Als die Tauben verschwanden: Roman

Buchseite und Rezensionen zu 'Als die Tauben verschwanden: Roman' von Sofi Oksanen
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Inhaltsangabe zu "Als die Tauben verschwanden: Roman"

Finnland ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und Sofi Oksanen ihr Star
Der Roman folgt dem Schicksal dreier Esten während des Zweiten Weltkriegs und danach: Roland, einem prinzipientreuen estnischen Freiheitskämpfer, seinem machthungrigen, skrupellosen Cousin Edgar und dessen Frau Juudit, die sich in einen deutschen Offizier verliebt. Ein meisterhaft komponierter Roman über Machtstreben, Liebe und Verrat.Estland zur Zeit der deutschen Besatzung: Während sich Roland versteckt hält, weil er immer noch an die estnische Befreiung glaubt, versucht Edgar ins Zentrum der Machthaber vorzustoßen. Seine Frau Juudit verliebt sich in einen hohen deutschen Offizier, nicht ahnend, dass ihr Mann über genau diesen Offizier die Karriereleiter emporklettern möchte. Nach dem Krieg werden die Karten neu gemischt, Estland steht unter der Besatzung der Sowjets, und wieder ist es Edgar, der hofft, seiner Vergangenheit zum Trotz auch bei den Kommunisten eine herausragende Rolle zu spielen. Intrigen und Legenden, Verrat und Heimtücke, Liebe und Familie – Sofi Oksanen hat einen Roman geschrieben, der sich durch die meisterliche Konstruktion wie ein Thriller liest und dessen Figuren, allen voran Edgar, man nicht mehr vergisst.Die internationale literarische Sensation des Jahres.

Autor:
Format:Kindle Edition
Seiten:432
EAN:

Rezensionen zu "Als die Tauben verschwanden: Roman"

  1. Sofi Oksanen: Als die Tauben verschwanden

    Inhalt

    Der Roman schildert die Erlebnisse abwechselnd aus der Sicht dreier Esten:
    - der Ich-Perspektive von Roland Simson, der seinen Prinzipien als estnischer Freiheitskämpfer treu bleibt,
    - aus der personalen Perspektive von Edgar Parts, einem machthungrigen, opportunistschen Esten, der sich den jeweiligen Machthabern geschickt anbiedert. Er ist Rolands Cousin und wurde von dessen Mutter als Ziehsohn aufgezogen,
    - sowie aus der personalen Perspektive von Juudith, die Edgars Ehefrau ist und sich während der deutschen Besatzungszeit in den SS-Hauptsturmführer Hellmuth Hertz verliebt.

    Die Handlung des Romans setzt 1941 ein, als Estland die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik ist, also Teil der Sowjetunion. Roland und Edgar, der aus der sowjetischen Armee desertiert war, wurden gemeinsam in Finnland ausgebildet, um mit den estnischen Freiheitskämpfern gegen die Besatzer anzukämpfen, wobei sich Edgar für den Kampf untauglich erweist. Sie verstecken sich in der Nähe des Hofes der Armis, das sind die Eltern von Rolands Verlobter Rosalie. Dort befindet sich auch Rolands Mutter Anna, die aus Tallinn geflohen ist. Nur noch Juudith lebt in der Hauptstadt, überlebt die Bombardierung Tallinns und erlebt den Einzug der Deutschen. Edgar will Juudith nicht von seiner Rückkehr in Kenntnis setzen, genauso wie Juudith hofft, dass er nicht wieder vom Kampf zurückkehrt. Ihre Ehe erschien nur nach außen mustergültig, waren sie allein, zeigte Edgar sich gefühlskalt gegenüber Juudith und an einem ehelichen Leben nicht interessiert. Im Verlauf des Romans offenbaren sich die Gründe für sein Verhalten.

