Alphabet (Quartbuch)

Buchseite und Rezensionen zu 'Alphabet (Quartbuch)' von  Kathy Page
4.65
4.7 von 5 (9 Bewertungen)

Inhaltsangabe zu "Alphabet (Quartbuch)"

Format:Gebundene Ausgabe
Seiten:290
Verlag:
EAN:9783803133373

Rezensionen zu "Alphabet (Quartbuch)"

  1. A wie ambivalent

    Simon Austen verbüßt eine lebenslange Haftstraße für den Mord an seiner Freundin Amanda. Im Gefängnis lernt der junge Mann lesen und schreiben und entwickelt ein enormes Gespür für Worte und Sprache. Er beginnt Brieffreundschaften mit Frauen außerhalb der Gefängnismauern, unter zweifelhaften Angaben seiner eigenen Person und Umstände. Erst die engagierte Therapeutin Bernadette Nightingale verschafft sich aufmerksam Zugang zu Simon. Ihr gegenüber beginnt sich Simon zu öffnen und sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen.

    Die britische Schriftstellerin Kathy Page hat sich lange und eindrücklich mit dem Thema Strafvollzug auseinandergesetzt. In den 1990ern war sie ein Jahr lang „Writer in Residence“ in einer Strafvollzugsanstalt in Nottingham. Ihre Erfahrungen aus dem Männergefängnis verarbeitet sie in dem Roman „Alphabet“.

    Auch wenn die Figur des Simon Austen fiktiv ist, gewinnt man den Eindruck einer psychologischen Fallstudie. Insasse AS2356768 – Simon Austen – ist, wie es sich herausstellt, hochintelligent und sprachaffin. Seine Auseinandersetzung mit Worten findet sogar körperlich Niederschlag, in dem er sich abwertende Bezeichnung, die er zu hören bekam, in die Haut tätowiert. Der Alltag im Gefängnis ist stumpf und gefährlich zugleich, physische und sexuelle Gewalt allgegenwärtig. Resozialisierung und Weiterbildung für Häftlinge, insbesondere lebenslang Verurteilte, haben während der Thatcher Regierung keinen Stellenwert.
    Was Kathy Page mit diesem Roman groß herausbringt, ist die Ambivalenz gegenüber ihrem Protagonisten. Simon Austen ist ein Frauenmörder. Von der drogensüchtigen Mutter im Stich gelassen wuchs er bei Pflegefamilien und Heimen auf. Im Gefängnis ist er Übergriffen anderer Häftlinge ausgeliefert. Simon ist dazu charmant, charismatisch und höchst manipulativ.

    Ich muss kein Mitleid mit einem Mörder empfinden, um trotzdem die Haftbedingungen als würdelos zu empfinden. Die Verletzlichkeit und Gefährlichkeit erzeugen abwechselnd Mitgefühl und Abscheu. Kathy Page arbeitet an einem Spektrum der Empfindungen.

    Obwohl Alphabet im Original schon 2004 ersterschienen ist, hat das Thema Strafvollzug und Wiedereingliederung in die Gesellschaft nichts an Relevanz verloren.

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  1. ABC

    …die Katze liegt im Schnee. Okay, jeder von uns kennt diese Kinderlieder, die einem in Mark und Bein übergegangen sind. Wir alle brauchen Buchstaben zum Wörter und Sätze formen und für das, was uns verbindet: das L E S E N. Die meisten von uns lernen das ABC von klein auf.

    Aber es gibt auch Menschen (2019 lag die Quote der Analphabeten weltweit bei 14% oder 773 Millionen Menschen; Quelle: Statistisches Bundesamt), die entweder gar nicht oder erst im Erwachsenenalter Lesen und daraus folgend Schreiben lernen.

    Zu Letzteren gehört Simon – seines Zeichens Hauptprotagonist in Kathy Page´s Roman „Alphabet“, der im Original bereits 2004 in England und 2014 in Kanada erschienen ist, jedoch erst jetzt im Wagenbach-Verlag in der Übersetzung von Beatrice Faßbender ins Deutsche übertragen wurde – ein (so viel vorab) Glücksgriff für Liebhaber anspruchsvoller Literatur!

