Anleitung ein anderer zu werden: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Anleitung ein anderer zu werden: Roman' von Édouard Louis
4.35
4.4 von 5 (3 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Anleitung ein anderer zu werden: Roman"

Was kostet es, das eigene Leben in die Hand zu nehmen? Mit Mitte zwanzig hat er schon mehrere Leben hinter sich: Eine Kindheit in extremer Armut, die Scham über die eigene Herkunft, die Flucht vom Dorf in die Stadt, den Aufbruch nach Paris. Er macht sich frei von den Grenzen seiner Herkunft, nimmt einen neuen Namen an, liest und schreibt wie ein Besessener, probiert sich aus, will alle Leben leben. Immer neue Welten erschließen sich ihm. Mit unbändiger Energie erfindet er sich wieder und wieder, schließt Freundschaften und hinterfragt doch die radikale Selbstveränderung, die sich nie ganz vollendet. Édouard Louis hat ein großes Buch geschrieben darüber, was man zurücklässt, wenn man bei sich selbst ankommt.

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:272
Verlag: Aufbau
EAN:9783351039561

Rezensionen zu "Anleitung ein anderer zu werden: Roman"

  1. Komplett anders als erwartet...

    Ich bin völliger Neuling bei den Romanen von Édouard Louis und so stolperte ich bei dieser Lektüre eher ins kalte Wasser.

    Im Buch blickt der Autor zurück sowohl auf seine Kindheit und Zeit als Unbekannter als auch auf seine Zeit als Debütautor und gibt tiefe Einblicke in sein bisheriges Leben. Schonungslos und sehr offen taucht der Leser ein und man fragt sich bei der Lektüre oft: Könnte ich auch so mutig sein und wäre es mir die Veränderung überhaupt wert? Wäre ich dann noch ich selbst?

    Durch den Roman fühlte ich mich selbst ein wenig gezwungen zu schauen wie meine Erziehung, Familie und Freunde auf mich einwirken und siehe da, auch hier gibt es Punkte, die änderungswürdig sind. Ich mag es, wenn Bücher mich nachdenklich stimmen und mich zur Selbstreflexion nötigen. Das schafft nicht jeder.

    Gut zur Geltung kommt wie die Gesellschaft und das Außen auf einen ungewollt einwirken und mitunter verhindern man selbst zu sein, weil es nur menschlich ist gefallen zu wollen.

    Fazit: Keine leichte Kost und dennoch für mich etwas mit Tiefgang. Prädikat gut.

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  1. 5
    27. Okt 2022 

    Authentische Erzählung über die Flucht vor der Vergangenheit

    Wow!

    Dieser Roman hat mich tief berührt! Er kam für mich auch genau zur richtigen Zeit, um mich so anzusprechen. Ich habe mir sehr viele Stellen notiert, da ich mich so oft mit den Worten von Édouard Louis identifizieren konnte. Ich war den ganzen Roman über emotional involviert und hatte nie das Gefühl, dass hierbei etwas unwahr oder erfunden wäre.

    An manchen Stellen tat Édouard sehr leid, da er davon sprach Rache üben zu müssen. Dieses Gefühl ist mit Sicherheit kein angenehmer Begleiter. Ich hoffe er konnte auch dies mittlerweile ablegen.

    Zur Handlung an sich bleibt mir nur zu sagen, dass es sich hierbei um die Selbsfindungsreise eines jungen Mannes handelt. Édouard Louis erzählt seine Geschichte.
    Sprachlich hat mir der Roman auch unheimlich gut gefallen. Louis kann wunderbar mit Sprache umgehen und Gefühle in wundervolle Sätze verpacken.

    Ich bin begeistert! Ich werde auf jeden Fall noch weitere Romane des Autors lesen.

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  1. 4
    08. Sep 2022 

    Ungeschönte Sektion eines Werdegangs

    Nach seinem Erstling „Das Ende von Eddy“ reflektiert Louis erneut seinen Werdegang. Verglichen mit der fast brachialen Abrechnung mit der Beschränktheit seines Elternhauses ist dies ein Buch der leiseren Töne. „Anleitung, ein anderer zu werden“ schaut genauer hin. Louis berichtet mit großer Ehrlichkeit und schont sich dabei nicht.

