Auf der Straße heißen wir anders: Roman

Rezensionen zu "Auf der Straße heißen wir anders: Roman"

  1. 3
    09. Jul 2022 

    Reise in die Vergangenheit

    Karlas Oma ist verstorben. Die Oma, die so toll kochen konnte, die immer da war. Und zum ersten Mal wird Karla bewusst, dass sie armenische Wurzeln hat. Die Oma wollte nach dem armenischen Ritus beerdigt werden und überraschend konnte ein Priester gefunden werden. Karlas Vater Avi hat sie viel von seiner Jugend erzählt. Sein richtiges Leben begann eigentlich erst in Deutschland, wo er zum Entsetzen seiner Mutter in eine Einheimische verliebte. Zwar hielt die Beziehung nicht, doch an Karla haben die Eltern das nicht ausgelassen. Nach dem Leichenschmaus muss die Wohnung der Oma geräumt werden. Dabei finden die Hinterbliebenen einen Armreif, der für Lilit bestimmt ist.

    Karlas Familie ist mit ihren armenischen Wurzeln, dem Leben in der Türkei und der Auswanderung nach Deutschland schon sehr international. Doch leider ist die Familiengeschichte nicht von Aufbruchstimmung bestimmt, sondern von Leid, Vertreibung und Flucht. Dabei hat die Oma ebenso viel für sich behalten wie Avi. Doch Avi hat noch Zeit zu reden. Gemeinsam fliegt er mit Karla nach Jerewan, um nach der geheimnisvollen Lilit zu suchen. Besonders für Avi wird es eine Reise zu seinen Wurzeln, die er nie richtig kennenlernen durfte. Und Karla kann an ihrem Vater neue Seiten entdecken.

    Die Beschreibung zu diesem Roman macht neugierig, schließlich geht es auch um einen Teil der Geschichte, über die normalerweise nicht so viel bekannt ist. Auch die verwickelten Familienbeziehungen wirken sehr interessant und man ist gespannt, ob Vater und Tochter das Rätsel um Lilit lösen können. Allerdings ist die Handlung so aufgebaut, dass sich nicht so leicht eine emotionale Beziehung zu den handelnden Personen aufbauen lässt. Viele Dinge werden nur angedeutet. Da wirkt die Autorin irgendwie genauso verschwiegen wie ihre Protagonisten, obwohl sich Karla in Bezug auf ihren Vater genau darüber beklagt. Auch aus Karlas Erwachsenenleben erfährt man wenig. Dafür kann man sich gut in sie hineinversetzen als sie von ihrer Schulzeit berichtet, wo sie und die meisten ihrer Klassenkameraden irgendwie nicht dazugehörten und deshalb zusammenhalten mussten. Wenn man eine direktere Sprache bevorzugt, mag dieser Roman etwas schwierig sein, doch wenn es einem liegt, das Unausgesprochene zu deuten, kann dieses Buch gerade das richtige sein.

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  1. Was für ein Debüt!

    !ein Lesehighlight 2022!

    Klappentext:

    „Die Kinder aus der Hochhaussiedlung in Bremen-Nord kennen die Herkunftsorte ihrer Familien genau: Türkei, Russland, Albanien. Nur bei Karla ist alles etwas anders. Sie weiß zwar, dass die Großmutter in den 60ern als Gastarbeiterin aus Istanbul nach Deutschland kam, und auch, dass die Familie armenische Wurzeln hat, doch gesprochen wird darüber nicht. Als Karlas Großmutter stirbt, taucht der Name einer Frau auf, Lilit, samt einer Adresse in Armenien. Karla gelingt es, ihren Vater zu einer gemeinsamen Reise zu überreden – in eine Heimat, die beide noch nie betreten haben.“

    Autorin Laura Cwiertnia erzählt uns hier eine ganz besondere Geschichte die aktueller nicht sein könnte. Eine der Hauptprotagonisten ist Karla, oder Karlotta, (aber besser „Karla“, da kann ihr nichts passieren) und genau sie führt uns durch diese Geschichte neben anderen wichtigen Personen. Der Tod der Großmutter öffnet eine neue Tür, lässt ein neues Kapitel in Karlas Leben und ihrer Familie aufschlagen. Die Reise nach Armenien soll nun die Lösung bringen und wer jemals im Geschichtsunterricht gut aufgepasst hat, wird Armenien mit dem Völkermord (wobei es hier im Buch nur bedingt darum geht. Es ist keine Geschichtsreportage o.ä.!) in Verbindung bringen. Ein Volk sollte ausgelöscht werden und die, die überlebten, durften sich nicht zu erkennen geben und mussten eine neue Identität, einen neuen Namen annehmen. Ihnen wurde die Heimat genommen, ihre Kultur, ihre Religion, ihr Denken, ihre Familien. Das prägt sich die tief in die Seelen der Menschen ein und erklärt, warum schweigen besser ist, als es immer und immer wieder mit eigenen Worten aus dem Unterbewusstsein hervorzurufen. Sie sind ewig ziehende Vagabunden auf der Suche nach ihrer eigentlichen Heimat. All dies wirkt generationsübergreifend. Die, die es geschafft haben zu überleben und dem Genozid entfliehen konnten, sind nicht mehr die selben Menschen mit armenischen Wurzeln, zumindest nach außen hin. In Cwiertnias Geschichte geht es um viel mehr als nur Heimatsuche, hier geht es um Karlas eigene Wurzeln, ihre Identität, die sie bislang nie kannte, eine Suche obwohl sie gar nichts suchen wollte. Cwiertnia gibt mit ihren Figuren rund um Karlas Familie feine und ruhige Gedankenstränge hervor. Durch Zeitenwechsel und Personenwechsel fügt sich allmählich ein ganz zartes Netz zusammen, welches zum Schluss vollendet ist. Die Charaktere werden uns realistisch und wirklich einfühlsam dargestellt. Als Leser beginnen wir immer schneller zu verstehen warum, wieso, weshalb, denn der Start in die Geschichte scheint schon recht standfest, ist er aber nicht. Es entstehen Wirrungen und Irrungen, wir erleben das Heute und das, was war, damals vor langer Zeit. All dies erklärt so manches Schweigen der Großmutter, manche Ausflüchte oder Lüge, die Karla sich anhören musste, die sie schlucken und akzeptieren musste. Aber wir sehen auch eine unheimliche Stärke der Frauen (ohne das es gleich um Feminismus gehen muss), denn die Zeiten in der Großmutter und viele andere damals nach Deutschland kam, war eine komplett andere als zu Karlas.

