Am Himmel die Flüsse: Roman

Rezensionen zu "Am Himmel die Flüsse: Roman"

  1. Wasser: Lebenskünder, als auch Todesbote

    ‚Schreiben heißt, die Zwänge von Ort und Zeit überwinden. Ist das gesprochene Wort ein Kunstgriff der Götter, so ist das geschriebene der Triumph der Menschen.‘

    Und mit einem Meisterwerk haben wir es hier bei diesem Roman zu tun: gefüllt mit viel Historie, persönlichen Schicksalen, interessanten Charakteren, Lebensweisheiten und fremden Kulturen. Das Element, das alles miteinander verbindet, ist das Wasser: ob als Regentropfen, als Schneeflocke, als verdreckte Kloake – ‚es gilt als Lebenskünder wie auch als Todesbote‘.

    Als Einstieg (und Basis für alles) lernen wir Assurbanipal kennen, den König des assyrischen Reichs, von Mesopotamien, ca. zwischen 650 und 640 vor Christus: ein Schöngeist, belesen und gelehrt, jedoch bei all seiner Bildung und Kultiviertheit nicht weniger grausam als seine Vorgänger. Die Lamussus im Palast (große Skulpturen, die Mischwesen darstellen und die Türen der Bibliothek bewachen) und die blauen Tafeln mit dem Epos vom Helden Gilgamesch werden uns noch öfters in diesem Buch begegnen.

    Danach teilt sich die Geschichte auf drei Personen auf, von denen abwechselnd erzählt wird: Arthur, 1840 unter schwierigsten Verhältnissen an den Ufern der Themse geboren, Narin, Jesidin, 2014 neun Jahre alt und mit ihrer Großmutter in Hasankeyf, einer antiken Siedlung am Tigris, lebend, die demnächst wegen eines Dammbaus überflutet werden wird, und Zalekhah im Jahr 2018, einer Hydrologin in London.

    Mich erinnerte dies an eine kunstvolle Klöppelarbeit, bei der immer wieder ein Faden ruht und später wieder aufgenommen wird zum Verkreuzen – Verknüpfen – Verschlingen im Mehrfachsystem, bis ein wunderschönes Flechtwerk entsteht.

    Ich bewundere die aufwendigen Recherchearbeiten, die dafür nötig war. Ja, es gibt auch grausame Szenen, z.B. wühlte mich der Genozid 2014 an den Jesiden unheimlich auf. (Deshalb empfehle ich allen sanften Gemütern, die Finger von diesem Roman zu lassen!) Ansonsten kann ich ihn nur wärmstens empfehlen und die Höchstzahl an Rezensions-Sternen vergeben.

  1. 4
    25. Sep 2024 

    Alle Wege führen übers Wasser

    Arthur hat ein besonderes Talent - sein Erinnerungsvermögen ist außergewöhnlich, jeder Tag seines Lebens ist ihm geistig präsent. Geboren in Londons Armenvierteln des 19. Jahrhunderts, verschafft ihm seine Gabe im Laufe der Zeit gesellschaftlichen Aufstieg. Alles was er will, ist Ninive zu erforschen, jene Stadt Mesopotamiens, die durch steinerne und tönerne Artefakte der Nachwelt erhalten geblieben ist und dessen gefundene und geborgene Schätze die Aufmerksamkeit der interessierten englischen Bevölkerung auf sich zieht. Arthur kann sich die Keilschrift beibringen und erhält den Auftrag des British Museums hunderte Tontafeln zu enträtseln. Nach einer sensationellen Entdeckung scheint Arthur sein Ziel erreicht zu haben: er wird beauftragt, in sein umträumtes Mesopotamien zu reisen, um dort fehlende Textbausteine zu suchen.

    Gut 150 Jahre später entdeckt die neunjährige Jesidin Narin auf einem alten Friedhof am Tigris den Grabstein des Engländers und fragt sich, was es mit diesem "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere" auf sich hat. Wie ist ihr Schicksal miteinander verbunden?

