Antichristie: Roman
Die Queen ist tot. Und die fünfzigjährige Durga hat gerade ihr Mutter verloren. Sie und die Familie sind dabei, die Asche zu verstreuen, bekommt sie Nachrichten aus der neuen WhatsApp Gruppe. Durga hat einen neuen Job, es soll Neuverfilmungen von Agatha Christie geben. Dabei soll auch die britische Kolonialzeit aufgearbeitet werden und die Krimis in ein politisch korrektes Gewand gekleidet werden. Dass Durga, die indische Wurzeln hat, sich plötzlich im London des Jahres 1907 wiederfindet, um im India House mit indischen Revolutionären zu debattieren.
Agatha Christie neu interpretieren, geht das eigentlich? Oder braucht man das? Nun, immerhin ist es für Durga ein Job und eine interessante Aufgabe. Christie Verfilmungen gibt es immer wieder neu und vielleicht kann sie mit dem Team noch etwas Neues dazu geben. Aus heutiger Sicht ist Christie natürlich nicht politisch korrekt. Daraus lässt sich sicherlich eine Geschichte spinnen. Auf die Zeitreise nach London zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist Durga nicht gefasst. Allerdings ist ihr Vater aus Indien nach Deutschland eingewandert, so dass sie tatsächlich ein wenig in ihrer eigenen Geschichte landet.
Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 hat dieser Roman einen tollen Platz. Die Beschreibung des Brainstormings zur Erstellung von Drehbüchern zur Neuverfilmung von Romanen von Agathe Christie ist eine Idee, die jeden triggern kann, der die Serien und Filme gerne schaut. Mit der indischen Revolution und den Unabhängigkeitsbestrebungen wird es da schon etwas schwieriger, insbesondere wenn man sich da eher nicht auskennt beziehungsweise, die eigenen Kenntnisse mit Gandhi beginnen und aufhören. Damit wird der Roman noch anspruchsvoller zu lesen, zumal man auch geneigt ist, etwas zu tun, womit Durga auch schnell bei der Hand ist, man fragt mal das www. Also bleibt der Roman zwar recht fordernd, aber auch sehr interessant. Auch die Rahmenhandlung mit dem Tod sowohl von Durgas Mutter als auch der Queen ist ein genialer Schachzug.
Das auffällige Cover bringt den Inhalt dieses herausfordernden und intelligenten Romans bestens auf einen Nenner.
3,5 Sterne
Durga (benannt nach der indischen tigerreitenden Göttin) ist Drehbuchautorin. Die Deutsch-Inderin befindet sich derzeit in London, wo sie an der Entwicklung einer neuen Serie beteiligt ist: Agatha Christies bekanntester Held soll dekolonialisiert und auf ein neues, diskriminierungsfreies Level gehoben werden. Angedacht ist ein schwarzer Hercule Poirot. Während sie in London ist, verstirbt die Queen. Gleichzeitig trauert Durga um ihre verstorbene (deutsche) Hippie-Mutter, die sich zeitlebens für Indiens Unabhängigkeit engagiert hat.
Unvermittelt widerfährt Durga ein Zeitsprung ins London des Jahres 1906, wo sie sich als junger Mann namens Sanjeev materialisiert und in Kreise indischer Widerstandskämpfer gerät, die im historischen India House logieren, einer Art Wohnheim für indische Studierende. India House war die Keimzelle des indischen Widerstands – mitten im bürgerlichen Highgate wurden dort Bomben gebaut. Sanyal lässt einige der berühmten Residenten und Besucher wieder auferstehen, von denen mir nur Gandhi bekannt war. Die anderen Namen, unter ihnen Vinayak Savarkar, extremistischer Hindu-Nationalist und von großem Einfluss, hatte ich noch nie gehört.
Und genau das ist der Punkt und das Hauptthema von Sanyals Roman. Sie hinterfragt nicht nur die britische Kolonialvergangenheit mit ihren schrecklichen Bluttaten, sondern auch die diesbezügliche Erinnerungskultur. Eine Kultur des Weglassen, Verzerrens und Umdeutens, die die Wahrnehmung eines jeden Einzelnen in der Gegenwart beeinflusst. Parallelen zieht sie auch zur Diskussion über die Singularität des Holocausts, die als Grundlage der deutschen Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik gilt, aber getrost angezweifelt werden darf. Mutig, denn hier touchiert sie ein empfindliches deutsches Tabu.
