Amelia: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Amelia: Roman' von Anna Burns
3.5
3.5 von 5 (8 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Amelia: Roman"

1969 begannen in Irland die Troubles. Doch das kümmert Amelia Boyd Lovett erst einmal wenig. Noch klettert sie jede Nacht und jeden Tag in ihr Versteck, um sich ihre Schätze anzugucken: ein kleines Plastikschaf, ein Groschen mit einem eingeprägten Gebet, eine Tube Glitzer. Und siebenundreißig Gummigeschosse. Eins für jeden Tag, seitdem die britische Armee angefangen hat, damit zu schießen. Amelia ist ein Buch über Gefühle, Familie und Irland während der Troubles. Aber erzählen Sie das nicht der achtjährigen Amelia. Immerhin ist sie es, die in einer verrückten Familie, in einer verrückten Gesellschaft aufwachsen muss und vergessen will, was um sie herum passiert. Denn das ist so einiges: Schülerinnen, die bewaffnet herumspazieren; Babies, die Bomben sein könnten oder auch nicht; Achtjährige, die merkwürdige Dinge sammeln. Wenn Amelia überleben soll, muss sie ihren eigenen Weg finden. Aber kann sie das an einem Ort, an dem die Menschen weder auf sich selbst noch andere Acht geben?

Autor:
Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:384
Verlag: Tropen
EAN:9783608500141

Rezensionen zu "Amelia: Roman"

  1. Schockierend und eindrücklich

    Klappentext von der Verlagsseite:

    »Originell und von Anfang an voll Dramatik und Energie.« The Times

    1969 beginnen in Nordirland die Troubles. Doch Amelia Boyd Lovett versucht, sich auf ihre Habseligkeiten zu konzentrieren. Jeden Tag schaut sie sich die Schätze an, die sie unter ihrem Bett in einem abgewetzten Koffer versteckt: ein kleines Plastikschaf, ein Gebet für einen Penny, eine Tube Glitzer. Und siebenunddreißig Gummigeschosse. Die sammelt sie, seitdem die britische Armee angefangen hat, damit zu schießen.

    Belfast.

    Amelia ist acht, als die Troubles beginnen. Zum Ende der Unruhen ist sie Mitte dreißig. Dazwischen spannt sich die Geschichte eines Mädchens, das in einer verrückten Gesellschaft aufwächst und dabei ganz auf sich gestellt ist – trotz der Groß­familie, mit der es unter einem Dach lebt. Amelia will um jeden Preis vergessen, was um sie herum passiert. Und das ist so einiges: Schülerinnen, die bewaffnet herumspazieren, Babys, die Bomben sein könnten oder auch nicht, Jugendliche, die sich als Ordnungshüter aufspielen, und Heimwege, die ein bitterböses Ende bereithalten. Wenn Amelia überleben will, muss sie ihren eigenen Weg finden. Aber kann sie das an einem Ort, an dem die Menschen jedes Gefühl für­einander verloren haben?

    »Fantastisch: schockierend, bewegend, eindrucksvoll.« Daily Mail

    Autoreninfo von der Verlagsseite:

    Anna Burns, geboren in Belfast, Nordirland, ist Autorin mehrerer Romane. 2018 erhielt sie für Milchmann den Man Booker Prize. Das Buch wurde zu einer internationalen Sensation und mit zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Orwell Prize und dem National Book Critics Circle Award. Milchmann erschien bisher in 30 Ländern. Anna Burns lebt in East Sussex, England.

    Erster Satz:

    Die Unruhen begannen an einem Donnerstag.

    Meinung:

    Anna Burns erzählt in “Amelia” den Beginn des Nordirland-Konflikts von 1969 bis 1994 mit all seinen Schrecken und Gefahren. Deutlich zeigt sie in “Amelia” die Grausamkeit des Konflikts zwischen Protestanten und Katholiken anhand Amelia und ihrer Familie auf.

