Annette, ein Heldinnenepos

Rezensionen zu "Annette, ein Heldinnenepos"

  1. Ein Leben für den Kampf gegen Unterdrückung

    Als der Gewinner des Deutschen Buchpreises 2020 verkündet wurde, waren viele erstaunt. Ein Versepos, besungen auf eine außergewöhnliche Frau, eine Art Heldin des 20. Jahrhunderts? Ich habe ehrlich gesagt, auch etwas zurückgezuckt, vor allem weil ich den vergangenen Jahren nicht immer gute Erfahrungen mit Buchpreisträgern gemacht habe. Aber wer mich kennt, weiß dass ich mich nicht so leicht abschrecken lasse. Ich habe schon mit einigen Heldenepen gerungen, bei manchen war es ein harter Kampf, andere wussten durchaus zu gefallen. Aber hier hat es sich wirklich gelohnt. Anne Weber schreibt modern, teilweise umgangssprachlich, das Epos liest sich leicht und flüssig. Das Leben Anne Beaumanoirs ist außergewöhnlich. Während des 2. Weltkriegs wird sie eher zufällig ein Mitglied der französischen Résistance. Sie kämpft nicht mit Waffen, sie ist hauptsächlich als Kurier tätig, was aber nicht weniger gefährlich ist. Als sie von einer geplanten Razzia erfährt, gelingt es ihr, zwei jüdische Jugendliche zu retten. Aber ein solche Eigeninitiative ist nicht gern gesehen innerhalb der Résistance, zu viel steht auf dem Spiel, als dass einzelne Mitglieder mit Alleingängen die gesamte Organisation aufs Spiel setzen. Sie wird degradiert und gemeinsam mit ihrem Freund aufs Abstellgleis nach Lyon geschoben. Dort schließen sich beide einer kommunistischen Untergrundbewegung an, der Freund als Kämpfer, sie müssen sich trennen, sie sieht ihn nie wieder. Nach dem Krieg studiert sie Medizin, wird Ärztin, heiratet, bekommt zwei Kinder. Doch ihren Sinn gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung verliert sie nicht und so schließt sie sich der algerischen Unabhängigkeitsbewegung der Algerier FLN an, die gegen die französische Besatzung kämpft. Wieder als Kurier, als sogenannter "Kofferträger". Sie wird verraten und hochschwanger als Terroristin zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt. Anne gelingt die Flucht nach Tunesien und nach der Befreiung wird sie Teil der neu gegründeten algerischen Regierung. Nach dem Militärputsch muss sie erneut fliehen, sie kehrt nach Europa zurück, zunächst in die Schweiz, da ihr in Frankreich immer noch die Haftstrafe droht. Bis heute engagiert sich Anne Beaumanoir, inzwischen 97-jährig, gegen Nationalismus, Rassismus und religiösem Fanatismus.

    Ein aufregendes und ereignisreiches Leben also, das hier auf diese außergewöhnliche Weise geschildert wird. Ich kann mir keine bessere Art der Würdigung vorstellen. Natürlich bekommt so mancher Aspekt ihres Lebens auf diese Weise etwas Lapidares, aber gerade durch diese Distanz wertet die Autorin Anne Weber nicht. Anne Beaumanoir hat Entscheidungen getroffen, die für viele von undenkbar und nicht nachvollziehbar sind. Sie hat in Kauf genommen, von ihrer Familie getrennt zu werden, zu sterben und das für ein Land mit dem sie eigentlich nichts gemein hat. Sie sah nur die Unterdrückung und hat die Begleiterscheinungen eines Freiheitskampfes mit unschuldigen Opfern und terroristischen Anschlägen ausgeblendet. Man muss ihre Entscheidung nicht verstehen, aber gerade durch diese wertfreie Erzählung kann sich der Leser selbst ein Urteil bilden. Ich hätte mir keine bessere Art und Weise vorstellen können und finde, dass dieses Buch ein wahrhaft würdiger Preisträger ist.

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  1. Von Ideologie und Idealismus.

    Kurzmeinung: Was heißt Menschsein? Heiligt der Zweck die Mittel? Einfache Fragen - schwierige Antworten.

    Anne Weber wurde für ihren Roman „Annette, ein Heldinnenepos“ mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet. Endlich hat sich der Deutsche Buchpreis etabliert. Deren Preisträger machen neugierig.

