Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens
Aufmerksam gemacht auf diesen Roman hat mich Nicole Seifert mit ihrem Buch „ Frauenliteratur Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ ( 2021 ).
Darin zieht sie eine Analogie zu Theodor Fontanes „ Effi Briest“. Beide Romane sind im selben Jahr erschienen, beide waren große Erfolge, wurden von der Leserschaft und von den Kritikern gefeiert. Trotzdem geriet die Autorin und ihr Roman in Vergessenheit, während „ Effi Briest“ zum Kanon der deutschen Literatur gehört und seit Jahrzehnten Schullektüre ist.
Dass „ Aus guter Familie“ der breiten Öffentlichkeit zugänglich wird, ist dem Reclam Verlag zu danken, der es in einer schön aufgemachten Ausgabe in seiner Reihe „ Reclams Klassikerinnen“ herausgebracht hat.
Wer war Gabriele Reuter? Geboren 1859 in Alexandria, als Tochter eines deutschen Kaufmanns, begann sie aus finanziellen Gründen früh mit dem Schreiben; zuerst kleinere Beiträge für Zeitungen, später Novellen und Romane. Um die Jahrhundertwende zählte sie zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellerinnen. 1941 starb sie , nahezu vergessen.
Es gibt eine weitere Parallele zu Fontane. Beide Protagonistinnen, Effi Briest und Agathe Heidling, gehen „ letztendlich an der Unmenschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse“ zugrunde. ( Zitat: Nicole Seifert)
Der Roman setzt ein mit der Konfirmation der beinahe siebzehnjährigen Agathe. Der Pastor und ihr Vater, der Herr Regierungsrat, machen in ihren Tischreden deutlich, welche Erwartungen an das Mädchen gestellt werden. Spricht der Vertreter der Kirche von ihrer Verantwortung als Christin, so hält der Vater ihr die Pflichten einer Frau und Mutter vor. Dazu passt, dass Agathe anstelle Herweghs Gedichten, die sie sich gewünscht hat, der Prachtband „ Des Weibes Leben und Wirken als Jungfrau, Gattin und Mutter“ geschenkt wird.
Agathe möchte gerne den Anforderungen genügen, möchte ein liebenswertes Mädchen und eine brave Tochter sein. Gleichzeitig aber träumt sie von Freiheit und Liebe.
Ist anfangs noch ein Aufbegehren gegen die ihr zugewiesene Rolle zu spüren, so legt sich dies bald. In ihrem Umfeld gibt es niemand, der sie darin unterstützt. Im Gegenteil! Ihre Wissbegierde, ihr Interesse an neuen Ideen und aufklärerischen Schriften sind bei einer Frau nicht gerne gesehen.
Dann, eine erste schwärmerische Liebe zu einem Maler, die unerwidert bleibt und Agathe desillusioniert zurücklässt. Selbst als sie ihre Ansprüche an einen Ehemann herunterschraubt, kommt eine Ehe nicht zustande, da ihr älterer Bruder ihre Mitgift verspielt hat.
Als unverheiratete Frau gibt es für Agathe kaum mehr Möglichkeiten, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Sie wendet sich der Kirche zu, doch das Heuchlerische dort stößt sie ab. Die Rolle als treusorgende Tochter, die sich um die Eltern kümmert und nach dem Tod der Mutter dem Vater Gesellschaft leistet, kann auch nicht die Erfüllung bringen. Agathe versinkt in tiefe Resignation, wird krank . In einem sog. „ Frauenbad“ soll sie, wie unzählige andere Frauen, geheilt werden. „ Frauen - Frauen- nichts als Frauen. Zu Hunderten strömten sie aus allen Teilen des Vaterlandes hier…zusammen,…Fast alle waren sie jung,…Und sie teilten sich in zwei ungefähr gleiche Teile: die von den Anforderungen des Gatten, von den Pflichten der Geselligkeit und den Geburten der Kinder erschöpften Ehefrauen und die bleichen, vom Nichtstun, von Sehnsucht und Enttäuschung verzehrten Mädchen.“
Aber Agathe kann hier nicht geholfen werden, sie endet als Dreißigjährige, in einer Nervenheilanstalt.