    Burns erzählt den Schrecken chronologisch und so erleben wir zusammen mit der verängstigten achtjährigen Amelia, im vernagelten Haus den Beginn der Krawalle. Sie verdeutlicht den Schrecken gekonnt mit einer ungekünstelten nüchternen Sprache und mich ließ der Schrecken während der gesamten 384 Seiten nicht los. Ein Gewaltakt reiht sich an den anderen und das nicht nur außerhalb der Familie, sondern dies auch innerhalb der Familie.

    Ein wahres Grauen was Amelia erlebt. Mit Terroranschlägen, Vergewaltigung und psychischen Terror. Niemand kommt unbeschadet aus den Troubles raus. Häuser werden niedergebrannt, Menschen auf offener Straße erschossen oder in den Hinterhalt gelockt. All dies erzählt Anna Burns so deutlich, dass ich das Buch mehrmals zuklappen musste und tief durchatmen musste.

    “Amelia” ist ein harter Roman, der nicht unbedingt auf den eigentlichen Nordirlandkonflikt eingeht und ihn analysiert, sondern vielmehr auf die psychologische Seite. Was macht es mit einem Kind, das ständig der Gefahr ausgesetzt ist erschossen, vergewaltigt oder als Kämpfer*in angeworben zu werden?

    Es lernt zu kämpfen, die Zeichen zu sehen und wird auch gewalttätig und stumpft ab.

    So auch Amelia und ihre Geschwister. Kampf ist an der Tagesordnung und dabei ist es egal ob es Frauen oder Männer sind. Gewalt ist das einzige Mittel, was alle kennen. Amelia überlebt die Troubles, aber als psychisch gebrochene erwachsene Frau.

    Alles erzählt Anna Burns in einem eigenen Klang. Selbst größte Grausamkeiten verpackt sie in Szenen, in denen ich manchmal nicht wusste, ob Amelia träumt oder nicht. Sie versucht wohl damit den Schrecken zu nehmen, aber es gelingt nicht. Dafür ist ihre Sprache zu direkt und eindringlich, teilweise ironisch und sarkastisch. Ich denke, da an das Russische Roulette der Jungs in der Baracke zurück. Oder an die Szene mit der Schulkameradin, die so unschuldig daher kommt als Erwachsene, aber in ihrer Jugend ein furchtbarer Mensch war.

    Stellenweise auch bildhaft und ich hatte oft das Gefühl, in den Straßen von Ardoyne zu sein oder bei Amelia zu Hause oder in der Schule zu sein.

    Wie gesagt musste ich oft schlucken und ich bin glücklich, dass ich zu einer anderen Zeit und in einem anderen Land geboren wurde und nicht so einen Trouble erleben musste. Denn der Trouble bezieht sich nicht nur auf den eigentlichen Konflikt, sondern auch auf den psychologischen Aspekt der ständigen Gewaltausbrüche.

    Fazit

    “Amelia” ist ein packender, aufwühlender und schockierender Roman über die Auswirkungen der Troubles auf die Menschen, die ihnen ausgesetzt waren. Ein Roman, der dringend reine Triggerwarnung braucht, denn er ist am Stück schwer zu ertragen. Ein schweres Thema sprachlich gekonnt umgesetzt.

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  1. Die Absurdität des Nordirlandkonflikts

    „Amelia“ hat mich einiges an Kraft gekostet. Der Roman hat mich nicht gefesselt, über weite Strecken gelangweilt, mitunter ziemlich abgestoßen und angewidert und seine ständigen überzogenen Gewaltexzesse und Alkoholabstürze gingen mir irgendwann nur noch auf die Nerven. Der Roman ist im Wesentlichen eine Groteske, in der schlaglichtartig Schicksale (nicht nur das der Titelfigur Amelia) während der Jahre des Nordirlandkonflikts beleuchtet werden. Es gibt keine wirklich geordnete Handlung, der Roman springt von einem absurden Ereignis zum nächsten surreal anmutenden Erlebnis. Diese lockere Handlungsstruktur und die Tatsache, dass die Figuren allesamt zwischen Gewaltstürmen, Traumata, wahnhaften Momenten und Traumsequenzen oszillieren, verhindern, dass die Charaktere der Figuren wirklich ausformuliert werden, ein anhaltendes Interesse an ihnen oder gar eine Bindung zum Leser entsteht.
    Amelia ist sprachlich sicherlich Kunst, allerdings muss man dafür derbe Sprache und das Obszöne zu schätze wissen und es mögen, dass viele Aspekte durch die sprachliche Haltung der Erzählinstanz ins Lächerliche gezogen werden. Ich tue das nicht, kann hier allerdings anerkennen, dass ein anderes Sprachregister für diese Mär der Grausamkeit wohl kaum geeignet gewesen wäre.