    Simon sitzt wegen Mordes an seiner Freundin im Gefängnis – lebenslänglich. Die Haftbedingungen im Thatcher-England Ende der 1980er Jahre sind trüb, brutal und von Willkür durchzogen – wohl dem, der einen Fürsprecher hat…Während seiner Zeit in Haft fängt Simon an, sich lesen und schreiben beibringen zu lassen, macht schnell große Fortschritte und kann nach geraumer Zeit Brieffreundschaften zu Frauen außerhalb der Gefängnismauern aufbauen – nicht immer von „Erfolg“ gekrönt. In den Briefen lässt er sich auch unter anderem über den Strafvollzug aus:

    „Unsere Gefängnisse platzen aus allen Nähten; Gefangene werden in beengten Verhältnissen festgehalten, haben kaum oder gar keinen Zugang zu jenen Bildungs- oder Sozialangeboten, die sie unter Umständen verändern könnten. Aus den Augen, aus dem Sinn, befürchte ich. Ich meine, hier sollte sich etwas verbessern, finden Sie nicht?“ (S. 46)

    Kathy Page war Mitte der Neunziger Jahre als „Writer in Residence“ in einem britischen Männergefängnis tätig und bringt hier ihren Unmut über die Verhältnisse zum Ausdruck. Auch wenn sich aus heutiger Sicht einiges getan hat, was sich „Resozialisierung“ nennt, gibt es sicherlich noch „Luft nach oben“. Natürlich darf man nicht dabei außer Acht lassen, dass viele Straf- und Gewalttäter andere Menschen umgebracht haben, aber unmenschliche Haftbedingungen müssen auch nicht sein – und jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung…

    Im Lauf der Handlung wird Simon immer wieder von einem Gefängnis in die nächste Anstalt „transportiert“ und abgeschoben (auch hier spielt wieder Willkür eine Rolle), lernt, mit seiner Tat umzugehen und über sie zu reflektieren, wird verprügelt und vergiftet und lernt auf der Krankenstation Victor kennen, der kurz vor einer Geschlechtsumwandlung steht und sich alsdann Charlotte nennt…

    In schlicht schön formulierter Sprache hat Kathy Page hier einen (sozial-)kritischen Blick auf das Strafvollzugssystem geworfen, lässt uns (die Leserinnen und Leser) außerdem einen tiefen Blick in die Psyche eines Täters werfen und hat für ein Lesehighlight 2021 gesorgt.

    Well done, Mrs. Page! 5* und eine absolute Leseempfehlung!

    ©kingofmusic

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  1. Eintauchen in das Leben eines Mörders und Häftlings

    "Es waren häufig Analphabeten, die anderen vorgeschrieben haben, was sie tun sollten." (Gregor Brand)
    Bevor der 21-jährige Simon seine Freundin Amanda getötet hat und lebenslänglich inhaftiert wird, ist er in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien aufgewachsen. Lesen und Schreiben hat er nie wirklich gut gelernt, weshalb er im Gefängnis die Chance ergreift dieses nachzuholen. Worte haben auf einmal eine ganz besondere Bedeutung für Simon und so beginnt er trotz Verbot Brieffreundschaften mit Frauen. Nach einer Schlägerei wird er verletzt und lernt Vic kennen, der gerade dabei ist sich in Charlotte zu verwandeln. Neben seinem Studium entwickelt sich zwischen den beiden eine Freundschaft. Ob und wie Simon in den 13 Jahren Haft sich gewandelt hat, das erzählt uns diese Geschichte.