    Auch die Hydrologin Zaleekah scheint mit den beiden ein Band zu haben, aber das ist lange nicht ersichtlich. Sie kämpft mit der Trennung von ihrem Mann und mit den Erwartungen ihrer Familie, welche sie scheinbar nicht erfüllen kann. Was alle vereint ist ein einziger Tropfen Wasser.

    Elif Shafak schafft in "Am Himmel die Flüsse" einen einfühlsamen und schönsprachigen Roman, der durch die unterschiedlichen Zeiten springt und die drei Handlungsebenen schlussendlich stimmig miteinander vereint. Alle Protagonist:innen werden zeitgenössisch portraitiert, sodass es ein Leichtes ist, sich in deren Situation hineinzuversetzen. Die Sprache Shafaks ist oft tiefgründig und philosophisch, oft regt sie zum Nachdenken an. Einer der vielen Beispiele: "Arthur kommt der Verdacht, dass wir mit dem Wort Kultur das wenige bezeichnen, das wir vor einem Verlust retten konnten, an den sich niemand erinnern will." (S. 423)

    Vor allem die Geschichte um Arthur, die am ausführlichsten erzählt wird, hat mich in den Bann gezogen. Spannend ist, dass seine Figur eine reale, historische Person als Vorbild hat, auch weitere Protagonist:innen sind an historische Persönlichkeiten angelehnt, wie uns die Autorin im Nachwort ausführlich wissen lässt. Nichtsdestotrotz hat der Roman seine Längen. Besonders die Geschichte um Narin enthält viele Schilderungen, welche die Jesidische Kultur erklären. Zwar finde ich das grundsätzlich äußerst interessant, hier hat mich die Autorin aber aufgrund des Detailreichtums um den (Aber-)Glauben oft verloren, ich empfand es als irrsinnig langatmig und musste das Buch regelmäßig zur Seite legen. Oft habe ich mich gefragt, weshalb sich die Autorin dazu entschieden hat, drei Charaktere in den Fokus zu nehmen. Besonders Arthur, aber auch Zaleekah hätten einen eigenen Roman verdient, ich hätte gerne noch mehr über sie gewusst. Für dieses Buch hätte ich mir aber manchmal etwas knappere Beschreibungen gewünscht, da etliche Schilderungen für den Fortgang der zusammenhängenden Geschichte nicht unbedingt notwendig gewesen wären und für meinen Geschmack eine gewisse Langatmigkeit geliefert haben.

    Die Beobachtungen der unterschiedlichen Kulturen und deren Aufeinandertreffen sind Shafak besonders geglückt und hat mich viel darüber gelehrt. Das Buch ist grundsätzlich sehr lehrreich, neben den Kulturen und der mesopotanischen Geschichte, erfahren die Lesenden auch viel über Wasser und Flüsse und wie der Mensch diese geprägt und/oder versucht hat zu unterdrücken. Im Nachwort erfahren wir, dass die Autorin umfangreich recherchiert hat und setzt das Erzählte somit auf eine fundierte Wissensbasis.

    Mein Fazit: Am Himmel die Flüsse ist ein schönsprachiger und gedankenanregender Roman auf drei Erzählebenen, der die drei Schicksale der Protagonist:innen langsam aber stimmig zusammenführt. Ein Stück weit betrachtet er unterschiedliche Kulturen, ist sehr lehrreich und philosophisch, weißt aber durch ab und an auftretenden Detailreichtum auch seine Längen auf. Trotzdem: eine absolute Leseempfehlung!

  1. Wieder einmal meisterlich und zauberhaft von Elif Shafak

    Ich bin großer Fan der Autorin Elif Shafak und ihren Büchern, erfasst sie doch gesellschaftliche Probleme und bettet sie in ihren Romanen in eine poetische Sprache. So ist auch Am Himmel die Flüsse erneut ein kleines Meisterwerk, ein literarischer Schatz im Buchregal.

