Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Buchseite und Rezensionen zu 'Aufzeichnungen aus dem Untergrund' von Fjodor Dostojewski
3.85
3.9 von 5 (7 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Aufzeichnungen aus dem Untergrund"

Ein ehemaliger Beamter sitzt verbittert in seiner Kellerwohnung am Stadtrand von St. Petersburg und klagt die Welt an. Obwohl erst in den Vierzigern, hat er seinen Dienst quittiert und lebt von einer kleinen Erbschaft mehr schlecht als recht. Was seinen Furor erregt, ist der »moderne Mensch« und die von diesem geprägte Gesellschaft. Mit hemmungsloser Offenheit berichtet er auch über seine eigenen Erfahrungen des Scheiterns, von Entfremdungen und Missverständnissen. Je weiter er sich in seine Generalabrechnung hineinsteigert, desto unerbittlicher wird er gegen sich selbst. Dostojewskis meisterliche psychologische Studie besticht durch die Suggestivkraft einer durch und durch radikalen Selbst- und Weltbeschreibung. Pünktlich zum 200. Geburtstag des Autors am 11.11.2021 erscheint dieses große kleine Werk in Neuübersetzung durch Ursula Keller.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:208
Verlag:
EAN:9783717525363

Rezensionen zu "Aufzeichnungen aus dem Untergrund"

  1. Aufzeichnungen eines Wutbürgers

    Wut, die – heftiger, unbeherrschter, durch Ärger o. Ä. hervorgerufener Gefühlsausbruch, der sich in Miene, Wort und Tat zeigt (Quelle: Duden)

    Warum liest man in Zeiten, in denen es vor Wutbürgern nur so wimmelt, ein Buch, was genau aus der Sicht eines solchen Grantlers geschrieben ist? Nun, erstens heißt der Autor Fjodor Dostojewski (er wäre in diesem Jahr 200 Jahre alt geworden) und zweitens konnte der Manesse-Verlag, der die „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ in einer wahrhaftigen Prachtausgabe seiner berühmten und bei Freunden des gepflegten Buchs überaus beliebten Bibliothek hinzugefügt hat, wohl bei der Planung nicht ahnen, dass die unsägliche Pandemie eine Masse an eben diesen Wutbürgern hervorspülen würde. Wenn jeder seine Wut verschriftlichen würde statt auf die Straße zu gehen, würde uns allen wohl viel erspart bleiben *g*.

    So lässt der namenlose Protagonist kein gutes Haar an allem und jedem und nimmt sich davon nicht aus. Schon der erste Satz offenbart den Leserinnen und Lesern, mit wem wir hier zu tun haben:

    „Ich bin ein kranker Mensch…Ich bin ein zorniger Mensch.“ (S. 9)

    Oha, das kann ja heiter werden…Nein, wird es nicht. Im Gegenteil: manchmal weiß man vor lauter Selbstmitleid, Selbstzweifel etc. des Protagonisten gar nicht, ob man weiterlesen will oder nicht. Zumal die langen inneren Monologe, die dem tiefsten Untergrund der menschlichen Seele entspringen, der geneigten Leserschaft einiges an Geduld abverlangen. Ich will nicht sagen, dass man für manche Passage ein Psychologiestudium braucht, aber es kommt dem schon verdammt nahe. Nicht umsonst hat Friedrich Nietzsche das Werk für einen wahren „Geniestreich der Psychologie“ (S. 303) gehalten. Na denn – er muss es wissen ha ha ha.

    Der zweite Teil der Aufzeichnungen mit der Überschrift „Angelegentlich nassen Schnees“ kommt dann (sprachlich) geringfügig lockerer daher. Doch Vorsicht: wir sind weit von der Leichtigkeit eines – ähm – banalen Textes entfernt. Hier erzählt uns der Protagonist Erlebnisse, die ihm widerfahren sind und an deren Groteske wohl selbst Kafka gescheitert wäre – und das will schon was heißen *g*.

    Das plötzliche Ende der Aufzeichnungen lässt die geneigte Leserschaft dann „aufatmen“ á la „Hey, geschafft. Und jetzt? Welche Erkenntnis nehme ich mit aus dem Untergrund an die Oberfläche?“ Nun, das muss und kann jede*r nur für sich beantworten; mich haben sie in dem Sinne beschäftigt, dass ich mir sicher bin, das schmale Büchlein gelegentlich noch einmal in die Hand zu nehmen.