    Die geneigte Leserschaft bekommt in dem Kurzporträt, das Anne Weber auflegt, deren Sichtweise auf die beschriebene Person geschenkt, nämlich auf Anne Beaumanoir, geboren 1923 in der Bretagne. Die bei uns keiner kennt.

    Der Blick Anne Webers muss sich nicht mit dem Blick Anne Beaumanoirs auf sich selbst und ihr Leben decken. Zum Zeitpunkt der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2020 ist die "Heldin" siebenundneunzig Jahre alt und äußerte sich dazu.

    Eine solche Deckung kann es nicht geben, noch ist sie wünschenswert. Denn Anne Weber spart bei allem gebotenen Respekt, Faszination und Bewunderung vor dem Engagement für Humanismus, Freiheitskampf, Gerechtigkeit der Annette Beaumanoir durchaus nicht mit kritischem Hinterfragen.

    Fragen wie „Heiligt der Zweck die Mittel und darf man seine Kinder zugunsten eines Ideals aufgeben“, erinnern an die durchaus kontroverse Beschäftigung mit der Figur der RAF-Terroristinnen. Hei, äh, war jene Annette denn eine Terroristin?

    Könnte man so sagen. Keine, die selber Hand anlegte und auch keine, die Gewalt befürwortet, aber dennoch ein Mensch, der Gewaltausübung billigend in Kauf nahm. Sie war eine Terroristin, aber zuerst war sie ein Mensch, der nicht alles so hinnehmen wollte, wie er es vorfindet. Allerdings war sie auch in ihren Idealen verfangen und verblendet. Hätte es das Internet schon gegeben, wäre alles anders gekommen!

    Zweimal für eine längere Zeitperiode geht Annette in den Widerstand beziehungsweise in den Untergrund. Bereits als junges Mädchen arbeitet sie für die Resistance in Frankreich. Und ein zweites Mal, nach einer längeren ruhigeren Lebensphase, in der sie sich ihrer Familie und ihrer Karriere als Medizinerin widmet, engagiert sie sich im FLN, also im algerischen Unabhängigkeitskampf, wofür sie in Paris zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, deren Vollzug sie sich durch Flucht entzog.

    Das Epos, das Anne Weber vorträgt, also die literarische Form, stört leserisch überhaupt nicht, erlaubt der Autorin jedoch ein Abrücken von der tatsächlichen Person. Anne Webers Epos entspricht zwar größtenteils durchaus den Fakten, lebt aber dennoch auch von der Distanz und dem, was nicht auf dem Papier steht, sondern im Kopf des Lesers passiert. Das Epos ist komprimiert und eben keine Biographie.

    Ein guter Teil des Werks ist dem Unabhängigkeitskampf Algeriens gewidmet. In Afrika hat Annette lange gelebt und dort sogar politische Ämter bekleidet. Als das unabhängig gewordene Land Algerien jedoch schlussendlich doch vom Militär regiert wird, das politische Gegner gnadenlos eliminiert, muss Annette um ihr Leben fürchten und emigriert in die Schweiz. Hier endet das Epos, weil das „normale Leben“ beginnt.

    Ganze fünfzig Jahre, alle jene, in denen die Heldin sich der medizinischen Forschung widmete und die Jahre im Rentenalter, in denen die Heldin keinesfalls untätig auf ihren vier Buchstaben hockt, fallen mit einem Federstrich weg. Was mag wohl am Ende eines Lebens mehr zählen?

    Fazit: „Annette, ein Heldinnepos“ ist ein lesenswertes Buch, das uns einen Menschen zeigt, der ein Mensch geblieben ist in unmenschlichen Zeiten. Der Roman zeigt uns aber auch, dass Idealismus und Ideologie keineswegs zu besseren Ergebnissen führen müssen und es Menschen ohne Fehl und Makel einfach nicht gibt.