    Im Mittelpunkt der Handlung stellt Elif Shafak das Wasser, der Ursprung allen Lebens - in Form von Regen, Flüssen und Meeren durchzieht das Wasser wie ein roter Faden die Geschichte vieler Figuren und verknüpft sie so zu einem runden Gesamtbild. Natürlich verbirgt sich dahinter eine Thematik von Vergangenheit und Gegenwart, in der auch in abwechselnder Perspektive die persönlichen Geschichten ihrer Protagonisten erzählt werden. Behandelt werden Kolonialismus, Kulturgüter, kulturelle Identität, Religion und Terrorismus, wobei sich die Autorin auf die Region des antiken Mesopotamien und heutigen Iraks fokussiert.

    Ohne groß spoilern zu wollen ist es der Autorin wahrlich meisterhaft gelungen, die dortigen Ereignisse der Vergangenheit und Neuzeit einzufangen, ohne dabei zu voyeuristisch zu sein und den Opfern eine (hauptsächlich weibliche) Stimme zu geben. Hier den Bogen zu spannen und eine eindrückliche und fesselnde Geschichte zu schreiben, zeugt von der Kraft einer Elif Shafak. Ihre Bücher sind stets wichtig - sie ist und bleibt eine absolute Empfehlung!

  1. 4
    01. Sep 2024 

    Ein Wassertropfen reist durch die Zeit und um die Welt

    In Elif Shafaks neuem Buch “Am Himmel die Flüsse“ geht es um drei wichtige Personen auf verschiedenen Zeitebenen und das zentrale Element Wasser. Das 9jährige ezidische Mädchen Narin soll 2014 am Tigris in der Türkei nach traditionellen Riten im Fluss getauft werden. Die Wasserforscherin Zaleekha betreibt ihre Forschungen 2018, und ein armer Engländer namens Arthur, "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", lebt Mitte des 19. Jahrhunderts in äußerster Armut am Ufer der Themse. Sein Grab findet Narin in der Nähe der Grabstätte ihrer Ururgroßmutter Leila. Auch Assurbanipal, ein mächtiger, grausamer König von Mesopotamien in der Urzeit spielt eine Rolle ebenso wie das Gilgamesch-Epos, verfasst vor rund 5000 Jahren und eine der ältesten Dichtungen der Welt. Das Element, das sie alle verbinden soll, ist Wasser, genauer gesagt ein Wassertropfen, der immer wieder neue Erscheinungsformen annimmt, in dieser Geschichte fast personifiziert wirkt. Es geht um Vergangenheit und Gegenwart, um die Folgen uralter Konflikte und Geheimnisse, die noch nicht aufgedeckt wurden.
    Shafaks Geschichte ist nicht leicht zu lesen. Der Roman ist sehr umfangreich, sehr detailliert, und mich stören sprachliche Manierismen. Die Wortwahl wirkt auf mich teilweise merkwürdig versponnen, die Ausdrucksweise ein wenig gestelzt. Dennoch ist das Werk schon beeindruckend und empfehlenswert, vor allem weil es Massaker zur Sprache bringt, die nicht nur in vergangenen Jahrhunderten begangen wurden, sondern zum Beispiel noch 2014 unbeachtet vor den Augen der Welt stattfanden. Die Autorin thematisiert außerdem immer wieder die Frage, welches Recht europäische Länder hatten und haben, bei Ausgrabungen entdeckte Kunstschätze außer Landes zu schaffen, in Museen auszustellen oder für große Summen an reiche Sammler zu verkaufen. Insgesamt ist "Am Himmel die Flüsse" eine lohnende Lektüre, aber man braucht ein wenig Ausdauer.

  1. Wasser zeigt die Verbindungen zwischen Orten und Zeiten

    "Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches Werk.

    Es geht um die Verbundenheit von allem und allen auf dieser Welt, metaphorisch dargestellt durch das Wasser, das in seinen vielfältigen Formen, ob als Wassertropfen, unterirdischer Fluss oder überwältigende Sturzflut, menschliche Schicksale und Zeiten miteinander verknüpft.