    Die zahlreichen Anmerkungen (insgesamt 48) sind mal interessant, mal vernachlässigbar, helfen aber, dass ein oder andere besser einzuordnen. Auch das anschließende Nachwort der Übersetzerin Ursula Keller, die – so scheint mir – überragende Übersetzungsarbeit geleistet hat, hilft bei der Einordnung der „Aufzeichnungen…“ in das Gesamtwerk Dostojewski´s und zeigt, dass er wohl nicht umsonst zu den wichtigsten Autoren Russlands gehört (hat) und seine Werke eine erstaunliche Aktualität aufweisen, was mir gerade beim Schreiben dieser Zeilen eine dicke Gänsehaut beschert.

    Insgesamt liest sich diese Rezension wahrscheinlich eher nach 5* denn nach 4* (und die Gestaltung als solches hat mindestens 6* verdient). Aber da es keine „Wohlfühllektüre“ war, kann ich mich nicht dazu durchringen, die Bestnote zu zücken. Aber tendenziell ist die Bewertung eher mehr an der 5 als an der 4.
    Eine Leseempfehlung spreche ich somit natürlich aus, allerdings sollten die „Aufzeichnungen…“ nur gelesen werden, wenn man sich in einem stabilen Zustand befindet – sonst besteht aus meiner Sicht die Gefahr einer depressiven Verstimmung.

    ©kingofmusic

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  1. Keine erbauliche Lektüre, aber eine für die Allgemeinbildung

    Mit Freude nimmt jeder Buchliebhaber die kleinen Bände der Manesse Klassiker-Bibliothek in die Hand, sind sie doch äußerst wertig gestaltet und wunderschön anzusehen. Das gilt auch für diese Ausgabe, deren Einband in frisches Grün gehüllt eine anregende, hoffnungsfrohe Lektüre versprechen sollte. Das Cover zeigt hohe farbige Häuserfassaden aus der Froschperspektive – in einem von diesen Häusern im russischen St. Petersburg lebt der verbitterte Erzähler dieses relativ kurzen Romans, der in zwei Teile aufgeteilt ist.

    Der erste Teil liest sich wie ein Essay. Bereits die ersten Zeilen legen dessen Inhalt dar: „Ich bin ein kranker Mensch… Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich.“ Diese Sätze sind sein immer wiederkehrendes Mantra. Wir haben es mit einem Nihilisten, einem ausgesprochenen Misanthropen zu tun, der über seine widersprüchlichen Eigenschaften lamentiert, sich aber gleichsam für überdurchschnittlich intelligent hält und sich über andere Menschen in schwer erträglicher Weise erhebt. Er lebt in bescheidensten Verhältnissen von einer kleinen Erbschaft, die es ihm ermöglichte, seinen ungeliebten Beamtenjob aufzugeben. Seitdem bewegt er sich kaum vor die Tür und denkt über sich selbst nach. Seine Aufzeichnungen richten sich an ein nicht näher bezeichnetes Publikum, das er des Öfteren auch persönlich anspricht und durch rhetorische Fragen einbezieht. Dostojewskis Stil hat zweifellos Klasse. Seine Sätze sind geschliffen und können auch mal eine halbe Seite lang sein. Sein Text bildet das Innenleben dieses „Urbildes aller Wutbürger“ dezidiert ab. Der Erzähler lehnt sich gegen die moderne Gesellschaft auf, zu der er keinen Zugang hat und eigentlich auch keinen haben will. Er empfindet keinerlei Selbstachtung, vergleicht sich mit einem Insekt, findet sich aber nicht willenlos in diese ihm seines Erachtens zugedachte Rolle hinein, sondern begehrt – meist innerlich – dagegen auf. Dieser erste Teil ist anstrengend zu lesen, weil  sich der Erzähler permanent im Kreis seiner eigenen Gedanken dreht. Er beleuchtet seinen Zorn, hält Innenschau und zelebriert seine Befindlichkeiten. Nichts desto trotz ergibt sich daraus das intensive Psychogramm eines Menschen, dem man weder im Hellen noch im Dunklen begegnen möchte.