    Preisträgerin des Deutschen Buchpreises 2020

    Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
    Verlag: Matthes und Seitz, 2020

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  1. Bei Gänsebrust und Tintenfisch eine Geschichte

    Kurzbiografie Anne Beaumanoir
    Anne Beaumanoir wurde am 30.10.1923 in Saint-Cast-le-Guildo, Bretagne geboren. Sie ist aufgewachsen in einfachen Verhältnissen doch sie schafft den Weg ins Bildungsmilieu. Schon als Jugendliche war sie Mitglied der kommunistischen Résistance und unterstützt zunächst mit kleinen Botengängen die Widerstandskämpfer. Sie rettet eigenmächtig zwei jüdische Jugendliche. Jedoch wird sie für diese Eigenmächtigkeit von der KP bestraft und wechselt zur gaullistischen Résistance. Erst später bekommt sie von Yad Vashem den Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern«.
    Nach dem Krieg heiratet sie, studiert Medizin und wird Neurophysiologin in Marseille. Sie bekommt drei Kinder, was sie aber nicht davon abhält sich nach dem Krieg auch der algerischen Befreiungsbewegung FLN anzuschließen. 1959 wird sie zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie kann jedoch nach Nordafrika fliehen, gehört der ersten Regierung des unabhängigen Algeriens an. Nach dem Putsch gegen den Präsidenten Ben Bella gerät sie1965 erneut in Lebensgefahr und entkommt mit knapper Not. Sie arbeitet dann in einer Genfer Klinik. Als das Gerichtsurteil aufgehoben wird kehrt sie nach Frankreich zurück.
    Inhalt
    Grundlage des Romans „Annette, /Ein / Heldinnen - / Epos“ bilden die Gespräche, die die Autorin mit der heute 96-jährigen französischen Neurologin und Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir, genannt „Annette“, geführt hat. Anne Weber lernt Annette in Dieulefit bei einer Filmvorführung kennen. Bei Gänsebrust und Tintenfisch hört sie zum ersten Mal ihre Geschichte.
    „Sie hört Annettes Geschichte – also die kurze / Fassung – an; sie aufzuschreiben hat sie / noch lange nicht im Sinn.“ (S. 205)
    Nachdem Anne Weber die 96-jährige Anne Beaumanoir kennen gelernt hatte, führte sie mit ihr ausgedehnte Gespräche und entschloss sich, das Epos zu schreiben,
    Anne Webers Heldinnenepos ist alles andere als eine Hagiografie, denn schonungslos beschreibt sie die Brutalitäten des politischen Untergrundkampfes, die veränderte Moral, Intrigen und faulen Kompromisse. Gleich zu Beginn wird klar, dass Anne Weber jegliche Form von Legendenbildung und Idealisierung zuvorkommen möchte. Anne Weber differenziert zwischen Anne Beaumanoir und ihrer Neuerfindung Annette als Protagonistin.
    "Anne Beaumanoir ist einer ihrer Namen. / Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als / auf diesen Seiten, und zwar in Dieulefit, auf Deutsch / Gott hat's gemacht, im Süden Frankreichs. / Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht." (S. 5)
    Schritt für Schritt wird ihre Lebensgeschichte erzählt; ihre Kindheit, die Familie, die Eltern und die Großmutter. Eine frühe Liebe, die tragisch endet. Der junge Mann, ein Jude, wird umgebracht. Annette nimmt eine Abtreibung vor, von der man sagen könnte, dass ihr die politische Sache wichtiger gewesen sei als ihr Privatleben. Sie geht eine Ehe ein und wird kurz darauf wieder geschieden. Ihre zweite Ehe mit einem Arzt ist beständiger und sie bekommt zwei Kinder. Nebenbei absolviert sie ein Medizinstudium mit Promotion und Spezialisierung in Neurologie.
    Die Deutschen besetzen 1940 Frankreich und ab da beginnt das Leben von Annette sich zu ändern.
    „Dann kommt der unkomische Krieg ins Land. / Die Offensive fängt am 10. Mai 1940 an und ist/ am 22.Juni abgeschlossen.“ (S.22)
    Grade mal siebzehn schließt sich Annette der Widerstandsbewegung an. Sie ist von einer tiefen Überzeugung, von einem Ideal durchdrungen ohne von Eitelkeit oder Herrschsucht besessen zu sein. Wie selbstverständlich rettet sie Menschen das Leben unter Gefährdung ihrer eigenen Freiheit.
