicherweise ist das schon die Erklärung, warum es mir so schwerfiel, für die Charaktere mehr als vages Interesse zu empfinden: sie sind unfassbar, im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie keine klar umgrenzte Identität haben, und damit wird der interessanteste Aspekt des Buches zugleich zu seiner größten Schwäche.

    Ganz nebenher erzählt die Autorin die Lebensgeschichte der entwurzelten russisch-jüdischen Familie Tschepanow über vier Generationen – was an sich gar nicht auf 366 Seiten passen sollte, es aber tut, weil alles fragmentarisch bleibt.

    Auch hier wieder: interessant, aber.

    Es erklärt Ali, und es erklärt Ali nicht, weil der Leser die Familiengeschichte sieht wie in einem zerbrochenen Spiegel. Mir erschwerte das Fragmentarische die emotionale Investition, die die Geschichte in meinen Augen fordert – auch wenn es wunderbar Alis Identitätskrise widerspiegelt und verdeutlicht, was für ein trügerisches Konstrukt die menschliche Erinnerung ist.

    Zitat:
    »Mein Name fängt mit dem erste Buchstaben des Alphabets an und ist ein Schrei, ein Stocken, ein Fallen, ein Versprechen auf ein B und C, die es nicht geben kann in der Kausalitätslosigkeit der Geschichte.«

    Möglicherweise muss man sich als Leser von der Vorstellung verabschieden, das Buch müsse einem seinen Sinn offenbaren und Alis Reise in vollkommener Selbsterkenntnis enden. Es spricht wichtige, interessante Themen an. Die Sprache an sich ist es wert, gelesen zu werden, die Geschichte an sich ist es wert, gelesen zu werden.

    Für mich scheiterte es – oder ich? – jedoch an der Umsetzung, die Drehscheibe drehte sich zu schnell. Ich spürte, dass sich hinter dem, was ich las, etwas Großes verbarg, bekam es im Schwindel der Erzählung jedoch nicht zu fassen.

    Fazit:
    "Außer sich" ist vieles: eine epische Familiengeschichte, ein rasant erzählter, mutiger Roman mit einer Unzahl von Themen: Migration, Integration, Fremdenhass, Genderidentität, Inzest und immer wieder Selbstfindung, Selbstverlust... Es passiert unglaublich viel, und es fühlt sich an, als würde alles gleichzeitig passieren, der Schreibstil ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Einfach ist das nicht – kein Buch zum nebenher Konsumieren.

    Was meine abschließende Bewertung betrifft, bin ich so zwiegespalten wie die Hauptfigur des Buches bezüglich ihrer Identität: letztendlich bleibt es ein Buch, dessen Ehrgeiz, Mut und sprachliche Innovation ich anerkenne, das mich jedoch dennoch nicht vollends überzeugen konnte.

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  1. Spannend und fesseld das Ende kam jedoch zu früh

    Inhalt:
    Romy schützt sich mit Nagellack und Lippenstift vor ihren Mitschülern und auch den Erwachsenen ihres Ortes die ihr nicht glauben und sie verachten, weil sie behauptet hat vom Sohn des Sherriffs vergewaltigt worden zu sein. Auch nach dem Verschwinden, ihrer damaligen Freundin Penny, hört die Verachtung nicht auf und wird eher noch schlimmer.

    Meine Meinung:
    Ausser sich beginnt mit der Erinnerung an die Vergewaltigung und geht dann direkt mit zwei Wochen vor dem Verschwinden von Penny weiter. Ein Umschwung den ich erstmal realisieren musste und sehr hart war.

    Das Buch ist in mehrere Bereiche unterteilt. Das Jetzt, zwei Wochen zuvor und auch Danach. Dabei geht es nicht um die Zeiten vor und nach der Vergewaltigung, wie ich zunächst dachte. Sondern um die Zeitabschnitte vor und nach der Party. Vieles bleibt im verborgenen, ein paar Dinge werden erst mit der Zeit erzählt. Stellenweise hatte ich viele Fragezeichen beim Lesen und doch war ich gefesselt von dieser Geschichte, die so ganz anders war wie erwartet und doch recht gut.

    Erzählt wird aus Sicht von Romy und sie wirkt etwas gespalten, das macht sich mit der Zeit bemerkbar und auch das Warum wird recht schnell klar. Doch Ihre Rüstung aus Schminke hilft ihr auf Dauer nicht und ihr Schweigen gegenüber neu kennen gelernte Personen verkompliziert einiges mehr als das es nützt. Ich habe Romy nicht immer verstanden und sie blieb distanziert, aber verstehen konnte ich ihre Reaktionen die meiste Zeit schon.
    Andere Figuren gibt es viele. Angefangen bei ihrer Mutter und deren Freund, die ganz herzlich sind und zu ihr stehen egal was kommt. Weiter mit Schulkameraden die ihr das Leben zur Hölle machen und Erwachsenen die nicht besser sind. Es aber eigentlich besser wissen sollten. Da habe ich nicht jeden verstanden, aber das ist vielleicht in manchen Dörfern so. Wer etwas gegen die Angesehenen sagt ist nichts mehr Wert. Traurig das es, bis auf die Mutter und deren Freund, niemanden gibt von den Erwachsenen, der wirklich hilft. Von Jugendlichen hätte ich so ein Verhalten vielleicht noch erwartet, doch Erwachsene sollten reifer sein.

    Das Ende der Geschichte kam für mich zu früh. Sicher gibt es beantwortete Fragen und doch fehlt mir da noch etwas, denn die eigentliche Geschichte von Roma beginnt ja nicht mit der Party sondern mit der Vergewaltigung davor und die Sache wirkt für mich nicht wirklich abgeschlossen. Schade, denn so bleibt ein fader Beigeschmack und der Eindruck das viele ein Recht hatten Romy so zu behandeln.

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