    Im zweiten Teil des Romans wird es spannender. Hier beschreibt der Ich-Erzähler die Erlebnisse, die offenbar mit dazu beitrugen, dass er ein solcher Menschenfeind wurde. Will man ihm glauben, hat sein Umfeld ihm stets nur übel mitgespielt. Aufgrund seiner Elternlosigkeit hat er es gewiss nicht leicht gehabt. Schon während der Kindheit fühlte er sich von Mitschülern ausgegrenzt und von Lehrern erniedrigt. Im Beruf setzt sich das fort. Allerdings spürt man als Leser deutlich, dass es sich um einen höchst unzuverlässigen Erzähler handelt, dem man nicht alles glauben darf. Im Zentrum dieses zweiten Teils stehen zwei unterschiedliche Erlebnisse aus seinen zwanziger Jahren, die er als Beweis für seine Gedanken aus dem ersten Teil anführt.

    Doch auch darin legt er eine außergewöhnliche Ambivalenz dar. Einerseits gewinnt man den Eindruck, der Erzähler wolle gegen das übermächtige, gesellschaftlich akzeptierte Ständesystem opponieren, als er sich regelrecht zwingt, das Gesetz der Straße zu missachten, indem er einem höherrangigen Offizier den Weg nicht freigibt und damit ein ungehöriges Anrempeln riskiert. Mit dieser aufwändig vorbereiteten Szene will er sich selbst beweisen, gleichwertig zu sein. Andererseits zeigt er uns in einer weiteren Episode, dass auch er im Standesdenken verhaftet ist, als er vermeintlich unter ihm stehende Diener oder Prostituierte beleidigt und unangemessen diskreditiert.

    Interessant sind die widerstreitenden Gedanken des Erzählers, an denen er uns intensiv teilhaben lässt. Er weiß eigentlich, wie er sich anstandshalber zu verhalten hätte, tut aber direkt das Gegenteilige. Dadurch entsteht eine skurrile Groteske, über die man lachen könnte, wenn es nicht so tragisch wäre. Einen Höhepunkt erfährt die Erzählung beim Zusammentreffen mit ehemalig verhassten Schulkameraden. Spätestens hier wird klar, mit welch großer Egozentrik der Protagonist im Zusammenspiel mit anderen Menschen agiert. Das im ersten Teil Geschilderte wird zum großen Teil ad absurdum geführt, weil es eben nicht nur die anderen sind, die dem Erzähler übel mitspielen. Eigen- und Fremdbild klaffen auseinander. Wie er mit einer jungen, bemitleidenswerten Prostituierten umgeht, tut fast körperlich weh und hat mit „der Rettung der gefallenen Frau“, einem beliebten literarischen Thema dieser Zeit, am Ende wenig zu tun.

    Die „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ hat Dostojewski 1864/65 geschrieben, als er gerade den Tod seiner ersten Frau zu betrauern und anderes Ungemach zu erleiden hatte. Der Protagonist wird als literarische Grundlage für spätere Bösewichte und Antihelden Dostojewskis interpretiert. Die Übersetzerin Ursula Keller hat nicht nur umfangreiche Anmerkungen zum Textverständnis sondern auch ein Nachwort verfasst, dass dem unbedarften Leser eine Einordnung des Romans ins Gesamtwerk des Autors ermöglicht. So sind diese Aufzeichnungen als „eine hochemotionale Stellungnahme zu den zeitgenössischen Debatten“ zu verstehen. Dostojewski verstand sich als Anwalt der kleinen Leute.

    Dieser hoch emotionale Roman war trotz der genialen, zeitgemäßen Übersetzung kein Lesevergnügen. Der äußerst unsympathische Ich-Erzähler fordert den Leser permanent heraus. Gerade im ersten Teil sind seine Ergüsse nur schwer zu ertragen. Trotzdem muss man die hohe Literarität des Textes anerkennen, der gesellschaftliche Strömungen und Philosophien seiner Zeit in sich trägt. Man findet Grundzüge des Nihilismus und Existenzialismus gespiegelt, Friedrich Nietzsche soll das Werk aufgrund seiner tiefenpsychologischen Wahrheit bewundert haben. Der zweite Teil ist auch für den weniger versierten Leser gut verständlich und gibt Einblick in die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die hohe Schreibkunst Dostojewskis macht auf alle Fälle Lust, auch seine späteren großen Populärwerke kennenzulernen.