Weiteres zwangläufiges Thema in diesem Kontext ist Sinn und Unsinn von Gewaltlosigkeit in der Auseinandersetzung mit gewalttätigen Unterdrückern und Ausbeutern – ein unauflösbarer Konflikt. „Trotzdem“, sagt Sanyal im Nachwort des Romans, „bin ich davon überzeugt, dass die Form des Widerstands den Kern der Utopie beinhalten sollte, für die gekämpft wird.“
Der Stil des Romans ist flüssig und eingängig, mit viel Dialog und grundsätzlich gut zu lesen. Der zerfaserte Handlungsstrang, der alle paar Seiten übergangslos ins Jahr 1906 und wieder zurück in die Gegenwart springt, verhindert aber, dass so etwas wie Spannung aufkommt. Wohl um dem entgegen zu wirken, baut Sanyal in der zweiten Romanhälfte ein (ziemlich durchschaubares) Locked-Room-Rätsel und den Auftritt von Sherlock Holmes ein – aber auch das reißt es nicht raus. Witzig immerhin der häufige Bezug auf die Sci-Fi-Kultserie Doctor Who – hier habe ich offenbar etwas verpasst. Ab der Hälfte des Romans war mir jedoch jedes Interesse an der „Handlung“ abhanden gekommen – ich habe mich nur noch gelangweilt. Dazu trugen auch die Figuren bei, die wenig Profil haben und als bloße Funktionsträger dienen. Keine davon konnte mich mehr als oberflächlich interessieren.
Sanyal möchte eine andere Perspektive auf die Geschichte eröffnen – aber „Antichristie“ scheitert an der eigenen Ambition. Der Versuch, die antizipierten Bildungslücken der Leserschaft mit durchschaubar didaktischen Dialogen zu füllen, kann nicht funktionieren. Der belehrende Ton des Romans, insbesondere in den historischen Passagen, ging mir zunehmend auf die Nerven; über weite Strecken klingt er wie eine Vorlesung im Fach Postkoloniale Studien. Dadurch bekommt der Text erhebliche Längen und die eigentliche Erzählung verliert an Momentum. Zwar kann man „Antichristie“ durchaus als Beitrag zur aktuellen Debatte über Kolonialismus, Erinnerung und die Frage, wie wir Geschichte erzählen verstehen – aber der Roman will zu viel auf einmal. Die unausgegorene Mischung aus den zeitgeistigen Ismen, garniert mit Phantastik in Form einer transgender(!) Zeitreise, kann insgesamt nicht überzeugen.
Ich mochte den Vorgänger „Identitti“ sehr – aber dieser Roman war eine Enttäuschung für mich. Keine Empfehlung von meiner Seite.
Durga steht mit ihrer Familie am Fluss, um die Asche ihrer Mutter Lila zu verstreuen. Ihr Vater Dinesh steht mit seiner zweiten Frau Rosa hinter ihr. Ihr Sohn Rohan und ihr Partner Jack stehen rechts und links von ihr, als der Klingelton ihres Handys sie unangenehm rausreißt. Sie wurde zu der Signalgruppe Anti-Christie hinzugefügt. Ihre neuen Arbeitskolleginnen in London spielen mit ihr die besten Tötungsdelikte in der Geschichte der Agatha-Christie-Krimis durch.
Lila geborene Duisburgerin war die originellere Inderin neben ihrem indischen Vater. Zuerst Sekretärin, dann Teilzeit-Guerilla, danach brannte sie mit Dachboden Piet als Fulltime Partisanin nach Niedeggen in eine Kommune durch, ohne Durga.
Nach der Beisetzung fliegt Durga nach London, um ihre neue Stelle als Drehbuchautorin anzutreten. Sie fühlt sich in der multikulturellen Stadt, wo sie eine von vielen ist, deutlich wohler als zu Hause. Ihre beste Freundin Nena begleitet sie für einige Tage und im Taxi werden sie Zeuginnen der BBC Durchsage, dass Queen Elizabeth die Zweite gerade verstorben ist. Vor dem Gebäude Florin Court Films demonstrieren Menschen gegen eine Neuverfilmung Agatha Cristies.
An einer U-Bahn Station geraten Durga und Nena in eine unangenehme Sprachlosigkeit und verlieren sich aus den Augen. Durga findet sich in einer Epoche wieder, die nichts mehr mit London 2022 zu tun hat und ist noch dazu ein junger Mann. Sie erfährt, dass sie sich im Jahr 1906 befindet und Sanjeer heißt. Jemand empfiehlt ihr „India House“, wo sie auf den charismatischen Savarkar trifft, der, wie sie weiß, zum bewaffneten Aufruhr aufrufen und ein Buch verfassen wird, weswegen die Engländer ihn einsperren werden.