    Beginnend mit der Geschichte des Herrschers Assurbanipal im antiken Ninive begleiten wir schließlich den hochbegabten, aber in bitterste Not hineingeborenen Arthur, den "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", auf seinem Lebensweg in der Zeit der Industrialisierung, genauso wie im Jahr 2014 die 9-jährige Narin auf dem Weg zu ihrer Taufe ins Lalischtal, begleitet von ihrer liebevollen, geschichtenerzählenden Großmutter, sowie eine junge Hydrologin in London im Jahr 2018... und einen Wassertropfen auf seiner Reise durch die Weltregionen und die Jahrtausende.

    Was macht für mich ein literarisches Meisterwerk aus?

    Erstens die ganz besonders schöne, poetische Sprache: ein Buch, das schon mit seiner Wortwahl ein besonderer Lesegenuss ist und mit treffend gewählten Sprachbildern die Fantasie anregt. Davon findet sich ganz viel in diesem Buch, hier ein paar Beispiele:

    "Die Kinder entwurzelter Eltern sind in den Stamm des Erinnerns hineingeboren."

    "Arthur weiß inzwischen, dass die Grenzen zwischen Klassen in Wirklichkeit die Grenzen auf einer Landkarte sind. Wenn man in einer reichen und privilegierten Familie zur Welt kommt, erbt man einen Plan, auf dem der weitere Weg vorgezeichnet ist, der Abkürzungen und Nebenwege enthält, und der die üppig grünen Täler, in denen man rasten kann, ebenso nennt wie die schwierigen Stellen, die man besser umgeht. Wer die Welt ohne eine solche Karte betrifft, dem fehlt es an guter Orientierung. Der kommt viel leichter von seinem Weg ab, weil er auf vermeintliche Haine und Gärten zugeht, um schließlich festzustellen, dass er in Sumpf und Moor gelandet ist."

    "Endlich habe ich meine Berufung gefunden: Es ist meine Pflicht, das Zerbrochene zusammenzufügen, den Menschen zu helfen, sich an das zu erinnern, was jahrhundertelang vergessen war, und das, was irgendwo auf dem Weg durch jene Zeit verloren gegangen war, wiederzufinden. Ich möchte wie die Themse sein. Ich werde mich um alles Weggeworfene, Beschädigte, Vergessene kümmern."

    Mit solchen Sprachbildern ist das Buch voll.

    Zweitens die komplexen, gut recherchierten und miteinander verbundenen Themen:

    Beim Lesen dieses Buches kann man nebenbei sehr viel lernen. Zwar sind die Figuren fiktiv, doch das, was diese erleben oder ihnen zustößt, beruht überwiegend auf sehr sorgfältig recherchierten historischen Tatsachen (wie die Autorin im Nachwort auch selbst detailliert beschreibt). Dieses Buch hat mir Wissen über so unterschiedliche Gebiete wie das alte Mesopotamien, London zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, das Wassergedächtnis, die vergrabenen unterirdischen Flüsse von London, Paris und vielen weiteren Metropolen (auch in Wien gibt es solche), den Völkermord an den Eziden in der Geschichte des osmanischen Reiches sowie durch den IS, Organhandel, die Klimakrise auch als Wasserkrise, die Problematik des Verschleppens von Kunstschätzen in ferne Museen und vieles mehr vermittelt, einfach so nebenbei beim Lesen.

    Drittens das Bewusstsein für soziale und kulturelle Unterschiede, Benachteiligungen und Privilegien und wie sie die Möglichkeiten der einzelnen Menschen und ihre Weltsicht prägen. Das Buch zeigt etwa an vielen Beispielen (siehe z.B. das mittlere Zitat oben) auf, wie die eigene soziale Schicht und der eigene kulturelle und familiäre Hintergrund Türen öffnet oder schließt, wie schwierig es sein kann, diesem Hintergrund zu entfliehen und wie wenig Bewusstsein auf Seiten der Privilegierten dafür oft besteht, sowohl historisch als auch in der heutigen Zeit. Damit bietet das Buch viel Stoff zum kritischen Reflektieren und auch für Diskussionen mit anderen und eignet sich dadurch auch besonders gut für gemeinsame Leserunden.