    Für die Ausstattung des wunderhübschen Manesse-Bandes vergebe ich Höchstwertung, er ist ein Kleinod in jeder Hausbibliothek. Für den Roman als solches sollte man sich in innerlich gefestigter Stimmung befinden. Dann aber hat er durchaus seine Reize.

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  1. 3
    30. Nov 2021 

    Schwer erträglich

    „Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ , auch bekannt unter dem Titel „ Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“, 1864 erstmals erschienen, gilt als eine „Vorstudie“ zu Dostojewskis großen Romanen. Anlässlich des 200. Geburtstags des Autors am 11. 11. 2021 ist nun eine Neuübersetzung von Ursula Keller im Manesse- Verlag erschienen.
    „ Ich bin ein kranker Mensch…Ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich.“ So beginnen die Aufzeichnungen des namenlosen Ich- Erzählers. Er ist ein ca. 40jähriger Beamter, der aufgrund einer kleinen Erbschaft seinen Dienst quittierte und nun alleine in einer Kellerwohnung am Rande von St. Petersburg wohnt.
    Der Roman zerfällt in zwei Teile. Im ersten wird der Leser konfrontiert mit den Gedanken des Ich- Erzählers über sich selbst, seine Mitmenschen und der Welt im allgemeinen. Im zweiten Teil erinnert er sich an verschiedene Episoden aus seinem Leben, die sein Verhältnis zu seiner Umwelt illustrieren.
    Das schmale Buch ist keine leichte Lektüre, der Protagonist ein unsympathischer Zeitgenosse. Er leidet an der Welt und an sich selbst. Einerseits fühlt er sich anderen überlegen, gleichzeitig plagt ihn beständig ein Gefühl der Minderwertigkeit. Er räumt auf mit dem Glauben, dass der Mensch, wenn er nur hinreichend gebildet ist, edel und klug handeln wird. Vernunft hält ihn keineswegs davon ab, Chaos und Zerstörung in die Welt zu bringen. Der Mensch handelt nicht rational, sondern emotional, sogar wenn ihm sein Handeln selbst schadet. Auch der freie Wille ist nur ein Trugbild.
    Dieses Räsonieren und Lamentieren ist allerdings kaum erträglich. Zu zynisch, zu menschenverachtend sind seine Gedanken. Beständig verstrickt er sich in Widersprüche, stellt jede Aussage gleich wieder in Frage.
    Im zweiten Teil erleben wir den Ich- Erzähler in der Begegnung mit anderen Menschen. In einer Episode trifft er auf ehemalige Schulfreunde und drängt sich ihnen geradezu auf. Und das, obwohl er sie noch nie leiden konnte. Er spürt ihre Verachtung, fühlt sich von ihnen herablassend behandelt, hasst sie dafür und bettelt doch um ihre Aufmerksamkeit. Dem Leser selbst ist sein Verhalten peinlich.
    In einer menschlich anrührenden Szene trifft er auf die Prostituierte Lisa, hält ihr einen großen Vortrag, wohin sie ihr Los bringen wird und bietet sich als Retter an. Als diese sein Angebot annimmt, weist er sie zurück. Auch hier ist er nicht in der Lage, menschlich angemessen zu handeln.
    Der Roman war eine Herausforderung für mich. Ich erinnerte mich an Jahrzehnte zurückliegende Dostojewski- Lektüren, die mich damals begeistert haben. Doch hier wurde ich enttäuscht . Den wirren Gedankengängen dieses Misanthropen zu folgen, war eine Qual. Beständig kreist er nur um sich selbst, handelt immer so, dass sein negatives Welt - und Menschenbild bestätigt wird.
    Das erhellende Nachwort der Übersetzerin Ursula Keller half mir beim Verständnis, doch mein Leseeindruck hat sich dadurch nicht verbessert. Es ist sicherlich ein wichtiges und interessantes Buch und Dostojewski ist ein großer Erzähler, aber erreichen konnte mich das Ganze nicht. Möglicherweise war es ein Buch zur falschen Zeit.
    Positiv herausheben möchte ich aber die schöne Gestaltung und Aufmachung des Romans, für die der Manesse-Verlag bekannt ist. Hilfreich sind auch die Anmerkungen im Anhang und das kluge Nachwort der Übersetzerin, die Autor und Werk dem Leser nahebringt.