Fazit: Selten habe ich mich so sehr herausgefordert, einer Autorin gerecht zu werden. Es ist einfach zu sagen: „Das war nicht meins!“ Doch dafür scheint mir das Buch zu durchdacht. Mithu Sanyal beginnt damit, dass die Protagonistin das Kind zweier unterschiedlicher Kulturen und Religionen ist, einer sogenannten „Mischehe“. Allein das Wort ist seit dem Dritten Reich besetzt und politisch unkorrekt, klärt sie auf. Die Autorin hatte den Anspruch, die Kolonialisierung nicht nur der Engländer, sondern am Rande auch die der Deutschen und der Spanier korrekt darzustellen. Die Geschichtsbücher allerdings verschweigen die Kolonialisierung Indiens, Afrikas und Marokkos in einem Maße, das man nur ignorant nennen kann. (nebenbei auch die anderer Kolonialisten wie Holländer und Franzosen) Die Autorin hat versucht darzustellen, wie die Bevölkerung Indiens (Hindu, Brahmanen, Bengalen, Sikhs Pakistani, Tamilen, Muslime und die Unberührbaren) die zu großen Teilen nach dem Varna System=Klassifizierung der Kasten leben. Sie hat dargestellt, dass Hindus Muslime nicht anerkennen. Und, was überraschend für mich war, dass Gandhi die schwarze Bevölkerung Afrikas als Kaffer bezeichnet hat, faul und träge und man ihm neben seinem friedlichen Widerstand, der etliche Inder das Leben kostete, durchaus vorwerfen kann, rassistisch motiviert gewesen zu sein. Wenn also etwas überliefert wurde, muss das nicht die Wahrheit sein. Mithu Sanyals Geschichtspamphlet lässt sich durchaus auf heutige Konflikte im Nahen Osten adaptieren. Sie hat, um ihre zahlreichen Recherchen in eine Geschichte einzuweben, die mehr Prosa als Infodump sein sollte, ein kunterbuntes Panoptikum erschaffen, wo sich allerlei bekannte Gesichter tummeln. So fordern die Suffragetten auf einer Demo zu Sanjeers Zeit das Frauenwahlrecht, Rosa Luxemburg findet kurz Erwähnung neben Karl Marx, dessen Theorien einigen revolutionären Indern genehm sind. Hercule Poirot, die Queen, Charlotte Despard, Shakespeare werden erwähnt, Sherlock Holmes spielt ebenso wie Gandhi mit, der eine Gastrolle bekommen hat.
Für mich war das Buch zu lang. Die Vielzahl an Namen hat mich gefordert, die sprunghaften Gedankengänge überfordert, die Zeitmaschine genervt. Was war noch mal die Message?
An einer Agatha Christie Neuverfilmung rund um die Rolle des belgischen, weißen Detektivs Poirot nimmt eine mehrköpfige Crew der Firma Florin Court Films über zwölf Tage teil, analog zu den offiziellen Trauertagen zum Tod von Queen Elizabeth II. Die Hauptperson Durga, Autorin für Science Fiction, nimmt an dem Drehbuch mit politischer Verschwörung als Locked-Room-Mystery teil. Nur leider entpuppt sich dieses Anti-Christie-Filmprojekt als verwirrendes Werk voller Fakten zu den Unabhängigkeitsbestrebungen Indiens und Fiktion in Form von Zeitreisen wie bei Doktor Who. Thematisiert wird Widerstand mit oder ohne Gewalt, weltweiter Kolonialismus, Rassismus und Diskriminierungserfahrungen - vor allem im britischen Empire. Die Geschichte des indischen Freiheitskampfes, verbunden mit Namen wie Savarkar, aber auch Gandhi, Madan, Shyamji, ist interessant. Jedoch ist der Zeitenwechsel auf den verschiedenen Erzählsträngen zwischen London 2022 und 1906 mittels der Doctor WHOs Tardis-Zeitmaschine verwirrend zu verarbeiten und stört den Lesefluss. Auch ist die Personenliste insgesamt sehr lang. Der Schreibstil ist punktuell humorvoll. Die Charaktere sind originell, z.B. Durgas pseudorevolutionäre Mutter Lila. Insgesamt bringen Fakt und Fiktion hier zu viel Verwirrung.