Dieser Roman berührt und macht zugleich wütend. Weil hier eine junge, sensible und kluge Frau an den Ansprüchen der Gesellschaft zugrunde geht. Weil es keinen Platz gibt für ihre Träume und Wünsche, weil die Gesellschaft genaue Vorstellungen hat, was einer Frau zusteht und was nicht. Immer wieder wird von anderen über sie entschieden, ohne dass sie ein Mitspracherecht hätte. Und Agathe ist keine Rebellin, die eigenständig ihren Weg geht. Dazu fehlt ihr der Mut. Nein, sie möchte sich anpassen, ist bereit, den Erwartungen zu genügen. Das macht ihr Schicksal doppelt tragisch.
Es finden sich im Roman auch keine anderen Frauenfiguren, die sich als Vorbild eignen würden. Agathes Mutter, eine schwache, ständig kränkelnde Frau, hat die Vorstellungen der damaligen Gesellschaft verinnerlicht. Eugenie, eine Freundin aus Kindertagen, findet zwar ihren Platz an der Seite von Agathes Bruder. Doch sie ist eine zutiefst unsympathische Frau, berechnend und manipulativ. Eine erfolgreiche und bewunderte Schauspielerin muss ein Doppelleben führen, weil niemand von ihrem unehelichen Kind wissen darf. Und besonders bedauernswert ist ein früheres Dienstmädchen im Elternhaus von Agathe, die, vom Sohn des Hauses geschwängert, im Elend versinkt.
Es sind v.a. die Männer, die Frauen keine Entwicklungsmöglichkeiten zugestehen, weil sie von der Rollenverteilung profitieren. Besonders enttäuschend hat sich Agathes Cousin Martin entwickelt. Er, der als junger Mensch für revolutionäre und sozialistische Ideale einsteht, ist ihr auch keine Hilfe.
Gabriele Reuter beschreibt dies alles sehr eindringlich und anschaulich. Sie bietet keine Lösungen an und endet nicht versöhnlich, im Gegensatz zu Fontane. Dabei überrascht sie immer wieder mit unerwarteten Wendungen.
Der Roman ist nicht nur die „ Leidensgeschichte eines Mädchens“, wie er im Untertitel heißt, sondern auch ein Zeitdokument.
Hervorzuheben ist noch das informative Nachwort von Tobias Schwartz, das Autorin und Roman einordnet. Es ist nun zu wünschen, dass das Buch viele Leser und seinen Platz im Literaturkanon findet.
Ein erschreckendes Frauenportrait im ausgehenden 19. Jahrhundert
Zum ersten Mal bin ich bei Nicole Seifert („Frauenliteratur – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“, Köln 2021) auf die Autorin Gabriele Reuter gestoßen. Jetzt wurde ihr 1895 erstmals erschienener Roman „Aus guter Familie“ in der Reihe „Reclams Klassikerinnen“ haptisch und optisch sehr ansprechend neu aufgelegt. Das informative Nachwort über Leben und Werk der Autorin hat Tobias Schwartz beigesteuert. Es rundet die attraktive Ausgabe ab.
Im Mittelpunkt des Romans steht Agathe, Tochter des Regierungsrats Heidling. Wir lernen sie als 16-Jährige bei ihrer Konfirmation kennen und begleiten sie bis in ihre mittleren 20er Jahre hinein. Der Untertitel des Romans „Leidensgeschichte eines Mädchens“ wird zum Programm. Agathe ist ein kluges, aufgeschlossenes Mädchen, das konform zum damaligen Frauenbild streng im Glauben erzogen wurde. „Für den deutschen Mann die Pflicht – für die deutsche Frau der Glaube und die Treue.“ (S. 13) Mädchen werden systematisch dumm gehalten, Bildung ist ihnen weitgehend versagt. Die Mutter überwacht die Moral, der Vater die Lektüren.