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  1. 4
    09. Nov 2021 

    Es wird wirkungsvoll gelitten!

    “Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund” von Fjodor Dostojewski ist zuerst bereits im Jahr 1864 erschienen und wurde früher meist unter dem Titel „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ auf Deutsch veröffentlicht. Der Manesse Verlag hat nun eine Neuausgabe dieses weniger berühmten kurzen Romans Dostojewskis unter dem oben genannten Titel herausgebracht. In diesem Kellerloch sitzt ein verarmter und bestenfalls verwirrter russischer Adliger, der den Leser im ersten Teil des Romans mit seinen monologisch vorgetragenen Gedanken geradezu überschüttet. Über ca. 80 Seiten ist das ein Erguss eines vor allem rundweg zornigen Menschen, eines Menschen, der keinen Ankerpunkt im Leben findet, der kein Vertrauen hat, weder in sich selbst noch in seine Umwelt, und der uns diese so vollkommen negative Stimmung sozusagen als zwangsläufig und quasi alternativlos vorführt:
    „Meine Scherze sind, Herrschaften, selbstredend geschmacklos, holprig, verworren, zeugen von fehlendem Selbstvertrauen. Aber das kommt ja davon, dass ich keine Selbstachtung habe. Ja, kann denn ein bewusster Mensch auch nur die geringste Selbstachtung empfinden?”
    Die Lektüre dieser wirren, negativen Gedanken ist für den Leser sehr verstörend, aber auch sehr wirkungsvoll, denn die Gefühle dieser Figur gegenüber wachsen wohl mit jeder Seite der Lektüre und erzeugen beim Leser bestenfalls eine Abwehrhaltung, aus der heraus man sich aus der negativen Abwärtsspirale dieser Gedanken bar jeder vernunftgeprägten Weltanschauung nur irgendwie befreien möchte. Doch ein Lichtblick ist weit und breit nicht erkennbar.
    Auch nicht im zweiten Teil des Kurzromans, in dem wir den verwirrten Helden bei einigen Begegnungen außerhalb seines „Kellerlochs“ begleiten können. Er trifft auf alte Kameraden, mit denen er nur aneinandergeraten kann. Ein Duell scheint die logische und einzig mögliche Folge einer gefühlten Ehrverletzung. Ein soziales Miteinander wird behindert durch verwirrte Gedanken, Standesdünkel und Unter- bzw. Überlegenheitsgehabe.
    „Aber was, wenn er, ohne jegliche Absicht, mich beleidigen zu wollen, in seinem Schafskopf die lächerliche Idee ausgebrütet hätte, dass er unermesslich weit über mir stünde und er mich nicht anders als gönnerhaft behandeln könnte? Allen diese Vermutung schnürte mir den Atem ab.“
    Und er trifft auf eine Prostituierte, deren Leben er halbherzig zu retten versucht und sie damit nur noch weiter in den Abwärtsstrudel hineinzieht. All das sind Beispiele von vollkommener Lebensuntüchtigkeit und fehlender sozialer Weltanschauung und damit Ausdruck einer verwirrten Gesellschaft.
    Mein Fazit:
    Die Lektüre des Kurzromans ist quälend und schwer auszuhalten. Das aber ist ganz bewusst, so hoffe ich, von dem Autoren eingesetzt, um an menschliche Vernunft, Zusammenhalt und eine aufklärerisch geprägte Sicht auf die Welt und die Gesellschaft zu appellieren. Ist das so gelungen? Mir fällt die Antwort darauf schwer. Denn es besteht auch die Möglichkeit, dass wir es hier mit den kranken Gefühls- und Gedankenwelten des Autors selber zu tun haben, der sich in diesen Netzen des Zorns verfangen hat. Ich muss dazu unentschlossen bleiben, denn es fehlt mir die tiefe Kenntnis über Person und Philosophie des Autors und der Rezipienten. Und so kann ich für mein wirkungsvollen Leiden beim Lesen nur einfach 4 Sterne vergeben und wende mich beeindruckt aber auch abgestoßen neuer Lektüre zu, die mir mehr Licht und Zuversicht schenken kann.