    Meine Meinung:
    Mitte der 90er Jahre ist es, als die Autorin für ein Jahr in einem britischen Männergefängnis war. Dieses stand im Ruf, schwierige Gefangene und ein anstrengender Arbeitsplatz zu sein. Für die Autorin ist es ein Jahr voll harter körperlicher und geistiger Arbeit mit viel Emotionen, die sie mit diesem Buch verarbeitet hat. Dabei versuchte sie zu verstehen, was in den Häftlingen vor sich geht und warum sie ihre Tat begangen haben. In der Praxis heißt das, sie müssen lernen, die Tat einzugestehen, Reue zeigen und damit umgehen, damit man sie nach der Haft wieder in die Gesellschaft eingliedern kann. Dies erlebe ich in diesem Buch am Beispiel von Simon, der eine lebenslange Haftstrafe zu verbüßen hat. Ich tauche ein in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Mörders und begleite ihn zu Therapien. Für Simon haben Worte eine besondere Bedeutung, ausdrücklich jene Worte, die sich auf seinen Charakter beziehen und die er sich als Tattoos auf seine Haut sticht. Dabei sind es nicht nur Negative, sondern durchaus inzwischen auch Positive, die seinen Körper zieren. Trotzdem bin ich entsetzt von der Vorstellung, sich so seinen Körper zu verunstalten, in dem man Worte wie Nutte, dumme Sau, Wichser, Spinner und viele weitere dort stehen hat. Ansonsten ist Simon eher ein schüchterner Einzelgänger, der kontrolliert und nicht gerade zugänglich ist, was seine Tat betrifft. Entsetzt bin ich von den englischen Haftbedingungen, unter denen Inhaftierten untergebracht sind. Ein Häftling hat sicherlich kein Anrecht auf ein Hotelzimmer, doch ein Eimer als Toilette, das ist schon wirklich recht primitiv. Auch wenn mitunter das Buch sehr detailliert und anspruchsvoll ist, macht es mir zunehmend Spaß mehr über die Person Simon zu erfahren. Schade nur, dass ich von seiner Vergangenheit hier nur recht bedingt erfahre. Mich hätte es interessiert, mehr zu wissen, was er da alles erlebt hat. Dagegen verwundert mich, dass er innerhalb so kurzer Zeit vom Analphabeten zum Schreiber, Literaturkenner, Leser und schließlich sogar zum Studierenden wird. Allerdings sieht man hier, dass hinter Analphabeten durchaus intelligente Menschen stecken können. Ebenso überrascht mich seine Freundschaft zu Charlotte (Vic), bei ihr scheint er seine Ängste und Befangenheit vor Frauen zu verlieren. Zum Glück ist dieses Buch nach 10 Jahren in der Schublade nun endlich veröffentlicht worden. Zwar sind manche Therapieansätze inzwischen veraltet und überholt, doch ansonsten ist sicher vieles auch heute noch aktuell. Für mich ein interessantes Buch zum besseren Verständnis und Nachdenken von Häftlingen und Haftbedingungen, dem ich 4 von 5 Sterne gebe.

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  1. Wie ist es lebenslang im Gefängnis zu sein?

    Wie ist es lebenslang im Gefängnis zu sein?

    Darüber bekommt der Leser einen fundierten Einblick,wenn er sich dem Werk von Kathy Page widmet.

    Simon Austen sitzt zu Beginn des Buches bereits 8 Jahre ein, und dümpelt vor sich hin. Er fristet sein Dasein in seiner Zelle vor sich hin. Zur Abwechslung beginnt er Brieffreundschaften mit Frauen, die ihm ins Gefängnis schreiben.
    Unter den Insassen gibt es immer mal wieder Stress, doch Simon kann sich recht gut anpassen. Er durchschaut vieles und kann sich so oft bei den einschlägigen Typen aus der Schusslinie bringen.
    Sein begonnener Bildungsweg im Gefängnis wird jäh unterbrochen, fast so, als ob es nicht gewünscht ist, dass Häftlinge einen akademischen Grad erwerben, auch wenn sie, wie in Simons Fall, das Zeug dazu hätten.
    Seine Kindheit ist geprägt von Enttäuschungen, die eigene Mutter will ihn nicht, viele verschiedene Stopps wie Pflegefamilie und Heime tun ihr Übriges. Zum Zeitpunkt des Mordes hat Simon Arbeit, nichts deutet darauf hin, dass er zu einer tickenden Zeitbombe werden kann. Sein Anwalt ist nicht kompetent, rät ihm die falschen Dinge. Simon vertraut sich niemandem an, so erkennt lange Zeit niemand, dass er durch eine fundierte Therapie seine Impulse unter Kontrolle bekommen könnte. Erst als Bernadette Nightingale ihn vertretungsweise betreut, entdeckt sie, dass Simon durch eine Therapie in einer anderen Einrichtung geholfen werden könnte und leitet die dementsprechenden Schritte ein. Simon kommt so nach Wendham, wo er einige Privilegien genießen kann die er im Strafvollzug nicht hatte.

    Des Weiteren wird beschrieben wie ein hochintelligenter Mensch durch das System gereicht wird. Viele Missstände werden aufgedeckt, der Leser merkt, dass es tatsächlich kein Zucker schlecken ist, wenn man im Gefängnis sitzt. Auch die Therapie verlangt viel von den Insassen, man muss sich öffnen und mitmachen.
    Mir gefiel, dass ich während des Lesens oft geneigt war Mitleid mit Simon zu haben, dabei hat er einen Menschen getötet. Entschuldigt seine eigene verkorkste Vergangenheit dies? Nein, und Simon weiß das auch, doch es ist ein langer Weg, den er gehen muss um sich selbst mit der Tat auseinanderzusetzen. Er kann lange nicht einmal über die Vorkommnisse sprechen, geschweige denn das Verhalten reflektieren. Simon Austen verbringt viele Jahre in Haft und in Therapie. Jahre in denen die Gesellschaft draußen ihr Leben lebt, auch die Angehörigen seines Opfers.