    Insgesamt erscheint mir der gesamte Roman als eine Parabel der Unsinnigkeit von Gewalt und Hass, als eine schonungslose Enthüllung der Absurdität des Nordirlandskonflikts, der so viele Menschen tötete, verstört und zerstört zurückließ und nach seinem Abklingen bei den Betroffenen ein Vakuum und eine durchgreifende Orientierungslosigkeit zurückließ. Den Roman kann sicherlich nur jemand richtig wertschätzen, der sich mit den Untiefen des Konflikts und der jüngeren nordirischen Geschichte seit den 1960er Jahren auskennt – er wird wahrscheinlich in jedem einzelnen Kapitel den Bezug zu einer tatsächlichen Entwicklung der blutigen Auseinandersetzungen erkennen. Aber auch wenn man nur in groben Zügen in die Geschichte eingeweiht ist, macht der Roman die Sinnlosigkeit der Geschehnisse deutlich und stellt so eine Mahnung und Warnung dar. In dieser Hinsicht ist der Roman ein anspruchsvolles und literarisches Meisterstück, da er beim konstanten Rückbezug auf diese Deutungshypothese (gerade im letzten Drittel) ein spannendes Interpretationsfeld bietet. Aber auch wenn ich dies alles anerkenne: gefallen hat mir dieser Roman trotzdem nicht.

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  1. 3
    25. Jul 2022 

    Unruhen

    Amelia ist noch ein Kind als die Unruhen Ende der 1960er in Nordirland beginnen. Doch natürlich bekommt auch sie mit, dass die Zeit gefährlich ist. Umso stärker behütet sie ihre Schatzkiste, in der sie ihre liebsten und wertvollsten Sachen gesammelt hat. Als ihr Bruder ihren heiligen Besitz, siebenunddreißig Gummigeschosse der britischen Armee, entwendet, ist sie schockiert. Doch dies ist nur der erste Schock, den sie zu überstehen hat. Da ist der Verwandte aus England, der im Einsatz für England quasi zum Feind wird, die Freundin, die stirbt oder die, die Bomben legt, der Kumpel, der mit Mühe entkommt.

    Über fast dreißig Jahre spannt sich diese Lebensgeschichte eines Kindes, das zur Jugendlichen und zur Frau wird, immer unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen zwischen Iren und Englandfreunden. Da kann es gefährlich werden, einfach nur vor die Tür zu gehen. Und wenn sich mal ein Silberstreif im persönlichen Leben der streitbaren und intelligenten Amelia abzeichnet, dann kann es auch sie selbst sein, die die Chance nicht wahrnehmen kann. Wird Amelia es schaffen, ihr eigenes Leben zu überstehen? Während die Kämpfe ohne Unterlass weitergehen, scheint es auch mit Amelia immer weiter bergab zu gehen.

    Für jemanden, der selbst eine doch eher ruhige und unaufgeregte Kindheit und Jugend hatte, kann sich dieser Roman zu einer echten Tour de Force entwickeln. Amelia verteidigt sich, ist schlau, sie schlägt, sie ist alkoholsüchtig, sie isst lieber nicht, sie ist in England. Sehr plakativ werden ihre Lebensphasen geschildert und wenn man denkt und hofft, es kann nicht noch schlimmer werden, wird es schlimmer. Für so halbwegs normale Spießer ist es manchmal nicht leicht zu ertragen, was einem hier zugemutet wird. Man freut sich selbst überraschend am eigenen eher langweiligen Leben. Wie schön, dass man einfach mal in Urlaub fahren konnte, einfach arbeiten, das Leben nach den Möglichkeiten gestalten. Wenn man es vorher vielleicht nicht zu schätzen wusste, nun ist man doch dankbar. Man fragt sich manchmal, wieso Amelia so ist, sie scheint auf eine Art viel ertragen zu können, doch scheint ihr die Resilienz zu fehlen. Sehr eindrücklich ist dagegen die Schilderung, der Gefahr, die über allen schwebt. Bei jedem Schritt muss mit einem Geschoss gerechnet werden oder einer Bombe, die einem um die Ohren fliegt. Das gilt wohl für beide Seiten und man wünschte, sie seinen froh, dass dies überwunden schien. So sicher kann man sich da nicht mehr sein.