    Viertens authentisch gezeichnete, tiefgründige und facettenreiche Figuren und eine spannend erzählte Geschichte. Dieses Buch hat mich gepackt, wie schon länger keines mehr, und als ich die liebevoll gezeichneten Figuren einmal kennen gelernt hatte, war ich sehr schnell emotional tief mit ihnen und ihrem Schicksal verbunden, habe mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende, das die verschiedenen Handlungsstränge noch einmal geschickt miteinander verwebt, war das Buch absolut fesselnd.

    Es handelt sich hierbei also um ein literarisches Meisterwerk, wie ich schon länger keines mehr gelesen habe. Im Klappentext findet sich die Aussage des Schriftstellers Hanif Kureishi, es handle sich bei Elif Shafak um "eine der besten Schriftstellerinnen der Welt" - dem kann ich absolut zustimmen und werde definitiv noch weitere Bücher von ihr lesen.

    Empfehlen kann ich das Buch allen, die sich für wirklich gute Literatur und/oder für die angesprochenen Themen interessieren, dieses Buch ist wirklich ein besonderer Lesegenuss.

    Nötig ist allerdings, sich innerlich auch für sehr schwierige Themen menschlicher Grausamkeit zu wappnen: diese hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, es gibt sie leider bis heute, und sie kommen auch detailliert im Buch vor.

    Das macht beim Lesen gerade deshalb emotional besonders betroffen, weil es aufgrund der gut recherchierten wahren Hintergründe eben nicht möglich ist, sich mit der Vorstellung, es sei nur eine Geschichte, davon zu distanzieren: schreckliche Dinge werden Menschen, Tieren und der Natur durch andere Menschen angetan, bis zum heutigen Tag, und Elif Shafak spricht das klar und mutig an.

    Es ist also trotz der schönen, poetischen Sprache und der spannenden Geschichte nicht nur ein reiner Lesegenuss, sondern macht auch sehr nachdenklich und sensibilisiert für das Leid der Welt und für das, was Menschen, Tieren und Natur angetan wird, bis zum heutigen Tage. Damit kann es aber auch aufrütteln, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine bessere Welt einzusetzen.

  1. Von der Themse zum Tigris – anregende Geschichte in 3 Zeitebenen

    6 von 5 Sternen – Thematisch reichhaltig, sprachlich bildhaft, philosophisch und gesellschaftskritisch anregend – großartig!

    'Dieser Roman ist meine Liebeserklärung an Flüsse – diejenigen, die noch voller Leben sind, und diejenigen, die es längst nicht mehr gibt.' (Shafaks Worte zum Schluss, 590)

    Es ist ein unglaublich reichhaltiges Buch, spannend erzählt, lehrreich, nachdenklich machend. Dabei stört es mich nicht, dass viele Themen angesprochen werden, im Gegenteil, es wirkt anregend und lange nachwirkend.

    Auch wenn in drei bzw. vier Zeitebenen erzählt wird, sind diese klar voneinander durch die Angabe der Personen, des Ortes und des Jahres abgegrenzt, andererseits aber durch eine Menge unterschiedlicher Aspekte miteinander verbunden, allen voran Wasser, ein Regentropfen, die Flüsse Themse und Tigris, das alles geschickt in die einzelnen Geschichten eingewoben.

    In Urzeiten lebte einst in Ninive ein gebildeter, aber grausamer assyrischer Herrscher -
    Assurbanipal. Doch was interessiert der uns heutzutage noch? Diese Frage wird man sich am Ende des Buches nicht mehr stellen, denn alles hängt zusammen, alles ist miteinander verflochten. Er ist derjenige, dessen riesige Schutzgötter-Statuen, die Lamassu, noch heute im Britischen Museum zu sehen sind, er ist derjenige, der Keilschriften-Tontafeln sammelte, allen voran das heute noch hoch geschätzte Epos von Gilgamesch.