    Die Autorin prangert einiges an, und das auch zurecht. Sie macht aber auch deutlich, dass es Menschen gibt, die wohl niemals ausreichend therapiert werden können, um wieder ein Mitglied der Gesellschaft werden zu können. Simon ist ein fiktiver Charakter, dennoch hat die Autorin während ihrer Arbeit in einem Männergefängnis vieles erlebt, was sicherlich in Alphabet Anwendung gefunden hat. Ein meisterhaftes und wichtiges Werk, dass mich zum nachdenken angeregt hat.
    Ich möchte diesen Roman wärmsten empfehlen!

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  1. 5
    03. Okt 2021 

    In der Welt eines verurteilten Mörders

    Seit acht Jahren ist der 29jährige Simon in Haft, verurteilt zu lebenslänglich wegen Mordes an seiner damaligen Freundin. Im Gefängnis lernt er Lesen und Schreiben, das er bis dahin nur bruchstückhaft beherrscht und holt den mittleren Schulabschluss nach. Er beginnt Brieffreundschaften mit Frauen, wobei er nicht weiß, dass eine davon erst 14 Jahre alt ist. Als deren Vater erfährt, dass seine minderjährige Tochter mit einem Mörder korrespondiert, wird ihm das Schreiben untersagt und den Brief, in dem er erstmalig seine Tat schildert, erhält seine neue Betreuerin Bernadette. Diese sieht Weiterentwicklungsmöglichkeiten bei dem jungen Mann und vermittelt ihm einen Platz in einem Therapie-Programm einer Sondereinrichtung für Gewaltstraftäter in Wentham.

    Dort herrschen andere, bessere Bedingungen. Während im Gefängnis untereinander das Recht des Stärkeren dominiert und die Vollzugsbeamten unter widrigen Bedingungen und häufig voller Geringschätzigkeit für die Inhaftierten diese 'beaufsichtigen', gelten in Wentham Respekt und Wertschätzung für den einzelnen Menschen, egal welchen Verbrechens sie sich schuldig gemacht haben. Bei Simon machen sich Veränderungen bemerkbar, nicht nur in Form von aufkommendem Bildungshunger, sondern auch in puncto Selbstreflexion in Bezug auf seine Tat, die er bisher erfolgreich verdrängt hat.

    Kathy Page hat diese Entwicklung Simons so überzeugend dargestellt, dass man seinen Gedankengängen, seinen Versuchen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen oder Vertrauen zu fassen, ohne Zweifel nachvollziehen kann. Auch ihre Darstellung des Gefängnisalltags macht ersichtlich, ohne dass sie dies ausdrücklich kommentiert, wie destruktiv sich Haftstrafen ohne Resozialisierungsmaßnahmen auf die Gefangenen auswirken. Auch wenn Simons Geschichte in den 1980ern Jahren spielt, ist das Thema aktuell, da immer wieder über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen diskutiert wird. Ebenfalls deutlich erkennbar werden die An- und Überforderungen an das Gefängnis- und Therapiepersonal. Insbesondere in den Gefängnissen ist ein Mangel an Allem zu verzeichnen; Gefangene werden ausschließlich verwaltet und das zu den möglichst niedrigsten Kosten. Schlechtes Essen, mangelhafte Unterbringung, unzureichende Versorgung mit allem Anderen führen zu einer ständig gespannten Atmosphäre, mit der die schlecht bezahlten Vollzugsangestellten tagtäglich zurecht kommen müssen. Während das Therapiepersonal über solche Defizite nicht klagen kann, obliegt ihnen jedoch die Verantwortung, eine Prognose abzugeben, ob ein Mensch künftig in die Freiheit entlassen werden kann, ohne eine Gefahr für Andere darzustellen.

    Es ist ein sehr vielschichtiger Roman mit einem Einblick in eine Welt, von der die Meisten von uns nur in den Nachrichten hören, lesen oder sehen. Kathy Page hat uns diese Welt aufgrund ihrer einjährigen Erfahrung als Writer in Residence im Her Majesty's Prison Nottingham nahe gebracht.

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  1. Mit Wörtern dem Leben beikommen,...

    ...das zumindest versucht unser Protagonist in diesem Buch.