    Edgar ist ein durch und durch unsympathische Figur, dem es immer nur um seinen eigenen Vorteil geht:

    "Jetzt, da die Phase, die die größte Anstrengung und das meiste Pulver gefordert hatte, vorbei war und Lücken in den Reihen unserer Polizeikräfte klafften, hielt Edgar seine Chance für gekommen. Ich schaute ihn an und sah in seinem Gesicht ein gieriges Funkeln: Fort waren sowohl die baltischen Barone, die Bolschewiken als auch die Führer der Republik, die leeren Leitungsposten warteten nur auf ihn." (S.64)

    Damit der estnische Freiheitskämfper Edgar Parts verschwindet, kreiiert er sich eine neue Identität, dabei ist ihm seine Kompetenz Handschriften zu fälschen von Nutzen. Er wird zu Eggert Fürst und dienst sich den Deutschen an.

    Als Rolands Verlobte Rosalie offenbar von einem Deutschen missbraucht und dabei getötet wird, verlieren die Verwandten darüber kein Wort - keine Suche nach dem Schuldigen erfolgt. Man arrangiert sich mit den neuen Machthabern - lediglich Roland sucht verzweifelt nach dem Mörder seiner Verlobten.

    "Wenn es nun gar kein Deutscher war? Was, wenn du die Deutschen ganz umsonst beschuldigst?"

    "Was meinst du damit?"

    "Wenn es nun ein Freier deines Mädchens war?

    Egar lag auf dem Fußboden. Der Breiteller war zu Bruch gegangen. Als Edgar den Mund öffnete, waren seine Zähne blutig. Ich stand an meinem Platz und zitterte." (S.96)

    Dieses Streitgespräch zwischen Roland und Edgar offenbart die Kunst der Aussparung, die die Autorin perfekt beherrscht. Mit nur wenigen Worten entsteht ein Bild vor den Augen der Lesenden, ohne dass die Grausamkeiten in aller Ausführlichkeit geschildert werden müssten. Es erfordert ein genaues und intensives Lesen, vieles bleibt ungesagt - aber genau das macht für mich auch den Reiz dieses vielschichtigen Romans aus.

    Die Handlung springt danach ins Jahr1963, als Estland erneut Teil der Sowjetunion ist und man erfährt, dass es Edgar erneut gelungen ist, eine neue Identität aufzubauen. Eggert Fürst ist demnach beim Abzug der Deutschen getötet worden und Edgar Parts war angeblich in einem Konzentrationslager Klooga inhaftiert und hat dort den Krieg glückerweise überlebt. Inzwischen hat er als Genosse Parts den Auftrag übernommen, ein Werk über die nazistische Okkupation zu verfassen und die faschistische Gesinnung der estnischen Nationalisten zu entlarven, so dass das Ausland ihnen keinen Schutz mehr gewähren kann. Edgar selbst war nach dem Krieg in einem sibirischen Gefangenenlager, da er sich selbst bei der Rückerorberung Estlands durch die Rote Armee als Insasse des Lagers Klooga, also als estnischer Freiheitskämpfer ausgegeben hat. Während seiner Recherchen für sein Buch fällt ihm zufällig das Tagebuch seines Cousins Roland in die Hände, das vermuten lässt, dass dieser noch am Leben ist. Er ist der Einzige, der Edgars wahre Identität und seine Karriere während der deutschen Besatzung kennt, obwohl seine Frau auch ahnt, dass er mit den Deutschen kollaboriert hat. Seit seiner Rückkehr aus Sibirien ist Edgar wieder mit Juudith zusammen, die sich aber in einer desolaten psychischen Verfassung befindet.

    Im 3.Teil wird Juudiths Geschichte als Geliebte des SS-Hauptsturmführers Hellmuth Hertz erzählt. Eigentlich lernte sie ihn auf Geheiß von Roland 1942 kennen, weil dieser etwas über den Tod Rosalies erfahren wollte. Laut Juudith ist es Liebe auf den ersten Blick und es mutet seltsam an, dass dieser SS-Hauptsturmführer einerseits zu solch einer Liebe fähig ist, andererseits für die Deportation der Juden und den Tod so vieler Esten verantwortlich ist. Und wie es Juudith gelingt, trotz dieses Wissen, diesen Mann zu lieben. Allerdings mixt sie sich regelmäßig "Höhenflugdrinks" und als ihr bewusst wird, dass sie "ihrem Deutschen nur zu fünfzig bis siebzig Prozent (taugte), ihre rassichen Merkmale und ihre Gesundheit sich nur von der Taille an abwärtzs, nicht aufwärts (eigneten)" (S.200), ist sie bereit Roland zu unterstützen, der wiederum Esten zur Flucht verhilft.