    3,5 Sterne

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  1. Innerer und äußerer Krieg

    „- dieser innerer Krieg muss nicht sein." "Natürlich muss der sein“, sagte Mr Hunch.“ (S. 165)

    "Amelia" ist das bereits 2001 erschienene, erst jetzt übersetzte Debüt von Anna Burns, die vor einigen Jahren mit ihren Roman „Milchmann“ den Man Booker Prize gewann.
    Der Roman setzt 1969 mit dem Beginn des Nordirlandkonflikts ein und spannt einen Bogen bis ins Jahr 1994. Die achtjährige Amelia lebt mit ihrer Familie in Belfast, im Arbeiter-Stadtteil Ardoyne, in dem während des Bürgerkriegs besonders viele Menschen starben. Relativ zu Beginn des Romans sehen wir Amelia wie sie unter dem Tisch kauert; die Familie hat alle Fenster mit Brettern vernagelt, während verfeindete Gruppen versuchen, gewaltsam ins Haus einzudringen.
    Fortan bestimmen unberechenbare Gewalt und Angst das Leben der Menschen, von dem Anna Burns bruchstückhaft, sehr eindringlich und mit großen zeitlichen Sprüngen erzählt. Rohe Gewalt ist allgegenwärtig; auch innerhalb der Familie wird auf Konflikte mit brutaler Gewalt reagiert. Es gehört zum ganz normalen Alltag, dass Familienmitglieder, Nachbarn und Klassenkamerad:innen sterben, Kinder missbraucht werden. Jugendliche wissen sehr genau wie Bomben gebaut werden, spielen zum Zeitvertreib Russisch Roulette und zerschießen sich dabei die Kniescheiben. Einige Szenen sind so brutal, so verroht, dass sie fast grotesk wirken; dabei fühlte ich mich in einem Abschnitt von der Atmosphäre an das Finale des „Seidenraupenzimmers“ von Sayaka Murata erinnert.
    Amelia überlebt wie viele andere auch. Sie verlässt Belfast als Erwachsene, zieht nach London, erleidet einen Zusammenbruch und landet in der psychiatrischen Klinik. Die Überlebenden der „Troubles“ zahlen auch nach Beendigung des gewaltsamen Konflikts einen hohen Preis; sie leiden unter Alkohol- bzw. anderen Drogenabhängigkeiten, Essstörungen und diversen psychischen Erkrankungen.
    Anna Burns schreibt mit einem ganz eigenen Sound. Thematisch und stilistisch erinnert vieles an den "Milchmann", wobei ich "Amelia" sprachlich als zugänglicher empfunden habe. Inhaltlich ist "Milchmann" aber wesentlich stringenter erzählt. Ich finde es beeindruckend wie Anna Burns das Grauen noch steigert, indem sie manchmal Gräueltaten an die Peripherie ihrer Beobachtung verbannt und den Fokus auf scheinbar Nebensächliches legt. So erinnert sie sich z.B. beiläufig wer alles erschossen wurde während ihre wichtigste Erinnerung an diesen Tag die heiße Sonne und die süße Schokolade zu sein scheinen. Das ist schwer zu ertragen, von der Wirkung aber unglaublich stark.
    Wer etwas über die Entstehungsgeschichte und die Abläufe des Nordirlandkonflikts erfahren möchte, wird bei „Amelia“ nicht fündig. Anna Burns zeigt die Auswirkungen des Kriegsirrsinns auf die psychische Gesundheit des Menschen. Krieg läutet immer auch einen inneren Verwesungsprozess ein. „Amelia“ ist harte Kost, schonungslos erzählt und ist eines der hoffnungslosesten Bücher, die ich je gelesen habe.