2022. Die 50-jährige Durga trauert um ihre Mutter Lila, die unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Schon bald muss sie nach London aufbrechen, wo sie in einem Writer‘s Room gemeinsam mit ihren Kolleg*innen eine antirassistische Neuverfilmung der Werke Agatha Christies schreiben soll. Doch dann geschieht das Unerwartete: die Queen stirbt und versetzt ganz Großbritannien in den Ausnahmezustand. Protestierende finden sich vor dem Florin Court ein, in dem der Writer‘s Room stattfindet, weil sie nach der Queen nicht auch noch die Queen of Crime „verlieren“ wollen. Mitten in all diesen Wirren passiert es: Durga reist durch die Zeit und findet sich im Jahr 1906 in India House wieder – im Körper eines jungen Mannes – und nennt sich selbst Sanjeev.
„Antichristie“ ist der neuste Roman der Schriftstellerin Mithu Sanyal und wird komplex auf mehreren Handlungs- und Zeitebenen erzählt, die einander nach und nach immer mehr durchdringen. Da ist auf der einen Seite die Gegenwart im Jahr 2022, in der Durga Diskussionen darüber führt, warum Hercule Poirot nicht auch Schwarz sein könnte. Auf der anderen Seite ist da die Vergangenheit im Jahr 1906 in India House, einer Unterkunft für indische Studenten in Großbritannien und Zentrum des antikolonialen Widerstands. Dann springen wir aber auch immer wieder in Durgas Vergangenheit, um die Beziehung zu ihrer Mutter, zu ihrem Mann Jack oder ihrer besten Freundin Nena zu ergründen.
Gekonnt verwebt die Autorin Fiktion mit Geschichte, denn vieles hat sich tatsächlich so in India House abgespielt. Im Körper von Sanjeev, aber noch mit ihrem eigenen Wissen und ihren Erinnerungen ausgestattet, lernt Durga historische Persönlichkeiten kennen. Im Zentrum steht dabei Savarkar, ein indischer Revolutionär, der zum Zeitpunkt der Handlung ebenso bekannt war, wie Gandhi. Mit ihm diskutiert sie über Themen wie gewaltfreien Widerstand und schließt zunehmend die Menschen in India House in ihr Herz. Als dann auch noch der britische Geheimdienstchef Curzon Wylie aus einem verschlossenen Raum im Haus verschwindet und Revolutionär Madan, den übrigens Durgas Mutter Lila sehr verehrte, seiner Ermordung verdächtigt wird, stellt sie selbst Ermittlungen an – mit der Hilfe von Sherlock Holmes.
„Antichristie“ ist sicherlich ein antikolonialer Roman, aber auch so vieles mehr: ein Locked Room Mystery, ein Füllhorn an Popkultur-Anspielungen, eine Geschichte über Trauer, über Cancel Culture, über studentisches Leben in India House, aber eben auch über Widerstand gegen den Staat und die Frage, was dieser darf und was nicht. Es ist aber vor allem eine Geschichte über Schmerz in all seinen unterschiedlichen Formen, die wir durch Durga/Sanjeevs Augen aus einer deutschen, indischen und britischen Perspektive erleben.
Nachhilfe im indischen Unabhängigkeitskampf
Mithu Sanyal erschafft in ihrem zweiten Roman „Antichristie“ einen wilden Ritt der historischen, literarischen und popkulturellen Bezüge, bei dem man letztlich sehr viel hinzulernt, man darf aber auch nicht zwischen den Jahrhunderten verloren gehen.