    Simon Austen sitzt eine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis ab, weil er seine Freundin umgebracht hat. Dort erst lernt er Lesen und Schreiben, findet darin einen Ausgleich zum tristen Knastalltag und beginnt verbotenerweise Brieffreundschaften. Nicht nur dass Simon sich eine falsche Identität gibt, die Frauen sind auch nicht das, was sie vorgeben zu sein. Als der aufgebrachte Vater einer Minderjährigen sich an die Gefängnisleitung wendet, fliegt das ganze Arrangement auf.
    Aber Simon bekommt die Chance bei einem Therapieprogramm mitzumachen, in dem er zum erstenmal auch ein positives Wort über sich hört und es sich sogleich zu all seinen anderen Wörtern, die er im Laufe der Zeit gesammelt hat, auf den Körper tätowieren lässt. Diese Zeit, in der Simon sich langsam mit seiner Tat auseinanderzusetzten beginnt, findet jedoch ein jähes Ende. In einer Nacht- und Nebelaktion wird er zurück ins Gefängnis verlegt, wo es zu einem gefährlichen Racheakt eines Mitgefangenen kommt. Simon kommt auf die Krankenstation und lernt dort Vic kennen, die sich gerade in Charlotte verwandelt. Eine ungewöhnlich Freundschaft entsteht.

    Kathy Page hat selbst ein Jahr in einem britischen Männergefängnis gearbeitet und nimmt sich mit Simon einen manipulativen Charakter vor, der für seine Tat keine Sympathien verdient hat. Sie lässt ihn von ganz unten kommen und mit jedem Versuch, Einfluss auf sein Leben zu nehmen, versteht man Simon und seine Schwierigkeiten mit Frauen und mit seinem Leben. Alles was ihm widerfährt ist eine Anklage gegen die Justiz, zugleich aber auch ein Abwägen, wie weit Rehabilitation überhaupt möglich ist. Gerechtigkeit, Vergebung und Verständnis werden hier in die Waagschale geworfen. Das Gefängnis ist und bleibt ein Sammelort für Menschen, bei denen im Leben etwas schief gelaufen ist und man darf sich ruhig die Frage stellen, ob es möglich ist, in einer Schlammpfütze seine Wäsche zu waschen.

    Kathy Page findet entlarvende Worte, schlägt sich auf beide Seiten und schafft mit Simon eine differenzierte Person, mit der man ruhigen Gewissens diese Welt betreten und betrachten kann. Ein Blick, der sich lohnt.

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  1. Lebenslang

    Mitte der 1990er-Jahre war Kathy Page, in Großbritannien geborene und in Kanada lebende Autorin teilweise preisgekrönter Romane, für ein Jahr „Writer in Residence“ in einem britischen Männergefängnis. Vor allem die schwierige Aufgabe des Vollzugspersonals und die Frage nach der Therapierbarkeit von Gewaltstraftätern beschäftigten sie lang über ihren Aufenthalt hinaus. Der Roman "Alphabet", der in eben dieser Umgebung spielt, thematisiert ihre Fragen und Gefühle aus dieser Zeit. Er erschien 2004 in Großbritannien und erst jetzt, 2021, auf Deutsch im Verlag Wagenbach.

    Insasse AS2356768
    Objekt von Kathy Pages psychologischer Fallstudie ist der ehemalige Teppichleger Simon Austen, der mit Anfang 20 am 2.09.1979 seine Freundin Amanda Brooks erwürgte und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Als Leserinnen und Leser begleiten wir den Insassen AS2356768 durch die ersten etwa 13 Jahre seines Aufenthalts in unterschiedlichsten Haftanstalten mit wechselnden Mithäftlingen, sehr verschiedenen Haftbedingungen und Therapieansätzen. Obwohl in der dritten Person erzählt, ist es zumeist Simons Sicht, eine sehr interessante Perspektive vor allem deshalb, weil der intelligente, meist charmante junge Einzelgänger seine Umgebung durchaus zu manipulieren versteht.

    Nichts in Simons Kindheit lief nach Plan: Die suchtkranke Mutter verließ ihn als Kleinkind und nahm sich bald darauf das Leben, seinen Vater kennt er nicht, von der Pflegefamilie kam er ins Heim. Bei der Ankunft im Gefängnis kann er nur mit einem Kringel unterschreiben.