    Und in diesem Zusammenhang treffen wir auf den jungen Arthur, der diese Keilschriften entzifferte und Zeit seines Lebens vom Gilgamesch-Epos besessen war. Seine Geschichte spielt an der Themse und am Tigris in Mesopotamien, Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts. Er wird in ärmlichste Verhältnisse geboren, in ein London zu Beginn der Industrialisierung, schmutzig, verseucht, mit krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich.

    Er ist ein besonderes Kind mit besonderen Begabungen und bekommt die Chance, in einer Druckerei zu arbeiten, später im Britischen Museum. Als er unter den Keilschriften Bruchstücke des Gilgamesch-Epos entdeckt, darf er nach Mesopotamien reisen, um dort Ausgrabungen zu machen und eventuell die fehlenden Tafeln zu finden. Er wird sein Leben lang davon besessen bleiben, auch von der Landschaft, dem Fluss Tigris und den gastfreundlichen Jesiden, die er dort kennenlernt. Deren Schicksal ist uns bekannt (IS), aber sie waren auch damals schon als 'Teufelsanbeter' verschrien und mussten Massaker erdulden. Am Ende stirbt Arthur dort krank und einsam und wird dort begraben.

    Leider setzt sich das grausame Schicksal der Jesiden auch in der Gegenwart fort. Ein Dammbauprojekt der türkischen Regierung zerstört den Lebensraum von Tausenden Menschen und Kulturgüter mit einer zwölftausend Jahre alten Geschichte. Schlimmer noch der Terror des IS, das uns am Schicksal der kleinen Narin und ihrer Großmutter erfahrbar gemacht wird: Massaker, Sklaverei, Vergewaltigungen.

    Die Großmutter ist eine weise alte Frau, die versucht, Narin zu Menschlichkeit zu erziehen:

    'Die Welt ist voller Schmerz und Leid, aber sie ist auch schön.' (321)

    Später wird uns Narin im Zusammenhang mit einer anderen Person des Buches begegnen, Zaleekhah, im Jahre 2018. Sie ist 31, promovierte Hydrologin und wegen des Todes ihrer Eltern, an dem sie sich die Schuld gibt, depressiv. Zum Glück lernt sie aber eine lebensbejahende Frau kennen, die sich ihrer annimmt und wo auch wieder allerlei Verbindungen zu Ninive und dem Gilgamesch-Epos aufgezeigt werden.

    Am Ende der Geschichte sehen wir, wie alle und alles zusammenhängen, wie alle und alles miteinander verbunden ist und welche Rolle vor allem Wasser dabei spielt.

    Das Buch spricht eine Fülle von Themen an, was aber nicht abschreckend, sondern anregend wirkt:

    Umweltprobleme - 'Wir Menschen zerstören so oft die Natur und nennen das Fortschritt.' 173 - 'Die Klimakrise ist im Grunde eine Wasserkrise' 148

    Darf das kulturelle Erbe anderer Völker in Museen in aller Welt gebracht werden? Oder gar in Privatbesitz übergehen?

    Die Verfolgung der Religionsgemeinschaft der Jesiden

    Gibt es ein 'Wassergedächtnis'?

    Organverpflanzung / Organhandel

    u.v.m.

    Fazit

    Es ist ein Buch, das mich überwältigt, fasziniert und tief beeindruckt hat. Es ist eines, das man mehr als einmal lesen kann und muss. Es ist eines, das viele Gedankenanregungen gibt und zum Recherchieren anregt. Es ist ein Buch voller schöner bildhafter Sätze und Zitate. Und es ist keien Minute langweilig, obwohl man außer den persönlichen Lebensgeschichten einiges Sachliche erfährt.