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  1. Irland als Graue Insel

    Das Cover hat für mich eine grosse Anziehungskraft. Kindheit mit Schrammen verbunden bedeutet eigentlich die Freiheit sich austoben zu dürfen. Schon hier bekommt man einen bedrückenden Eindruck vermittelt, der Hintergrund ist in Grautönen gehalten, weit weg von dem Slogan Irland die Grüne Insel.
    Eigentlich dachte ich genug über den Nordirlandkonflikt zu wissen. Als ich vor Jahren in Belfast war habe ich mich natürlich etwas mit der Geschichte befasst und die Denktafeln oder besonderen Orte, auch die Architekturbrüche, die nach dem Wiederaufbau zerstörter Teile sichtbar sind, haben ein Gefühl für die Tragweite des Konfliktes vermittelt. Die Toten, die Schäden, die verbleibenden Gräben in der Gesellschaft.
    Erst nachdem ich das Buch Amelia von Anna Burns gelesen habe, konnte ich etwas mehr verinnerlichen, dass es ein Krieg war. Die Bezeichnung The Troubles empfinde ich nun arg sarkastisch. Damit verbindet man eher so was wie eine gesellschaftliche Befindlichkeitsstörung, etwas Unangenehmes. Amelia und damit auch die anderen Menschen die das erlebt haben, leiden sicher an Kriegsfolgen und nicht an Trouble-Nachwehen.
    Das Coverbild bekommt nun auch eine interessante neue Note, die mir vorher nicht aufgefallen ist, nun aber direkt ins Auge springt. Das Pflaster auf Amelias Knie wird eher zum Fadenkreuz, zur Zielmarkierung.
    Wer gerade die aktuellen Nachrichten zum Ukraine Krieg eher vermeidet, weil ihm die ständige Beschäftigung damit nicht gut tut, sollte das Buch eher nicht lesen. Es hat es ganz schön in sich.
    Als Nachtrag noch zur Sternebewertung: sprachlich fiel mir manches zu schwer, daher 1 Stern Abzug, aber bei diesem Thema muss man einfach dran bleiben, wenn man sich ihm einmal gestellt hat.

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  1. Amelia, ihr Umfeld und die ‚Troubles‘

    Als die ‚Troubles‘ in Nordirland im Jahr 1969 beginnen, ist Amelia 8 Jahre alt. Diese dauerten bis ins Jahr 1998, als das ‚Karfreitagsabkommen‘ den Waffenstillstand einläutete.

    Wir lesen von Amelia, ihrer Familie und ihrem Freundes/Bekanntenkreis, und wie sie alle versuchen, in diesem Klima der Gewalt zu überleben.

    Was macht das mit Kindern, wenn sie schon in jungen Jahren Gummigeschosse sammeln, sinnlose Menschenjagden mit Erschießungen und Kniescheibenschießen als Strafe zu ihrem Alltag gehören und als wichtigste Lehre die Schlägerei-Regeln der Mutter gelten. („Ja, nickte Ma, es mag nicht viel sein, aber wenn du ermordet worden bist, und du wirst ermordet, dann hast du wenigstens alles gegeben und bist nicht weggelaufen.“) Auch etliche innerfamiliäre Szenen ließen mir das Blut in den Adern gefrieren!

    Manche Teile sind wirklich schwer auszuhalten (z.B. die Schilderungen von Vincents Aufenthalt in der Psychiatrie oder die verschiedenen Morde) und ich rate deswegen Leser*innen mit sensiblen Gemütern von dieser Lektüre ab. Ich bin jedoch heilfroh, dass ich das Buch gelesen habe, verstehe ich doch die Biographie des nordirischen Studienfreundes unseres Sohnes (während ihres gemeinsamen Studiums in den 2000er Jahren in Dublin) wesentlich besser. Auch unser gemeinsamer Urlaub in Belfast mit den aufwühlenden Besuchen der kleinen Heldenfriedhöfe für lauter junge Menschen bekommt für mich eine andere, eine schwerwiegendere Bedeutung.