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  1. Ein sehr verdrießlicher Erzähler

    Ein sehr verdrießlicher Erzähler

    Dostojewski lässt seinen Erzähler im ersten Teil dieses bezaubernd gestalteteten Büchleins einen sehr langen Monolog halten. Dieser zog sich aus dem Beamtentum zurück und lebt nun mehr schlecht als recht von einer kleineren Erbschaft. Er wohnt in einem Kellerloch, karg und wenig ansehnlich. Er hadert mit sich und der Welt, er lässt an nichts ein gutes Haar. Schnell wird dem Leser klar, dass dieser namenlose Erzähler an nichts Freude hat, scheinbar auch an allem etwas negatives findet, um seinen Pessimismus zu schüren.
    Der zweite Teil befasst sich mit seinen persönlichen Niederlagen in allen Bereichen seines Lebens, sowohl in beruflicher Hinsicht als auch im privaten. Er scheint sein ganzes weiteres Leben darauf zu reduzieren, dass seine unschönen Erlebnisse für alles weitere Übel den Weg geebnet haben. Nach vorne sehen ist für diesen Mann nicht möglich. Jeder Rückblick, der dem Leser geboten wird, ist durchsetzt von negativen Erfahrungen. Er bildet sich ein, dass ihn jeder hasst, sogar sein Wohnort scheint für ihn indirekt verantwortlich zusein für die Kümmernisse seines Seins.

    Dostojewskis Roman „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ erschien erstmals 1864, ein Werk, dass demnach schon von mehreren Generationen gelesen wurde.
    Ich persönlich konnte dem nicht allzu viel abgewinnen. Die Sprache und der Schreibstil waren dabei allerdings nicht das Problem, vielmehr empfand ich alles als zu düster und niederschmetternd. Ich konnte für mich keinen tieferen Sinn darin erkennen, warum ich diesem Monolog folgen musste.

    Durch das Nachwort habe ich erfahren, dass dieses Werk den Weg zu anderen Werken ebnet, sozusagen den Auftakt bildet. Vielleicht erschließt sich dadurch mehr vom Sinn der hinter allem steckt, ich bin mir zum jetzigen Zeitpunkt allerdings unsicher, ob ich dieses Wagnis eingehen möchte.

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  1. "Ich kann kein guter Mensch sein!"

    Die "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" sind verfasst von einem Ich-Erzähler, der sich mit den Worten vorstellt: "Ich bin ein kranker Mensch ... ich bin ein zorniger Mensch. Ein hässlicher Mensch bin ich." Damit wird bereits angedeutet, dass wir es mit einem Wutbürger zu tun haben, einem erbitterten, misanthropischen Erzähler, der weder an seinen Mitmenschen noch an sich selbst ein gutes Haar lässt. Selbst wo er von sich selbst behauptet, klüger zu sein als alle anderen, relativiert er dies gleichzeitig mit dem Zusatz, er sei "selbstverliebt", wenige Absätze später heißt es, dass er "keine Selbstachtung" besitze, sogar im "Gefühl der eigenen Erniedrigung" Lust empfinde - mit einem Wort, er präsentiert sich wie ein Wackelbildchen früherer Zeiten, das aus jeder Perspektive etwas anderes darstellt.
    Der wütende Erzähler ist ein ehemaliger Beamter, der sich mit den Mitteln einer kleinen Erbschaft in ein "heruntergekommenes und armseliges Zimmer" in St. Petersburg zurückgezogen hat, bedient von einem "alten Bauernweib" und offenbar völlig vereinsamt. Nachdem er in der beschriebenen Weise sprunghaft und widersprüchlich seine Ansichten dargelegt hat - die im wesentlichen auf eine Art nihilistische Lebensverneinung hinauslaufen -, folgt im zweiten Teil "Angelegentlich nassen Schnees" eine Reihe Erinnerungen. Er sucht die Gesellschaft einiger alter Schulfreunde, drängt sich ihnen auf, begleitet sie in ein Freudenhaus und begegnet der Prostituierten Lisa, der er eine Moralpredigt hält. Dabei gibt er sich den Anschein der Aufrichtigkeit; als Lisa ihn jedoch, auf seine Einladung hin, wenig später besucht, erklärt er ihr zunächst, er habe sich über sie lustig gemacht, um gleich darauf wieder in wütende Selbstbezichtigung zu verfallen: "Man lässt mich nicht, ich kann kein guter Mensch sein!"