    'Ein Buch dagegen endet nie, auch nicht, wenn man es fertig gelesen hat.' (143)
    'Schreiben heißt, die Zwänge von Ort und Zeit zu überwinden.' (500)

  1. Große Erzählkunst

    In ihrem neusten Buch schlägt die britisch-türkische Autorin Elif Shafak einen weiten Bogen. Es beginnt im Jahr 630 v. Chr. in Ninive, das zu dieser Zeit die Hauptstadt des Assyrischen Reiches war. Der Leser begleitet einen Regentropfen, der auf das Haupt des Königs Assurbanipal fällt, wieder verdunstet, um im Jahr 1840 als Schneeflocke im Mund eines Neugeborenen am Themse-Ufer zu landen. Die Reise geht bis in das Jahr 2018, wo eine Hydrologin über das Gedächtnis des Wasser forscht.
    Die Geschichte ist in drei Handlungsstränge mit völlig unterschiedlichen Protagonisten aufgeteilt, die abwechselnd erzählt werden.
    Da ist zu einem Arthur, das Neugeborene aus dem Jahr 1840. In Armut geboren und aufgewachsen, aber mit einem wachen Geist und der besonderen Gabe, wiederauftretende Muster in vielen Dingen zu erkennen, schafft es der Junge vom Druckerlehrling zum anerkannten Fachmann und Übersetzer des Gilgamesch-Epos. Diese Figur ist an eine historische Person angelehnt.
    Dann gibt es die 9jährige Narin und ihre Großmutter. Sie gehören der Glaubensgruppe der Eziden (Jesiden) an und leben 2014 im Südosten der Türkei, nahe der Grenze zu Syrien. Narins Großmutter ist eine weise Frau und erzählt ihrer Enkeltochter viele Sagen und Legenden ihrer Religion. Ihr Heimatort soll von einem geplanten Staudamm überflutet werden, was nicht nur die Vertreibung der Anwohner, sonder auch die Überflutung und Vernichtung archäologischer Stätten bedeutet. Narin reist mit ihrer Großmutter in das Lalisch-Tal im Norden des Irak, weil sie dort nach ezidischem Brauch getauft werden soll. Als die Kämpfer des IS in das Tal einfallen, kommt es für die ezidische Bevölkerung zur Katastrophe.
    Und dann gibt es noch Zuleekah, die Hydrologin, die im Jahr 2018 in London lebt. Sie hat sich von ihrem Ehemann getrennt und ist auf ein Hausboot auf der Themse gezogen. Ihre Eltern starben früh und sie ist bei der Familie ihres Onkels aufgewachsen. Dieser Onkel, ein schwerreicher Mann, stellt große Ansprüche an Zuleekah, die gerade mühsam versucht, sich aus ihrer Lebenskrise herauszuarbeiten.
    Es war für mich das erste Buch der Autorin, das mir bis auf kleine Abstriche gut gefallen hat. Elif Shafak ist eine großartige Erzählerin, sie lässt die Figuren lebendig werden und schafft es mühelos diese drei unterschiedlichen Handlungsstränge am Ende zusammenzuführen. Dabei spricht sie viele Themen an. Nicht nur das Gedächtnis des Wassers und die Entschlüsselung der Keilschrift und damit die Entdeckung des Gilgamesch-Epos. Auch die leidvolle Geschichte der Eziden und ihre gezielte Vernichtung werden beschrieben. Zusätzlich beleuchtet sie noch die Problematik der Aneignung archäologischer Kulturgüter durch westeuropäische Staaten und den Organhandel. Obwohl die Geschichte dadurch manchmal überladen wirkt, bleibt sie durchgehend fesselnd. Mir persönlich hat der Teil mit Zuleekah am besten gefallen, ihr fühlte ich mich am am meisten verbunden. Der gesellschaftliche Aufstieg Arthurs mutete sehr märchenhaft an, wobei es ja wie schon erwähnt, durchaus ein historisches Vorbild gibt. Die Mythen und Legenden der Eziden verliehen der Erzählung einen Hauch von Tausendundeiner Nacht. Die Darstellungen des Genozids, dem Narin und ihre Familie zum Opfer fielen, waren dagegen teilweise so intensiv, dass sie für empfindsame Personen schwer zu verkraften sind, besonders weil sie der Realität entsprechen.
    Alles in allem ist ein lesenswertes und lehrreiches Buch, das manchmal etwas zu märchenhaft anmutet.