    Gut 20 Jahre dauerte es, bis dieser irische Roman mit dem Originaltitel ‚No Bones‘ in Deutschland erschien. Selbst in Belfast geboren und im überwiegend katholisch und irisch-nationalistisch geprägten Ardoyne-Distrikt, einem Arbeiterviertel im Norden der nordirischen Hauptstadt, aufgewachsen, fließen auch viele eigene Erfahrungen der Autorin in diesen Roman. (Was man auch merkt, so plastisch, wie alles geschildert wird!)

    Ich fragte mich dauernd während des Lesens, ob jemand da echt abstumpfen kann bei der ganzen Gewalt und dem Leid, das sie erfuhren. Offensichtlich nicht! (Ich bin nur heilfroh, dass ich niemanden der Protagonisten kennenlernen musste!)

    Vier Sterne vergebe ich an dieses interessante, auch wichtige, aber verstörende Buch!

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  1. Entkomme Irland! Entkomme dem Wahnsinn!

    Kurzmeinung: Schade, dass wir dieses Debüt von Anna Burns erst nach 20 Jahren kennenlernen!

    2001 schlug die irische Autorin Anna Burns (geb. 1962) mit dem Roman „No Bones“ auf dem literarischen Markplatz auf. Wie schade, dass es mehr als zwanzig Jahre dauerte, bis der Roman heuer (2022) mit dem Titel „Amelia“ ins Deutsche übersetzt wurde. Viele Leser werden Anna Burns 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Milkman“ (Der Milchmann) kennen. Es wäre zu wünschen, dass auch „Little Constructions“ (2007) sowie ihre sonstigen Werke baldigst eine würdige Übersetzung finden. Ganz ohne jeden Zweifel verarbeitet Anna Burns auch in „Amelia“ ihre Herkunft aus Nordirland, aus der Stadt Belfast.

    Wie Amelia zieht auch die Autorin erst mit Mitte Zwanzig weg (laut wiki) und geht nach London. Anders als die Autorin erleidet Amelia dort einen Zusammenbruch und wird in die Psychiatrie eingeliefert. Sie verkraftet die vielen Toten nicht, die ihre Kindheit überschattet haben. Was danach aus ihr wird, bleibt ein wenig unklar. Amelia beherbergt eine Gruppe ihrer sprechenden Toten und macht mit ihnen einen Ausflug. Immerhin außerhalb der Psychiatrie. Also hat sie ihr Leben wieder selbständig in die Hand genommen.

    Der Kommentar:
    Der Roman „Amelia“ macht deutlich, dass man traumatische Erlebnisse in der Kindheit nicht so einfach los wird, selbst wenn man es nach einigen vergeblichen Anläufen geschafft hat, wegzugehen. "(Niemals geht man so ganz ...") Der Roman ist ganz wunderbar geschrieben, einfühlsam, aus der Sicht eines Kindes, das allmählich erwachsen wird, aber, von Anfang an von Lieblosigkeit und Gewalttätigkeiten geprägt, gehandicapt ist. Auf der einen Seite bleibt Amelia für immer ein Kind, gefangen in den schrecklichen Bildern, die sie gesehen hat und den schrecklichen Geschehnissen, deren sie unterworfen war. Auf der anderen Seite lernt sie mehr und mehr, damit umzugehen und eine, wenn auch eingeschränkte echte Lebensperspektive zu entwickeln.

    Fazit: Es ist nicht schwer, sich im Roman oder in Amelia zurechtzufinden, auch wenn Teile davon „nur“ in ihrem Kopf stattfinden. Ein bisschen weniger „Psychokram“ hätte es für mich auch getan, aber im Großen und Ganzen bin ich sehr beeindruckt.