    Oft rapportiert er sein Denken und Fühlen in atemlosen Kettensätzen, als würde sich, sobald er absetzt oder Luft holt, die Erkenntnis verflüchtigen. Er verwendet verschiedene Erzählweisen – von der Ich-Perspektive über den imaginären Dialog, vom personalen Erzähler bis zum fiktiven Brief. Unter seinen Förderern gibt es insbesondere zwei Menschen, die er als entscheidende Einflüsse seines Lebens würdigt. Einmal Elena, seine Freundin auf dem Gymnasium in Amiens. Und dann Didier. Ja genau, DER Didier. Didier Eribon, den er über einen Liebhaber kennenlernt und der fortan sein (platonischer) Mentor sein wird.
    Auch auf die verschiedenen Stufen seiner Verwandlung schaut er – die Scham, die Wut, das Gleichsein-Wollen, das Besser-sein-Wollen, das Sich-Rächen-Wollen, die Ernüchterung. Bemerkenswert luzide seine Beschreibung der körperlichen Seite seiner Wandlung, etwa wenn seine Gesichtsmuskeln die Hochsprache verweigern oder seine Hände mit dem Tischbesteck kämpfen. Erst aus der Perspektive der bürgerlichen Familie Elenas versteht er, was er und seine Eltern für ein Leben geführt haben. Er eignet sich alles an, was Elena und ihre Familie - die ihn fast adoptiert - ihm beibringen können.

    „Beim Schreiben merke ich, dass meine Geschichte vor allem die Geschichte einer langen Reihe von Frauen ist, die mich gerettet haben.“

    In der Mitte des Romans ändert sich der Ton. Denn als Louis Didier kennenlernt, geht ihm auf, dass Amiens nicht genügt. Er will auf die École normale supérieure, DIE Eliteuni Frankreichs. Er will nach Paris. Und er will schreiben. Nicht aus Liebe zur Literatur; bis dahin hat er kaum etwas gelesen. Sondern um sich endgültig von seinem Herkunftsmilieu zu befreien, sich zu „retten“. Hier wird es mir manchmal zu dramatisch: „Ich schrieb, um mein Schicksal zu bezwingen.“ Seine „Rettung“ wird zur Obsession, der er alles opfert. Auch Elena, mit der ihn bis dahin eine fast symbiotische Freundschaft verbunden hatte. Er beschließt eine radikale Veränderung:

    „Meinen Namen ändern (auf dem Amt?), mein Gesicht verändern, meine Haut verändern (Tattoo?), lesen (jemand anders werden, schreiben), meinen Körper verändern, meine Gewohnheiten ändern, mein Leben verändern (jemand werden).“

    Seine Weggefährten müssen in fast allen Fällen feststellen, dass sie nicht das Ziel seiner Suche, sondern lediglich Bügelhalter für ihn sind. Zwar sieht Louis sein Verhalten nun durchaus kritisch, ist aber für meinen Geschmack immer noch zu nachsichtig mit sich selbst. In einer an Elena gerichteten Apologie beschreibt er sein Erleben in der Welt des Großbürgertums. „Für Szenen wie diese hatte ich dich verlassen – aber ich hatte das Recht dazu, ich denke, ich hatte das Recht dazu.“

    Nachdem er „all diese Leben“ gelebt, „die Obszönität der Reichen“ erfahren, endlich (s)ein Buch veröffentlicht, Anerkennung bekommen, Lesereisen in alle Welt gemacht hat, kommt Leere auf. Weltekel sogar. Hatte er das richtige Ziel?

    „Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, wie ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendetwas nutze waren. Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe.“

    Die einzige Konstante des Chamäleons Éduouard ist die Homosexualität, aber auch sie muss dem Aufstieg dienen: „Mein Begehren öffnet mir die Tore zur Welt.“ Alles andere an ihm ist fluide, so hat Louis es entschieden. Oder war das gar nicht seine Entscheidung? Hat ihn die rigide Klassengesellschaft Frankreichs dazu gezwungen, weil er dort, wo er geboren worden war, niemals er selbst hätte sein dürfen?

    Sein leidenschaftlicher, mitreißender Roman stellt genau diese Frage. Und ich frage mich, was wir von Édouard Louis lesen werden, wenn er sich irgendwann von seiner Biographie emanzipiert hat. Was wird er uns dann wohl zu sagen haben?

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