  1. Bindeglied Wasser

    Wasser ist in unseren Leben omnipräsent. Wir trinken es für gewöhnlich jeden Tag mehrmals, nutzen es zum kochen und waschen, es gibt Wasserstoff als Energie. Doch wie tiefgründig die Geschichte der Menschheit mit Wasser verbunden ist, zeigt Elif Shafaks „Am Himmel die Flüsse“ exemplarisch.

    Den Ursprung der im Buch dargestellten Verbindung liegt bei Assurbanipal, der einst über die reiche Stadt Ninive herrschte. In dieser Stadt ist seinerzeit eine große Bibliothek mit dem wertvollen Gilgamesch-Epos. Der fasziniert nicht nur in der Antike die Völker, sondern auch im 19. Jahrhundert Arthur. Arthur ist ein mittelloser Forscher aus London, der aufgrund seiner Geburt an der Themse auch als König der Abwasserkanäle verschrieen ist. Sein Können beruht darauf, dass er alte Erinnerungen und Daten vor seinen inneren Auge sieht.

    Ein ähnliches Phänomen hat Narins Großmutter vorzuweisen. Auf der Flucht der beiden Richtung Irak im Jahr 2014 offenbart sie, dass sie mit den Flüssen kommunizieren kann. Narin ist fasziniert und beschäftigt sich mit der Vergangenheit, sodass sie auf Arthurs Grab stößt.

    Die letzte Protagonistin ist Zaleekhah, die sich mit Wasser als Wissenschaft beschäftigt. Sie erkennt, dass die Talsperre am Tigris nicht funktionieren würde und erfährt bei ihrer Recherche mehr über den Fluss und die Geschichten um ihn herum.

    Ich finde das Buch klasse geschrieben. Sicherlich könnte man Shafak vorhalten, das Szenen wie Arthurs Geburt oder Narins Flucht nicht leicht zu lesen sind und sich die Szenen teils in die Länge ziehen, aber alles hat seinen Sinn und ergibt ein tolles Gesamtbild. Nicht zu vergessen, dass es Shafak stets gelingt, die Sprache anzupassen und so eine runde Situation zu erschaffen. Besonders gut gefällt mir, dass Shafak allen gesellschaftlichen Problemen Raum gibt und so auch oft vergessene Fakten zur Sprache kommen. Fünf Sterne.

  1. Ein Weckruf!

    Wenige Autoren sind mit sovielen Literaturpreisen bedacht wie Elif Shafak. Mit großer Leidenschaft, Mut und Mitgefühl für das Schicksal der Eziden hat sie dieses Buch geschrieben. Sie hat dafür eine umfassende Recherche betrieben, die sie ausführlich in ihren Anmerkungen beschreibt. Eine Fundgrube an Literatur, für alle die sich für die Vielzahl der, in ihrem Buch angesprochenen Themen weitergehend interessieren.
    Alles beginnt in Mesopotamien, dort wo der Garten Eden war, wo die Wiege der Zivilisation und Kultur stand, dort wo die Sintflut ihren Anfang hatte und die Erzählung von Gilgamesch als Keilschrift in denLehm gedrückt, oder in Lapislazuli geschnitten wurde.
    Am Ufer des Tigris fällt ein Regentropfen in Assurbanipals Haar und landet tausende Jahre später als Schneekristall an der Themse, auf dem Körper von Arthur, dem Entzifferer der Keilschrift, der sich aufmacht nach Mesopotamien und unterwegs die religiöse Rechtfertigung erfährt, aus welchem Grunde man die Eziden töten soll. Dieser Grund gilt heute noch und wurde auch bei dem letzten Massaker durch den IS angewendet.
    Die Autorin setzt in ihrem Buch einen Gedenkstein für dieses Volk.