    Die Zeitebene wechselt noch einmal in die 60er Jahre, in denen Edgar weitere Nachforschungen zum Tagebuch unternimmt und fast schon zwanghaft versucht, Roland zu entlarven und ihn zu diffamieren.

    Zurück in den 40er Jahre wird vom grausamen Abzug der Deutschen erzählt und Eggert Fürsts Verrat an seinen Landsleuten, bevor dann im letzten Teil in den 60er Jahren, fast alle offenen Fragen letztlich beantwortet werden - allerdings werden diese nicht auf einem silbernen Tablett serviert, sondern aufgrund des Endes erschließt sich vieles, was während der Handlung nur angedeutet wird oder vage bleibt.

    Bewertung

    Juudith ist eine Figur, die seltsam unzugänglich bleibt. Einerseits kann ich ihren Wunsch nach Liebe nachvollziehen und aus ihrer Sicht scheint Hellmuth ein wunderbarer Liebhaber zu sein und ihre Liebe auch zu erwidern.

    "In diesem Moment flog die Haustür auf, und Juudit kam herausgestürmt, dass ihr geblümter Morgenrock im Morgenwind nur so wehte, und der Morgenwind ließ sie zu Hertz´ Opel Olympia fliegen, umd sie schlüpfte auf die Hinterbank, und der Mann legte Juudit den Arm um die Schlutern, und er hob die Hand um Juudit so zärtlich, so zärtlich die vom Schlaf gelockten Haare und das Ohr zu streicheln. (...) in dieser Berührung lag alle Liebe der Welt, alle Zärltichkeit der Welt, alles Kostbare, und das alles geschah in aller Öffentlichkeit." (S.225)

    Es fällt allerdings schwer, dass sie als Estin die Besetzung ihres Landes scheinbar zunächst hinnimmt, um dann doch Menschen auf der Flucht zu helfen und damit ihre exponierte Stellung zu gefährden. Dabei kommen sich Juudith und Roland näher und es wird im Verlauf des Romans offensichtlich, dass die beiden sehr viel verbindet. Dass Juudit in den 60er Jahren Alkoholikerin und tablettenabhängig ist, liegt sicherlich in der grauenvollen Ehe mit Edgar begründet und an ihrem Schicksal zwischen Ender 40er Jahre bis zur Rückkehr Edgars. Dieses wird jedoch nur angedeutet. Und auch in der Erkenntnis und dem Wissen, das in einigen wenigen Gesprächen durchschimmert, dass ein Mensch wie Edgar schamlos lügt, betrügt, skrupellos andere verrät, verleumdet und dabei nur auf seinen Vorteil bedacht ist. Das Erschreckende ist, dass es ihm tatsächlich gelingt, damit erfolgreich zu sein - bis zum Ende des Romans. Dieser hat mir wirklich Gänsehaut verursacht. Denn erst in den letzten Kapiteln offenbart sich das ganze Ausmaß von Edgars Verrat.

    Für mich ist "Als die Tauben verschwanden", ein Roman, den ich nicht einfach so querlesen konnte, sondern der mir sehr viel Konzentration abverlangt hat, da vieles ungesagt und zwischen den Zeilen verborgen bleibt. Sehr hilfreich fand ich das Glossar sowie ein Personenverzeichnis im Anhang, da die familären Verhältnisse anfangs etwas verwirren.

    Der besonderen Reiz der Geschichte besteht für mich darin, dass das Verhalten der Hauptfiguren nie direkt kommentiert oder gewertet wird. Erst das Zusammenspiel aller Perspektiven ermöglicht es mir als Leserin die Facetten der einzelnen Schicksale zusammenzufügen und die Verhaltensweisen der Protagonisten ansatzweise zu verstehen. Allerdings ist mir aufgrund der Ich-Perspektive Rolands diese Figur am stärksten ans Herz gewachsen. Aber auch, weil er der Einzige ist, der zumindest in den 40er Jahren seinen Idealen und Visionen treu bleibt und eben nicht opportunistisch handelt.

    Insgesamt ein starker, literarisch anspruchsvoller Roman!

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