    Bildung als Sprungbrett
    Doch Simon ist ebenso intelligent wie ehrgeizig: Innerhalb von 18 Monaten lässt er sich von einem Helfer das Lesen und Schreiben beibringen. Nach sieben Jahren im Gefängnis schreibt er Briefe für die Mithäftlinge gegen Bezahlung, kurz darauf sucht er sich eine Brieffreundin außerhalb der Gefängnismauern:

    "… denn, so geht es Simon durch den Kopf, wenn Leute Briefe an Fremde schreiben, befinden sie sich am Wendepunkt zwischen zwei Lebensphasen, wie Schlangen, die sich aus einer alten, zu engen Haut kämpfen." (S. 39)

    Dank seiner Intelligenz lernt er aus Fehlern, ändert nach Misserfolgen die Strategie, gibt nie auf und strebt nach immer höherer Bildung. Einerseits achten ihn seine Betreuerinnen und Betreuer dafür, andererseits scheinen manche geradezu Angst vor ihm zu haben, fühlen sich von seiner Weigerung zur Teilnahme am sexualverhaltenstherapeutischen Programm herausgefordert und fürchten, von ihm manipuliert zu werden - so wie ich als Leserin übrigens auch. Allerdings erkennen alle seine langsam beginnende Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und der Straftat an:

    "Jahrelang war die Vergangenheit Sperrgebiet, eine Art trüber Schleier, ein schummrig beleuchteter, feuchtkalt riechender Flur irgendwo, wo niemand hinwill, mit verschlossenen Türen, wie eine Vorahnung dessen, wo er am Ende tatsächlich gelandet ist. Aber jetzt gehen ein paar Lichter an: Erinnerungen, gute, schlechte, alles Mögliche." (S. 93/94)

    Schließlich ist es jedoch kein Psychologe und keine Sozialarbeiterin, sondern ein Trans-Häftling, der Simon ein entscheidendes Tor zur Erkenntnis aufstößt:

    "Was er getan hat, wird sich nie in Luft auflösen. Für ihn gibt es keine Scheiß-OP, klar?" (S. 310)

    Obwohl die fiktionale Geschichte im britischen Strafvollzug angesiedelt ist, ist sie doch universell, denn es geht es um so spannende Themen wie die Organisation des Strafvollzugs, Therapieansätze, Rehabilitation, Risikoprognosen, Interaktion der Häftlinge und Umgang mit eigener Schuld, die Kathy Page gekonnt in einen gut konstruierten Roman verpackt.

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  1. Ein langwieriger Veränderungsprozess

    Simon ist ein junger Mann Ende 20, seit knapp acht Jahren befindet er sich im Gefängnis mit mäßigen Aussichten, denn sein Urteil lautet lebenslänglich. Simon hat nicht viel Glück im Leben gehabt. Seine Mutter verließ ihn, dann kamen Heime, Pflegefamilien – nirgends durfte er sesshaft werden, Liebe und Geborgenheit waren Mangelware. Seine ersten Berührungen mit ernsthafter Bildung macht er paradoxerweise erst im Gefängnis. Dort lernt er Lesen und Schreiben, es gelingt ihm sogar, den mittleren Schulabschluss nachzuholen. Verbotenerweise nimmt er schriftlichen Kontakt mit zwei unbekannten Frauen auf, was ihm neben Scherereien auch eine Schreibmaschine einbringt. Erstmalig schreibt er damit seine verfahrene Lebensgeschichte auf, womit dem Gerät eine Art Schlüsselfunktion zukommt. Buchstaben, Worte, das titelgebende Alphabet haben ohnehin eine komplexe Bedeutung für den Protagonisten.

    Der Gefängnisalltag ist hart, es gilt konsequent das Recht des Stärkeren. Der Umgang ist rüde, Gewalt an der Tagesordnung, der Justizvollzug unterfinanziert und farblos. Der Autorin gelingt es souverän, diese trostlose Atmosphäre während der Regierung Thatcher Ende der 1980er Jahre spürbar zu machen. Man merkt, dass sie persönlich intensive Recherchen in diesem Umfeld durchgeführt hat, wie sie im Nachwort belegt.

    Die Betreuer der Inhaftierten wirken unmotiviert und überfordert. Bis, ja bis, Bernadette Nightingale als Krankheitsvertretung mit Simon in Kontakt tritt. Ihr gelingt es, die richtigen Saiten anzuschlagen, um den verschlossenen, zwanghaft kontrollierten jungen Mann ein Stückweit zu öffnen und dafür zu sorgen, dass er sich erstmalig mit seiner Tat ernsthaft auseinandersetzt. Den Mord an seiner Freundin Amanda hat er bislang weitgehend verdrängt. In der Kürze der Zeit kann Bernadette nicht alle Hoffnungen Simons erfüllen. Sie sorgt aber dafür, dass er in eine Therapieeinrichtung nach Wendham verlegt wird, in der junge Straftäter gezielt behandelt werden, um ihnen eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen.