    Die Autorin nutzt hier einen feinsinnigen Ausdruck und überrascht den Leser mit kleinen, humorvollen Wörtern/ Sätzen, die sie sehr akzentuiert und wohl-bedacht wählt ohne dabei jemanden zu kränken. Sie erzählt hier sehr vielseitig und breit gefächert. Jeder Leser kann sich hier seinen Lieblingspart heraus picken und genießen. Wir Leser dürfen fremde Welten kennenlernen und haben dabei das Gefühl, wir sind damit nicht allein. Den Figuren im Buch geht es ebenso. Sie lernen sich neu kennen, fremde Menschen, fremde Kulturen und doch sind sie sich, sind wir uns, so nah.

    Das was Laura Cwiertnia hier erzählt kommt nicht einfach mal so von ungefähr…kommt nicht einfach mal aus den Fingern gesogen. Cwiertnias Vater ist Armenier und so wie ihre Figur Karla ist sie ebenfalls in Bremen aufgewachsen. Egal welche Geschichte sie hier erzählt, ob autobiographisch oder nicht, sie trifft ins Herz, sie berührt, sie wühlt auf, sie schockiert, sie öffnet den Blick dafür, sie rüttelt wieder wach, sie könnte aktueller nicht sein.

    „Auf der Straße heißen wir anders“ bot mir eine besondere Lesezeit und ich vergebe hier sehr gern eine Leseempfehlung mit 5 von 5 Sternen.

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  1. Einfühlsamer Generationenroman

    „Seit ihrer Kindheit legte sie ihren Vornamen an der Türschwelle ab wie einen Mantel. Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem.“ (Zitat Pos. 2369)

    Inhalt
    Karlotta wächst in Bremen-Nord als Kind einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters auf. Heute nennt sie sich längst Karla, studiert, schreibt an ihrer Dissertation. Als ihre Großmutter stirbt, hinterlässt sie eine Liste mit genauen Anweisungen über den Ablauf ihres Begräbnisses, sie will eine traditionelle armenische Beerdigung. Die Großmutter hinterlässt Karla Ohrringe, doch in einer Ecke der Kommode finden sie einen Armreif aus Gold mit einem Zettel. „Lilit Kuyumcyan, Yerevan, Armenien. In Karlas Familie wurde nie über die Vergangenheit gesprochen, doch nun reist sie nach Armenien, auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach Lilit. Ihr Vater Avi, aufgewachsen in Istanbul, bevor er mit siebzehn Jahren nach Deutschland kam, begleitet sie.

    Thema und Genre
    In diesem Roman geht es um Heimat, Fremde, Familie, Zusammengehörigkeit und die Geschichte der Armenier in der Türkei.

    Charaktere
    Als Kind gehörte Karla nie dazu, so sehr sie sich auch bemüht, und weiß nicht, warum. Sie und ihr Vater Avi sind die Hauptfiguren, doch es sind die Frauen dieser großen Familie, die Großmütter, Mütter, Töchter, die diese Geschichte mehrerer Generationen tragen.

    Handlung und Schreibstil
    Die Haupthandlung beginnt mit dem Tod der Großmutter. Im Mittelpunkt steht die Reise durch Armenien und sie wird chronologisch von Karla als Ich-Erzählerin geschildert. Kindheits- und Jugenderinnerungen Karlas an die Zeit, als sie noch Karlotta war, ergänzen diesen Handlungsstrang. Unterbrochen wird die aktuelle Handlung durch die Geschichten von Avi, seiner Mutter Maryam und deren Mutter Armine, Karlas Urgroßmutter. Diese Geschichten werden abwechselnd und in Episoden personal erzählt und ergeben so langsam die Geschichte dieser Familie.

    Fazit
    Ein einfühlsamer Generationenroman mit auf ihre unterschiedliche Art starken Frauen, der interessante Einblick in das Leben einer Familie mit armenischen Wurzeln gibt.

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