    „Die Lage ist nicht grade ideal, um zwei jüdische Kinder / zu verstecken. Sie tun es trotzdem. Denken / womöglich: In idealen Lagen würde man keinen zu / verstecken haben.“ (S.52)
    Nach dem Krieg rutscht sie in den zweiten Befreiungskampf und wirkt mit bei den französischen Kommunisten und auch nur aus Menschlichkeit. Auch hier erledigt sie aus Selbstverständlichkeit Botengänge für die Kommunistische Partei, harrt in Verstecken aus unter wechselnden Namen.
    So wie sich entschieden als Mitglied der Résistance auf die Seite der Opfer stellt, so konkret und tatkräftig hilft sie den Menschen auch nach dem Krieg. Doch Frankreich dankt es ihr nicht. Wegen ihres Kampfes für ein unabhängiges Algerien wird sie zu 10 Jahre im Gefängnis verurteilt, flieht aus der Haft schließlich nach Tunesien und hilft beim Aufbau eines Gesundheitssystems. Nach dem Putsch gegen Ben Bella muss sie auch hier wieder fliehen und kann in Genf ihre Arbeit als Ärztin wieder aufnehmen.
    Stil und Sprache
    Schon der Stil des Buchcovers ist besonders. In hellem Rot gestaltet mit den Umrissen eines weiblichen Gesichtes in Mattgold hinterlegt, was aber erst beim genauen Hinschauen zu erkennen ist. Das außergewöhnliche Merkmal liegt dagegen im Titeltext, der in Versalien und einem ungewöhnlichen Wort- Zeilenumbruch geschrieben wurde. Der Text lautet:
    ANNETTE,
    EIN
    HELDINNEN-
    EPOS
    Ungewöhnlich ist ebenfalls, dass der Name der Autorin auf dem Cover nicht erwähnt wird und damit die äußere Erscheinung des Buches ganz auf Anne Beaumanoir, genannt Annette, gerichtete wird.
    Exkurs Epos
    „Als Inbegriffe für die Form des Versepos stehen bis heute die Epen Homers Odyssee und Illias. Der an das Epos gestellte Anspruch ist dadurch außerordentlich hoch, da es als Dichtung gehobenen Anspruchs lediglich Themen von herausragender, wenn nicht gar nationaler Wichtigkeit, wie dies bei Homer der Fall ist, zum Gegenstand der Erzählung hat.“
    Vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. S.1f. Martin spricht hier von einem „Ansporn“ der deutschsprachigen Autoren zu „eigener epischer Produktion“ zu Beginn des 18. Jh.
    Anne Weber benutzt den Begriff Epos nicht im Zusammenhang mit Held, sondern mit dem Begriff „Heldinnen“, die erste, die so gewürdigt, besungen wurde seit Jeanne d’Arc.
    Die Sprache eines Epos beruht auf ein Gleichmaß in der Reihung von Hauptsätzen (Parataxen) und in Wiederholungen. Anne Weber schreibt in lockerer Versform, nicht mit der Gleichmäßigkeit in den Versen. Sie gestaltet in moderner Versform eine biografische Erzählung, als ob Annettes Leben eine Odyssee wäre.
    Anne Weber schreibt mit Genauigkeit und mit Achtung vor Anne Beaumanoir. Sie vermittelt das Heldentum als faktenreiches Epos ohne in Pathos zu versinken. Sie verlässt nie den Boden der Tatsachen und wird damit Annette gerecht. Auch war Annette nie eine Heldin im Glanz der Öffentlichkeit. Siege hat Annette im Versteck, im Ungesehenen errungen.
    „So gibt es Hunderte kleiner und größere Aktionen. / Die meiste Zeit verbringt Annette auf Straßen, /Schienen oder Wegen, zu Fuß, in Bussen oder Zügen. / […], wobei wir wieder bei Odysseus angekommen wären. (S.64)
    Die Widrigkeiten dieses Lebensweges werden sichtbar, einfache Tatsachen erlebbar, nachvollziehbar und greifbar.
    Fazit
    Anne Webers Roman ist geglückt. Sie präsentiert uns ein wahrhaft heroisches Leben in vielen nachdenklichen Zeilen und setzt damit ein Denkmal für eine Frau, die ihr eigenes sorgloses Leben, ihre eigene Freiheit für die Rechte und das würdevolle Leben anderer Menschen riskiert.
    Das Anne Weber das Epos gewählt hat, ist bei einem solchen Ausnahmeleben wie bei Anne Beaumanoir, die richtige Wahl.
    Sie präsentiert eine Geschichte, die es wert ist gehört zu werden.

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