    Dort herrscht ein freundlicheres Klima in einer förderlichen Umgebung. Viele Sitzungen finden als Gruppentherapie statt. Die Bewohner unterstützen und kritisieren sich gegenseitig. Es fällt Simon auch hier nicht leicht, sich den strengen Regeln zu unterwerfen. Immer wieder eckt er an, weigert sich, sein Innerstes zu offenbaren, sich seiner Tat in aller Konsequenz zu stellen. Schwierigkeiten sind vorprogrammiert.

    Der Leser wird in eine ihm völlig fremde Umgebung geführt, die durch die dezidierten Beschreibungen und Beobachtungen authentisch und greifbar wird. Simon ist ein überdurchschnittlich intelligenter junger Mann, der aber große Defizite im Zwischenmenschlichen und auf der Gefühlsebene hat. Auf den ersten Blick wirkt Simon wie ein Muster-Gefangener, der die Bibliothek betreut, sich von Drogen und Konflikten fernhält. Man mag ihm seine brutale Tat, deren Umstände nach und nach zutage treten, gar nicht zutrauen. Als Leser taucht man tief in diese Figur ein. Wir erfahren Simons Gedanken auf verschiedene Weisen. Man spürt seine Zerrissenheit, seine Verzweiflung, Hoffnung, seine Sehnsucht nach Zuneigung. Man wird auf eine Achterbahnfahrt geschickt, bei der deutlich wird, dass die Therapie eines Schwerverbrechers kein Spaziergang ist, sondern harte Arbeit. Man lernt verschiedene therapeutische Ansätze kennen. Alle verlangen sie größte Disziplin und Offenheit, wozu nicht jeder gleichermaßen willens und in der Lage ist. In Gruppen- und Einzelstunden werden die Täter mit ihren Taten direkt konfrontiert. Wegtauchen geht nicht, es gilt Aggressivität und unkontrollierte Sexualität in den Griff zu bekommen. Ehrliche Reue steht am Anfang eines langen Veränderungsprozesses.

    Simon hat selbst Zweifel daran, ob es ihm gelingt, sich so sehr zu verändern, dass er am Ende irgendwann wieder in Freiheit leben darf. Er hat das Glück, Menschen zu begegnen, die ihn ein Stück seines Weges begleiten, ihn ermutigen und inspirieren. Neben Bernadette ist auch Charlotte solch ein Mensch, deren eigener Transformationsprozess ganz anderer Natur ist. Dennoch dient er Simon als Vorbild, bringt ihn persönlich weiter. Die Ausdauer und Willenskraft dieses jungen Mannes ist überhaupt beachtlich. Er ist ein Stehaufmännchen im besten Sinn, wodurch das Buch niemals in Selbstmitleid und Sentimentalität abgleitet, sondern auf ernste Weise positive Attribute setzt.

    Dieser Roman, an dem Kathy Page über mehrere Jahre gearbeitet hat und der der englischsprachigen Bevölkerung bereits 2004 zugänglich gemacht wurde, zeichnet ein äußerst realistisches Bild vom Gefängnisalltag in Großbritannien. Die Autorin versteht es, den Leser schnell in die Geschichte zu involvieren. Kathy Page beobachtet genau, nutzt einen variantenreichen, der jeweiligen Situation angepassten Sprachstil. Am Ende hat man das Gefühl, den Protagonisten richtig gut zu kennen. Der gesamte Roman ist in sich rund und gelungen. Es gibt überraschende Drehmomente, immer wieder wird man zu eigenen Gedanken aufgefordert. Das Ende des Romans stellt sich ganz anders dar, als ich es erwartet hätte. Aber es ist großartig gelöst, auch da bleibt die Autorin ihrem ernsten, realistischen Kontext treu und driftet nicht in bloßes Wunschdenken ab.

    Nach „All unsere Jahre“ ist dies mein zweiter Roman von Kathy Page. Ich bewundere Autoren, denen es gelingt, völlig unterschiedliche Themen überzeugend und versiert darzustellen. Kathy Page gehört eindeutig in diese Kategorie, sie kann es einfach. Hoffentlich legt der Wagenbach Verlag nach und veröffentlicht weitere Romane dieser begabten in Kanada lebenden Autorin.