Einerseits hat Agathe einen lebhaften, fantasievollen Charakter, auf der anderen Seite bemüht sie sich stets um Anpassung und Gehorsam: „Aber so war es fortwährend. Was einem gefiel, dem musste man misstrauen.“ (S.19) Der Spagat nagt zunehmend an ihrem Selbst. Agathes Gedanken verlassen immer wieder den eng begrenzten Raum ihres Daseins. Der freiheitsliebende und sozialdemokratisch eingestellte Cousin Martin übt ebenso Einfluss auf das junge Mädchen aus wie der exzentrische Lebemann Onkel Gustav, Freundin Eugenie oder Künstler Lutz. Die sensible Agathe verliert sich kurzzeitig in der Schwärmerei für einen toten Dichter, die wie eine Flucht erscheint. Agathes romantisch-jugendliche Gefühle sehnen sich nach Leidenschaft und Liebe, beides ist für die deutsche Frau jedoch nicht vorgesehen. Ihre Sehnsüchte enden frustriert im Nichts.
Die innere Zerrissenheit Agathes spitzt sich immer mehr zu. Sie kann die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Zunächst findet sich kein adäquater Ehemann, später zerschellen ihre diesbezüglichen Hoffnungen auf dem Spieltisch ihres Bruders. Sie führt den Eltern den Haushalt. Ein Leben, das Agathe nicht erfüllt. Sie versucht sich im Glauben, in der Literatur, scheitert jedoch schnell an den von der Gesellschaft gesteckten Grenzen: „Ach, Männer, die sich hier vertiefen – die weiter forschen und grübeln dürfen – die Glücklichen! Die Glücklichen! Denen brauchte freilich die dumme Liebe nur etwas Nebensächliches zu sein!“ (S. 201) Dazu kommen Bigotterie und Angst vor der ewigen Verdammnis. Eine unverheiratete Frau hat wenige Möglichkeiten, sie ist auf männliche Verwandte angewiesen. Sie darf handarbeiten und musizieren.
Prägende Erlebnisse, wie die Geschichte des braven Hausmädchens Wiesing, das schmachvoll aus dem Haus gejagt wird, weil Agathes Bruder sie bedrängte, begleiten Agathes Entwicklung zur Frau. Sie scheint die Unmenschlichkeit der patriarchalen Welt zu erkennen, wenn sie sie auch nicht klar definiert. Es sind zahllose Szenen, die die Leserin innerlich aufwühlen angesichts des dargestellten Unrechts, das Frauen dieser Zeit widerfuhr. Agathes Perspektive lässt dabei immer wieder persönliche Gedanken zu, die zeigen, wie die junge Frau mehr und mehr an sich selbst verzweifelt, wie sich neben tiefer Traurigkeit und Schlaflosigkeit auch ernstzunehmende Gedanken an Selbstmord und Tod einstellen. Agathes Weg scheint vorprogrammiert. Sie kann sich weder aus ihrem Lebenskorsett befreien noch in den vorgegebenen Bahnen glücklich werden. Verständnis sucht sie vergebens.
Gabriele Reuter hat einen bedeutenden feministischen Roman geschrieben, der ein einprägsames Sozial- und Gesellschaftsportrait seiner Zeit abbildet, sowie Schieflagen und politische Entwicklungen aufzeichnet. Bei Erscheinen war „Aus guter Familie“ ebenso erfolgreich wie Fontanes „Effi Briest“. Beide Protagonistinnen gehen am Ende an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde. Dass Reuters Werk aus dem Literaturkanon verschwand, während Fontanes bis in die Gegenwart hinein zur Abiturlektüre zählt, ist sachlich nicht begründbar. Gabriele Reuter war eine überaus feinsinnige Beobachterin. Sie hat lebensechte, vielschichtige Figuren geschaffen, die dieses tiefgreifende Romangeschehen bevölkern. Die Empathie des Lesers liegt zweifelsfrei auf Agathe, der man ein erfüllteres Leben wünschen würde. Eine faszinierende, gewinnbringende und glaubwürdige Lektüre, der ich viele alte und neue Leser wünsche.
Große Leseempfehlung für diesen zeitlosen feministischen Roman!