Atemschaukel: Roman (Hochkaräter)

Rezensionen zu "Atemschaukel: Roman (Hochkaräter)"

  1. Überleben im russischen Zwangsarbeiterlager

    Wie das Buch entstand

    'Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst', so Herta Müller bei der Verleihung des Nobelpreises. In der Tat, das ist eine bemerkenswerte Entwicklung; das hier weiter auszuwalzen, würde aber den Rahmen sprengen.

    Wer eine Schublade braucht, bitte sehr: Lagerliteratur, zusammen z.B. mit Dostojewskis 'Aufzeichnungen aus einem Totenhaus' oder Solschenizyns 'Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch'. Doch warum sollte man so etwas Deprimierendes lesen? Der Hauptgrund in meinen Augen: sehr bald wird es keine Überlebenden von damals mehr geben, die Zeugnis ablegen könnten, aber das alles darf nicht vergessen werden. Man sollte wissen, was geschah und welche Auswirkungen es auf die Überlebenden hatte. Und es hat auch damit zu tun, wie totalitäre Staaten und Diktaturen funktionieren.

    Herta Müllers Mutter war als junge Frau fünf Jahre in einem Lager und das Kind Herta hat merkwürdige Sätze einer traumatisierten Mutter gehört, die aber nie erklärt wurden, die das Kind aber geängstigt und beunruhigt haben. Die Mutter und die anderen ehemals Deportierten aus dem Dorf durften in der Diktatur Rumänien nicht darüber sprechen und wollten und konnten es wohl auch nicht.

    'Die Gespräche bleiben im Allgemeinen stecken. Es gab weder das Alltägliche des Lagers noch das Persönliche an dieser Katastrophe. Die Einzelheiten, die das Lager beschreiben könnten, waren verschüttet.' (Apfelkern, HC 200)

    Herta Müller hat weiterhin versucht, mehr zu erfahren, bis ihr der Zufall zu Hilfe kam. Als sie mit dem Lyriker Oskar Pastior auf einer Lesereise unterwegs war, stellte sich heraus, dass er von seinen fünf Jahren im russischen Zwangsarbeiterlager - Januar 1945 bis Juni 1950 - Zeugnis ablegen und ihr seine Erinnerungen mitteilen wollte. Das geschah von da ab bei regelmäßigen Treffen immer montags. Sie hielten Pastiors Erinnerungen in Notizbüchern fest, die mehrfach überarbeitet und von ihm ins Reine getippt wurden. Aber leider starb er, bevor ihr gemeinsames Projekt fertig war. HM musste es aus Fragmenten alleine zu einem Roman formen, wobei sie auch dem Fiktiven Raum gab.

    Das Buch

    Es ist gar nicht mal so, dass es schwierig zu lesen ist; Herta Müllers Sprache ist überaus poetisch mit vielen Metaphern und Wortneuschöpfungen, ihre Sätze sind kurz und sie arbeitet viel mit Wiederholungen. Das Grauen sitzt eher unterschwellig als zweite oder dritte Schicht unter dem Beschriebenen und die Lesenden können selbst entscheiden, wie tief sie sich darauf einlassen.

    Der fiktive Leopold Auberg (= Oskar Pastior) ist anfangs gar nicht so unglücklich, dass er von zu Hause weg ins Arbeitslager muss, denn er lebt in beständiger Angst, dass seine homosexuellen Abenteuer entdeckt werden. Aber schon auf der Fahrt im Viehwaggon tritt das Grauen auf den Plan. Keine Privatheit mehr, kein freier Wille, Frieren und Hungern, vor allem Letzteres. Dieses Hungern muss unvorstellbar sein; viele sind daran gestorben. Aber auch die Überlebenden sind für ihr Leben geschädigt, teilweise körperlich, aber vor allem seelisch beschädigt.

    Das alles erfahren wir in kurzen Kapiteln, collagenartigen Episoden, inneren Monologen, ausführlichen Beschreibungen von Dingen wie Material und Werkzeug (die Herzschaufel).

    Für mich ist Herta Müller eine der bemerkenswertesten Schriftstellerinnen der Moderne, die verdienterweise den Literatur-Nobelpreis bekommen hat. Ich werde sicher noch mehr von ihr lesen und kann dieses Buch nur empfehlen. Ganz große Literatur!

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