    Große Lese-Empfehlung!

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  1. Was passiert in einem Knast?

    Kurzmeinung: Gesellschaftlich relevant wie eh und je.

    Der 29jährige Simon Austen wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, weil er seine Freundin Amanda umgebracht hat. Die Autorin erzählt uns, wie es dazu kommen konnte. Und ob Simon eine Chance auf Resozialisierung hat.

    In einem spannenden Plot teilt die Leserschaft zunächst den Alltag mit Simon. Man erlebt, wie Simon Austen mit der im Gefängnis herrschenden Hierarchie klar kommt, der Brutalität und Gewalt, die unter den Häftlingen an der Tagesordnung ist. Wie Simon diverse Überlebensstrategien ausprobiert. Manche scheitern, manche haben Erfolg. Simon hat enorme Schwierigkeiten mit Impulskontrolle und damit, mit Frust umzugehen.

    Als er in den Knast kommt, ist Simon Analphabet. Doch ein engagierter Sozialarbeiter bringt ihm das Lesen und das Schreiben bei. Diese Fähigkeiten eröffnen Simon Fluchtmöglichkeiten. Er kann plötzlich kommunizieren und er kommt, mindestens in Gedanken, nach draußen. Simon versucht es mit einer Brieffreundschaft.

    Eines Tages erhält er die Chance, in ein haftinternes Therapiezentrum zu wechseln. Er nimmt seine Chance wahr, doch es fällt ihm nicht leicht, sich den Therapeuten und Therapeutinnen zu öffnen, sich seiner Verantwortung für seine Mordtat zu stellen, die Dinge zu reflektieren und vor allem sich in die Karten gucken zu lassen, was seine sexuellen Vorlieben angeht. Er kooperiert nur mäßig und muss deshalb zurück in den normalen brutalen Haftalltag. Wird Simon eine weitere Chance bekommen, ein lebenswertes Leben zu leben oder wird er im Knast auf einem niedrigen menschlichen Niveau dahinvegetieren müssen bis ans Ende seiner Tage?

    Der Kommentar:
    Kathy Page, die eine Weile in einer Männerhaftanstalt tätig war, legt ein sehr engagieres Buch vor. Es ist ein schwieriges Thema von gesellschaftlicher Relevanz wie eh und je. Wie geht man mit Tätern um, die gefährlich für die Allgemeinheit sind? Immerhin sind sie noch immer Menschen. Und haben das Recht auf Würde. Auf der anderen Seite steht der Schutz der Gesellschaft. Wie resozialisiert man die Täter, wie sinnvoll ist Strafe? Es gibt keine leichten Antworten.

    Der Leser vermag es, sich in Simon hineinzuversetzen. Er ist nicht böse per se, er ist ein Mensch, der einen schlimmen Fehler gemacht hat. Und nun? Den Menschen, die bereit sind, mit den Inhaftierten zu arbeiten, den Sozialarbeitern, Medizinern und Therapeuten ist man zu großem Dank verpflichtet. Auch sie sind jedoch nur Menschen und nicht immer fair. Aber sie tun ihr Bestes. Meistens.

    Im besten Fall gelingt ihnen die Resozialisierung ihrer Klienten, im schlechtesten Fall rutschen die Häftlinge in die komplette Verrohung ab. Das ist bedrückend.

    Dass Kathy Page ihren Protagonisten, Simon Austen vom Analphabeten bis zum Studenten der Sozialwissenschaften bildungstechnisch aufsteigen läßt, scheint dem unbedarften Leser etwas zu viel des Guten zu sein. Und auch, ja, ein wenig reißerisch. Aber sei es drum. Man kann es ihr nicht verübeln, dass sie ihren Roman so spannend und interessant wie möglich zu gestalten versucht. Das Thema hat nichts von seiner Dringlichkeit verloren.

    Der schon 2004 im Original veröffentlichte Roman „Das Alphabet“ zeigt, natürlich nicht zum ersten Mal, wie wichtig es ist, Bildung vor allem in die strukturschwachen und bildungsfernen Schichten zu bringen. Was in der Regel fehlt, ist Kleingeld, Personal und Empathie. Kathy Page tut ihr Möglichstes, um auf unkitschige Weise auf das Problem aufmerksam zu machen.

    Fazit: Ein guter Roman mit nachvollziehbarem gesellschaftlichen Anliegen, der sich wunderbar lesen läßt.

    Kategorie: Gute Unterhaltung
    Verlag: Wagenbach, 2021

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