    Die innere Widersprüchlichkeit des Textes ist Programm. Dostojewski wendet sich in der Person seines Erzählers gegen Fortschrittsglauben und philosophische Systeme, die auf der Annahme gründen, dass der Mensch durch bestimmte Umstände grundsätzlich zu bessern sei: "Jedenfalls ist der Mensch durch die Zivilisation wenn schon nicht blutrünstiger, so wohl doch auf niederträchtigere und widerwärtigere Weise blutrünstig geworden, als er vorher war" stellt er fest, was in Anbetracht des Erscheinungsjahres 1864 geradezu hellsichtig erscheint. Der Mensch ist nicht zu bessern, weil er nicht zu berechnen ist: "... weil der Mensch, stets und überall, wie auch immer er geartet sein mag, zu handeln beliebt, wie er will und ganz und gar nicht danach, wie ihm Verstand und Vorteil gebieten".

    In der Person dieses Erzählers ist das spätere Romanpersonal Dostojewskis, die von inneren Zwängen und Selbsthass getriebenen Antihelden, bereits charakterisiert. Die "Aufzeichnungen aus dem Untergrund" sind, wenn auch nicht gerade unterhaltsam zu lesen, eine bestechende psychologische Studie und in ihrer Kürze bereits ein umfassender Einblick in Dostojewskis Schaffen.
    Hervorzuheben sind die Übersetzung von Ursula Keller, die sehr frisch und in keiner Weise altmodisch wirkt, und die hochwertige Aufmachung des Bandes, wie man sie von Manesse kennt: der schöne Umschlag, die farblich passende Fadenheftung, das feine Papier und der lesefreundliche Druck. Eine Reihe erklärende Anmerkungen und ein Nachwort der Übersetzerin mit einer klugen literaturgeschichtlichen Einordnung erleichtern den Zugang. Leseempfehlung!

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  1. Der Mustermisanthrop

    .... oder wie mir das wunderschöne Büchlein aus dem Manesse-Verlag mit Lesebändchen, neu übersetzt und kommentiert von Ursula Keller, dieses Jahr schon den zweiten Klassiker (neben Faust von Goethe) erfolgreich nähergebracht hat.

    Was nutzt es dem Pferdefüßigen, wenn er ein neues Gewand trägt, wir erkennen ihn trotzdem am Hinken! Schockiert von den philosophischen Ergüssen und Widersprüchen eines lupenreinen Miesepeters in St. Petersburg, der seinen Beamtendienst quittiert hat und nun mit schlechter Laune in seiner Bude hockt, quälte ich mich durch den ersten Teil seiner Aufzeichnungen. Darin beklagt er sich über die Dummheit der Menschen, die es nicht verstehen, dass ihr Streben nach einem erfüllten Leben unnütz sei. Er selbst aber sei schlau genug, dieses zu durchschauen. Er ergießt sich in Hass und Selbstmitleid. Nur er selbts verstünde die Schwermut eines Romantikers mit der russischen Seele zu verknüpfen und damit die wahre Sinnlosigkeit des modernen Lebens zu entblößen.
    Erst im zweiten Teil lesen wir von seinen Erinnerungen an vergangene Begebenheiten, bei denen er alte Schulkameraden traf und sich vermeintlichen Herabwürdigungen zwanghaft zu rächen versucht. Fast möchte man sich fremdschämen dafür, wie entschlossen und sich doch gleich wieder herausredend er diese Situationen beschreibt und zugleich dem Leser unterstellt, dass er doch nur alles missversteht. Der Höhepunkt war dann auch die Szene, in der einem Freudenmädchen erst die Leviten liest, ihr dann seine Hilfe verspricht und als diese sie einfordert, beleidigt und schmählich im Stich lässt.
    Ich fragte mich, was mir Dostojewski da angetan, warum er mir dieses Ekel, bar jeden guten Haares untergeschoben hatte. Weder konnte ich eine etwaige dunkle Seite des Autors, noch einen Lichtblick auf Besserung des Ich-Erzählers erkennen.
    Zwar schrieb Dostojewski diese Novelle unter dem Eindruck von Krankheit und Schulden, doch sollte es wohl eher die Steilvorlage für diverse Figuren in seinen späteren Romanen werden. Unter dieser Prämisse und mit einem sehr aufschlussreichen Nachwort der Übersetzerin, fühle ich mich gestärkt und gerüstet für die "Dicken", für die großen Romane des russischen Schriftstellers.

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