Der Plot von „Antichristie“ ist schwer kurz zusammenzufassen, hier also nur ein Versuch: Durga ist eine Drehbuchautorin für Science Fiction und Costume Drama um die Fünfzig, deren deutschstämmige Mutter, zu welcher sie nach der Trennung der Eltern ein angespanntes Verhältnis hatte, vor kurzem verstorben ist. Den indischstämmigen Vater, bei dem Durga nach der Trennung aufwuchs, lernen wir erst einmal nur kurz bei der „Bestattung“(dem Verstreuen) der Asche kennen. Eine ruhige Trauerverarbeitung scheint für Durga kaum in Sicht, muss sie doch direkt nach London weiterreisen, da sie den Auftrag hat, an einer anti-rassistischen Neuverfilmungsserie zu Agatha Christies Detektiv-Figur Hercule Poirot mitzuarbeiten. Sie ist Spezialistin für sogenannte Locked-Room-Mysteries und im Laufe des Romans wird sie einem solchen auch selbst gegenüberstehen. In London angekommen dauert es nicht lange und die designierte Doctor Who-Autorin reist unfreiwillig aus dem Todesjahr der britischen Königin Elisabeth II. 2022 zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Selber Ort, andere Zeit. Und: Anderer Körper, denn nun befindet sie sich im Körper eines jungen Anfang Zwanzig jährigen Inders, der gerade aus der indischen Kolonie nach London gekommen ist. Als diese Person schließt sie/er sich der indischen Unabhängigkeitsbewegung an, die auch von London aus geführt wird, und kommt in Kontakt mit wichtigen intellektuellen Vertretern der Bewegung, unter denen eine hitzige Diskussion herrscht, ob ein Widerstand gewaltfrei oder mit Mitteln der Gewalt geführt werden soll und darf. Mit der Zeit wird klar, dass es sich weniger um eine Zeit- als vielmehr um eine Astralreise handelt und die Person Durga/Sanjeev (wie sie/er sich im historischen London nennt) mehrfach zwischen den Zeiten hin und her wechselt.
Es ist schon unglaublich ambitioniert gemacht, wie Sanyal hier so viele Themen miteinander verbindet. Da ist nicht nur die Fragestellung, wie zu einer Königsfamilie stehen, die noch viele Jahre koloniale Gräueltaten billigte, sondern auch, wie rassistisch und von kolonialen Mustern geprägt literarische Klassiker sein können und ob dies neu interpretiert werden sollte. Auch geht es in einem großen Schwerpunkt um den indischen Unabhängigkeitskampf von der Kolonialmacht Groß Britannien. Und gleichzeitig muss sich Durga ihrer eigenen Lebensgeschichte, ihren Eltern, deren Lebenserfahrungen sowie der Trauer um die verstorbene Mutter stellen. Stilistisch kommt es dann auch noch zu einem im Roman eingebauten Querverweis auf die Krimis von Agatha Christie, indem im Vergangenheitsstrang ein Locked-Room-Mystery geschieht, welches mithilfe eines berühmten Detektivs aufgeklärt werden soll. Und mit dem Trick der Astralreise gibt die Autorin der zeitgenössischen Figur Durga die Chance, die damaligen Diskussionen um den moralisch „richtigen“ Weg eines Widerstands aus unserer heutigen Sicht immer wieder zu reflektieren und zu bewerten.
Gerade der letzte schriftstellerische Trick von Sanyal ist für mich der stärkste Pluspunkt an diesem Roman. Denn wird ein historischer Roman geschrieben, steht es einem nicht zur Verfügung, eine zeitgenössisch-wertende Figur daran teilhaben zu lassen. Schreibt man einen Roman, der in der Gegenwart spielt, können die Figuren gar nicht nachempfinden, wie es sich zur damaligen zeit für die realen Protagonist:innen angefühlt haben muss. Diese Gegenüberstellung löst die Autorin hier äußerst kreativ.
Der Schreibstil von Sanyal ist immer wieder von witzigen Kommentaren und Hinweisen durchsetzt, sodass sich der Text oft mit einer gewissen Leichtigkeit lesen lässt, obwohl er sehr schwere Themen behandelt. Allerdings schweift die Autorin auch deutlich aus und man muss ein großes Interesse an der Geschichte des indischen Unabhängigkeitskampfes mitbringen, um hier bei der Stange bleiben zu können. Nicht viel anfangen konnte ich mit den nun auch noch zusätzlich zu jedem Kapitelbeginn eingeschobenen Regieanweisungen für einen möglichen Filmset. Um was es sich handelt, wird schnell klar, aber trotzdem sind diese Anweisungen plus die darauf folgenden Zitate aus verschiedenen (pop-)kulturellen Quellen meines Erachtens einfach zu viel zu all den anderen stilistischen und inhaltlichen Mitteln. In der Struktur ist der Roman also wirklich sehr komplex.
Letztlich wirkte mir der Roman auf literarischer Ebene aufgrund der unglaublich vielen Ideen, die Mithu Sanyal hineingepackt hat, doch zu überladen. Im Vergleich hat mir „Identitti“ diesbezüglich mehr gefallen, da der Roman stringenter ausgeführt wirkte. So schwanke ich sehr zwischen 3 und 4 Sternen in der abschließenden Bewertung. Der Roman ist unterm Strich - mit den entsprechenden Ambitionen und Durchhaltevermögen der Leser:innen - äußerst lehrreich und dadurch durchaus lesenswert.
3,5/5 Sterne