    Kategorie: Anspruchsvoller Roman.
    Verlag: Tropen im Hause Klett-Cotta, 2022

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  1. Kollateralschäden

    Amelia ist bei Ausbruch der Unruhen in Nordirland 1969 sieben Jahre alt, genau wie die 1962 in Belfast geborene Autorin Anna Burns, und wächst wie diese im katholischen, irisch-nationalistisch geprägten Arbeiterviertel Ardoyne auf. Schlagartig verändert sich das Leben aller Nordiren, Gewalt und Gegengewalt werden allgegenwärtig, zuerst auf den Straßen, dann auch innerhalb der Familien. 1971 soll ihre Schulklasse ein Friedensgedicht schreiben:

    "Amelia war genauso verwirrt wie die anderen. Nicht, dass sie etwas gegen Frieden gehabt hätte. Nur hatte sie auch nichts dafür. Was wusste sie denn? Wen konnte sie denn fragen? Niemanden. Niemand, den sie kannte, wusste irgendwas über Frieden." (S. 46)

    In 23 lose zusammenhängenden Kapiteln mit Jahresangaben von 1969 bis 1994 geht es um Amelia, ihre Familie und ihre Freunde. Viele sind aktiv in den Konflikt verwickelt, einige kommen um, alle leiden unter psychischen Störungen:

    "Alles wurde in den Schatten gestellt, immer aufs Neue, vom nächsten, jüngsten, burtalsten Todesfall." (S. 128)

    Im Trommelfeuer aus Gewalt, Hass und Rachegedanken flüchten sie in Alkohol, Drogen oder Essstörungen, entwickeln eine Borderline-Symptomatik, Depressionen oder Psychosen. Anders als bei Familienmitgliedern und Freunden löst die Gewalt bei Amelia „nie einen Kick“ aus. Obwohl sie das verhasste Ardoyne verlässt und 1989 gar nach London geht, verfolgen sie die Geister der Verstorbenen.

    Eine Rückkehr zur Normalität scheint den Überlebenden sogar im Friedensprozess 1994 unmöglich:

    "Trotz aller Hoffnung und der vorübergehenden Besserung ihrer Laune fiel es ihnen daher schwer, das vertraute Grauen abzulegen […]." (S. 368)

    Allgemeingültigkeit statt Nordirland-Problematik
    Manchmal beginne ich ein Buch mit völlig falschen Erwartungen und werde trotzdem nicht enttäuscht. Leider war das bei Anna Burns Debütroman "Amelia" aus dem Jahr 2001, der nach dem großen Erfolg ihres 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Romans Milchmann nun auf Deutsch erschien, anders. Ich hatte auf einen politischen Roman zum Nordirlandkonflikt gehofft, einem Thema, das mich nicht erst seit einer Reise nach Londonderry und Belfast 2018 sehr interessiert, und das leider als Folge des Brexits aktuell wieder an Brisanz gewinnt. Bekommen habe ich stattdessen einen Episodenroman über Kollateralschäden von Krieg für die betroffene Bevölkerung, wie es sie an jedem Konfliktherd gibt. Dass Gewalt dramatische Folgen für die psychische Gesundheit aller, besonders aber für Heranwachsende hat, ist keine überraschende Neuigkeit, führt aber noch einmal die absolute Notwendigkeit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen vor Augen.

    Ein sehr durchwachsenes Fazit
    Eine abschließende Bewertung dieses bei seinem ersten Erscheinen in Großbritannien hoch gelobten Romans fällt mir schwer. Einerseits habe ich mich durch viele der Kapitel gequält, vermisste schmerzlich politische Hintergrundinformationen und einen Anhang zu den Abkürzungen bürgerkriegswichtiger Organisationen und der Bedeutung von Straßen und Bezirken. Auf manches brutale Detail zu oft eher zufälligen Morden, Kniescheibenzerschießungen, unvorstellbaren häuslichen Gewaltexzessen, Vergewaltigungen oder außer Kontrolle geratenen Teenager-Gangs hätte ich gerne verzichtet. Einige Episoden waren mir zu ausschweifend, zu übertrieben oder eindeutig (absichtlich?) unrealistisch. Andererseits ist der Romanaufbau mit den in sich abgeschlossenen, aber immer wieder aufgenommenen Handlungssträngen durchdacht, der distanziert-unsentimentale Stil macht die Geschichten umso eindrücklicher und die fast völlige Beschränkung auf die Folgen der Gewalt verleiht dem Buch Allgemeingültigkeit. Trotzdem hätte ich wesentlich lieber ein Buch mit einem stärkeren Bezug zur Nordirland-Frage gelesen.

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